Dies ist der fünfte Teil einer mehrteiligen Serie von Jan Müller zur aktuellen Imperialismusdebatte in der kommunistischen Bewegung. Sie beinhaltet folgendene Teile:
1. Einleitung & Marxsche Methode
2. Klassischer Imperialismus (1895 – 1945)
3. Der Spätkapitalismus (1945 – 1989)
4. Die expansive Phase des neoliberalen Kapitalismus (1989 – 2007)
5. Der Neoliberalismus in der Krise (seit 2007)
6. Chinas Aufstieg und der Abstieg des Westens (bis 2020)
7. Eine vierte imperialistische Epoche?
7.2 Die Klima‐Hysterie von 2019 als Vorspiel
7.3 Die Corona‐Hysterie von 2020 bis 2022
7.4 Der Dritte Weltkrieg
7.4.1 Der Ukrainische Kriegsschauplatz 2022
7.4.2 Der Wirtschaftskrieg gegen Russland
7.4.3 Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Deutschland und Europa
7.4.4. Klimalockdown und Great Reset
7.4.5. Faschismus in der Ukraine, Demokratieabbau im Westen
7.4.6. Umbruch in der Weltwirtschaft
7.4.7. Die Eskalation des Krieges
8. Exkurse zur aktuellen Imperialismusdebatte
9. Perspektiven des Sozialismus auf der Erde
Die Serie kann als Broschüre im PDF‐ und Epubformat frei heruntergeladen werden.
Der Neoliberalismus in der Krise (seit 2007)
5.1. Die große Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 und ihre Folgen
Die globale Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 beendete die 1989 beginnende lange Welle mit einer expansiven Tendenz und markierte den Umschlagspunkt zu einer deutlich krisenhafteren Entwicklung des Kapitalismus. Wie in der Zwischenkriegszeit häuften sich seitdem Krisen und Kriege. Die Krise brach in der Finanzsphäre aus, aber es ist davon auszugehen, dass ihre Ursachen woanders liegen. Denn die Funktion der Finanzspekulation ist es, den Ausbruch der Krise durch den Kredit künstlich hinauszuschieben.
Hauptursache für den kapitalistischen Aufschwung nach 1989 war die plötzliche Verfügbarkeit billiger, in der Regel gut ausgebildeter Arbeitskräfte auf dem Weltmarkt nach dem Zusammenbruch des Sozialismus.
Diese Faktoren, die den kapitalistischen Aufschwung begünstigten, verloren in den 00er Jahren an Wirksamkeit. In Osteuropa wurden mit Beitritt der ehemaligen RGW‐Länder zur EU langsam die Arbeitskräfte knapp. Einerseits wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU, aber auch, weil die Industrieproduktion in Osteuropa nicht mehr wie in den 90er Jahren rapide zurückging, sondern in einigen Ländern, hier vor allem in Ungarn, Tschechien und der Slowakei langsam wieder anstieg und schließlich das Niveau von 1989 übertraf. Deshalb verbesserte sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeiter. Ihre Gewerkschaften konnten nun teils beträchtliche Lohnerhöhungen erreichen.
Präsident Wladimir Putin gelang es nach 2000, den russischen Staat zu stabilisieren und die Oligarchen in ihre Schranken zu weisen. Der hiermit einhergehende Wirtschaftsaufschwung führte auch in Russland zu einem steil ansteigenden Lebensstandard und höheren Löhnen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die globale Hochkonjunktur in den Jahren vor der großen Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009. Russland konnte seine Einnahmen aus dem Öl‐ und Gasverkauf wesentlich steigern.
In den 00er Jahren waren auch die chinesischen Arbeiter nicht mehr bereit, für die globalen Kapitalisten zu Hungerlöhnen zu arbeiten. Teils militante Streiks nahmen stark zu und gingen häufig in Straßendemonstrationen über. Bauern protestierten ebenfalls militant gegen die ihnen von lokalen Behörden illegal auferlegten Steuern und Abgaben. Mit diesen Aktionen konnte der Abwärtstrend der Löhne gestoppt werden. Auch in China stiegen die Löhne; zunächst eher langsam, aber nach 2010 sehr deutlich.
Das neue chinesische Arbeitsvertragsgesetz von 2008 orientierte sich an ILO‐Kernnormen und verbesserte die Lage der Arbeiter deutlich, auch wenn der Nationale Volkskongress gegenüber den massiven Verlagerungsdrohungen der US‐ und EU‐Unternehmen eingeknickt ist und das Gesetz verwässerte.
Die Arbeiter betrachteten das neue Gesetz jedenfalls als Ermutigung für ihre Anliegen und streikten jetzt erst recht. Die Volksrepublik China wurde das streikintensivste Land der Welt, obwohl oder weil die offiziellen Gewerkschaften nicht mitmachen. In den 10er Jahren gab es hunderttausende spontane Streiks, organisiert von Aktivisten und zunehmend unterstützt von Betriebsgruppen der Kommunistischen Partei.1
Zwischen 2005 und 2016 verdreifachten sich die durchschnittlichen Stundenlöhne der chinesischen Arbeiter und zwar umgerechnet von 1,2 Dollar auf 3,6 Dollar. Damit hat die Volksrepublik die klassischen Schwellenländer wie Brasilien (2,7 Dollar), Thailand (2,20) und Mexiko (2,10) hinter sich gelassen. In Indien liegen die Stundenlöhne seit Jahrzehnten bei 0,7 Dollar. Die Mindestlöhne in China sind inzwischen höher als in den EU‐Staaten Bulgarien, Rumänien, Litauen, Lettland, Ungarn, Kroatien, Tschechien, der Slowakei und Polen.2
Die Entwicklung der Streiks in China war im Westen durchaus bekannt. Weil aber die chinesische Regierung eine unabhängige Organisierung der Arbeiter unterband, schien es so, als wären diese Streiks weitgehend erfolglos. Aber diese Analogie zur Entwicklung der westlichen Arbeiterbewegung ist falsch. Es macht wohl doch einen Unterschied, ob ein Land von einer halbfeudal‐halbkapitalistischen Aristokratie geführt wird, wie Deutschland vor 1918 oder ob eine kommunistische Partei an der Regierung ist. Obwohl die KPCh in hohem Maße Wege, Methoden und in bestimmtem Maße sogar das Ziel der Produktion vom neoliberalen Kapitalismus übernommen hatte, konnte sie Arbeiterunruhen doch nicht so brutal niederschlagen, wie es einem rein kapitalistischen Regime möglich gewesen wäre. Mit der Wahl von Hu Jintao zum Generalsekretär der KPCh im Jahr 2002 wurde der Ausgleich der starken sozialen Spannungen zur offiziellen Politik. Diese Tendenz verstärkte sich noch mit der Wahl von Xi Jinping im Jahr 2012.
Da die Lohnhöhe in China einen starken Einfluss auf den Wert der Ware Arbeitskraft im Weltmaßstab hat, kam nun das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate wieder voll zum Tragen. Auch in China und Osteuropa wurden menschliche Arbeitskräfte verstärkt durch Maschinen, vor allem durch Industrieroboter ersetzt. Dadurch sank tendenziell der zu verteilende Mehrwert im Vergleich zum angewendeten Kapital. Hierin liegen die tiefsten Ursachen der Weltwirtschaftskrise. Allerdings zeigen sich aufgrund der Umverteilung des Mehrwertes krisenhafte Entwicklungen nicht primär in denjenigen Branchen mit dem höchsten Automatisierungsgrad. Sie zeigten sich zudem weniger in China, da dort die organische Zusammensetzung des Kapitals immer noch niedriger ist als im Weltdurchschnitt und das Land einen großen Binnenmarkt mit einer großen, noch nicht befriedigten Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern wie Autos hat.
Die große Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 brach, wie oben angedeutet, zunächst im Finanzsektor aus. Bereits in der Mitte des Jahres 2006 begannen die vorher in den USA um mehr als 80 Prozent angestiegenen Immobilienpreise rapide zu fallen und dieser Wertverfall machte die durch die Immobilien besicherten Hypotheken und deren Derivate zunehmend notleidend.
Um die Jahreswende 2006/07 griff die Immobilienkrise auf den Finanzsektor über. Der Absturz der Immobilienpreise und der Anstieg der Hypothekenzinsen trieben immer mehr Familienhaushalte und Kleinbetriebe in die Zahlungsunfähigkeit. Dies wiederum löste die weltweite Hypothekenkrise aus. Investmentfonds und Hypothekenbanken gerieten durch massive Abschreibungen in die Verlustzone. Zunächst die amerikanische Bank HSBC, dann die schweizerische UBS und die US‐Investmentbank Bear Stearns. Da verbriefte US‐Hypotheken weltweit verkauft worden sind, geriet im Sommer 2007 das globale Banksystem in eine schwere Krise. Auch in Deutschland sind um diese Zeit die ersten Banken mit Steuergeldern »gerettet« worden, so zum Beispiel die Landesbank Baden‐Württemberg.3
Ab September 2007 folgten zahlreiche Schieflagen und Bankzusammenbrüche, so die US‐Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddy Mac, die britische Hypothekenbank Northern Rock, erneut Bear Stearns, Lehman Brothers, Merryl Lynch, die isländische Glitnir‐Bank, die deutsche Hypo Real Estate, die US‐Versicherung American International Group (AIG), die Dresdner Bank und zahlreiche weitere. Die Schockwellen gingen bis zum Frühjahr 2009 weiter.4
Im September und Oktober 2008 kam es zu einem Absturz an den Aktienmärkten. Der DOW‐Jones Index fiel von über 14.000 Punkten auf unter 7.000 im Jahr 2009. Bis zum Ende des Jahres 2008 büßten die auf den Aktienmärkten notierten Unternehmen zwischen 35 und 40 Prozent ihres Wertes ein. Man muss von einer effektiven Vernichtung von einem Drittel des Wertes des weltweit gehandelten Aktienkapitals ausgehen.5
Seit dem Sommer 2007 kam es zu massiven Turbulenzen auf den Devisenmärkten. In der ersten Krisenphase verlor der Dollar deutlich an Wert, um diese Entwicklung nach einer Achterbahnfahrt im Sommer 2008 umzukehren. Schweizer Franken und Yen wurden stärker, während das Pfund und der Euro 20 Prozent ihres Wertes verloren. Die Aufwertung des Dollars zeigt, dass sich die Währungsrelationen von den realen Krisenprozessen abgekoppelt hatten. Von irgendwelchen Tendenzen, die Weltleitwährung zu entthronen, konnte trotz des dramatischen Einbruchs der US‐Ökonomie keine Rede sein.6
Gleichzeitig waren die Währungen der Schwellen‐ und Entwicklungsländer einem massiven Abwertungsdruck ausgesetzt. Die Währungen Ostasiens, Ostmitteleuropas und Lateinamerikas mussten Kursstürze zwischen 35 und 45 Prozent hinnehmen. Hinter diesem Währungskollaps stand eine abrupte Umkehrung der Kapitalströme. Wurde in den Jahren vor der Krise viel Kapital in diesen Ländern angelegt, so wurde es nun abgezogen und in die USA transferiert. Dabei kam nicht nur der langjährige Carry Trade zu einem plötzlichen Ende, sondern es wurden auch Aktienpakete, Staatsanleihen und Kapitalbeteiligungen aller Art abgestoßen. Es erfolgte also ein Rückzug der Kapitalvermögensbesitzer in die entwickelten Zentren des Weltsystems, zum einen, weil sie dort große Verluste gemacht hatten, die ausgeglichen werden mussten, zum anderen, weil sie die Metropolen trotz allem noch für stabiler hielten als die nun krisengeschüttelten Schwellen‐ und Entwicklungsländer.
Im Verlauf des Juli 2008 kam es zu einem Absturz der Lebensmittel‐ und Energiepreise. In diesem Monat war ein durchschnittlicher Preisrückgang zwischen 12 und 13 Prozent zu verzeichnen. Erdöl verbilligte sich um 18 Prozent, von 147 Dollar pro Barrel Mitte Juli auf 120 Dollar am Ende des Monats. Zu Beginn des Jahres 2009 fiel der Erdölpreis auf nur noch 40 Dollar. Im Oktober 2008 gingen auch die Preise für Basismetalle wie Kupfer, Zink, Nickel und Zinn stark zurück (um 25 bis 50 Prozent). Dies ist ein deutliches Anzeichen für einen Rückgang der Industrieproduktion.7
Im Jahr 2008 brach auch eine Krise in der Automobilindustrie aus. Die Unternehmen General Motors, Ford und Chrysler mussten 2009 von der US‐Regierung unter Obama gerettet werden. Eine Bedingung dafür waren Massenentlassungen, eine massive Lohnabsenkung und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die verbleibenden Arbeiter.
Im Herbst 2008 griff die Krise auf Toyota, BMW, Daimler, Fiat, Peugot und Renault über. Deutlich weniger betroffen war Volkswagen. Im Unterschied zu den USA wurden durch Kurzarbeit und Kündigung aller Zeitarbeiter Massenentlassungen der Kernbelegschaften vermieden. Noch härter betroffen waren die Arbeiter der Produktionsstandorte der Automobilindustrie in Ostmitteleuropa.8
Alle diese Nachrichten signalisierten einen rapiden Verfall der Profitraten im Kernbereich der industriellen Produktion. Mit den Produktionseinschränkungen korrespondierten auch Aktienabstürze der Automobilkonzerne. Ihre Kursverluste übertrafen oftmals diejenigen der Großbanken. Die Auswirkungen der Branchenkrise auf die Zulieferer waren noch härter. Es kam zu abrupten Betriebsschließungen und Belegschaftsentlassungen. Auch die Branchen, die als Produktionsvorstufen der Automobilindustrie fungieren, wie der Maschinen‐ und Anlagenbau, die Chemie‐ und die Stahlindustrie erlebten drastische Produktionsrückgänge von 30 Prozent oder mehr.
Im Frühjahr 2008 bündelten sich die verschiedenen Teilkrisen im Kredit‐ und Finanzsektor, auf den Aktien‐ und Devisenmärkten, im Bereich der Rohstofferzeugung, der internationalen Transportketten und der Industrie zu einer Weltwirtschaftskrise.9 Dies zeigt sich unter anderem an einem Rückgang des realen BIP in der BRD im Jahr 2009 um 5,9 Prozent und in den USA um 2,6 Prozent. In China ging das BIP‐Wachstum zwar von 14,25 Prozent in 2006 auf 9,45 Prozent in 2009 zurück, aber es lag immer noch weit im positiven Bereich10. Auch der Welthandel ging 2009 stark zurück und zwar um 10,5 Prozent. Seit dieser Zeit wächst er deutlich langsamer als vor der Krise und auch langsamer als die industrielle Produktion.11
Die Weltwirtschaftskrise ging in die bis heute weiterschwelende Eurokrise über. Diese hat ihre Ursachen in der Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung Euro. Aber erst in der Weltwirtschaftskrise wurden die großen Ungleichgewichte sichtbar. Nach der Euroeinführung im Jahr 1999 strömte auch in die südeuropäischen Länder viel überschüssiges Kapital vor allem aus den entwickelten Industrieländern im Norden des Kontinents. Denn die Beseitigung der Abwertungsrisiken führte auch zu einer drastischen Zinssenkung für Kredite der Südländer. Vor Beginn der Krise hatten Banken und andere Finanzinstitutionen aus Kerneuropa 2,2 Billionen Euro nach Spanien, Griechenland und Portugal verliehen. Empfänger waren mit 567 Milliarden die Staaten, die damit ihre Haushaltsdefizite finanzieren konnten, Banken mit mehr als einer Billion Euro und Unternehmen mit 534 Milliarden.12
Mit diesem Geld wurde in Spanien und Griechenland die Infrastruktur verbessert, in Portugal das Bildungssystem ausgebaut und in Italien die Industrieforschung angekurbelt. Zudem lösten Kredite in Spanien einen Bauboom im Privatsektor aus.13
Wie oben beschrieben, versiegten Mitte 2008 die Kapitalzuflüsse an die Peripheriestaaten innerhalb von Tagen. Ihre Ausgaben stiegen jedoch wegen der Bankenrettungen steil an. Bereits mit der Euroeinführung wurden zudem Abwertungen der Landeswährungen unmöglich. Dies ermöglichte es der deutschen Industrie, ihre Wettbewerber in den Südländern niederzukonkurrieren. Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und Frankreich wurden zwischen 1999 und 2008 richtiggehend deindustrialisiert.14
Die eigentliche Eurokrise begann im Jahr 2009 in Griechenland, als die neu gewählte sozialdemokratische Regierung unter Ministerpräsident Papandreou feststellte, dass die Staatsverschuldung deutlich höher war, als von der Vorgängerregierung angegeben. Das Defizit für das Jahr 2008 betrug 7,7 und nicht wie behauptet 5 Prozent des BIP. Die Neuverschuldung 2009 wurde auf 12,5 Prozent heraufgesetzt. Später stellte sich heraus, dass sie mit 13,6 Prozent noch höher lag.15
Schlagartig schossen auf den Finanzmärkten die verlangten Zinssätze für griechische Staatsschulden in die Höhe. Ende April 2010 lagen sie bei 10,6 Prozent für Anleihen mit dreijähriger Laufzeit und bei 8,9 Prozent für Anleihen mit 10‐jähriger Laufzeit. Griechenland war damit faktisch pleite und hätte den Staatsbankrott erklären müssen. Das aber hätte vor allem die Interessen der deutschen und französischen Banken verletzt, die massenhaft griechische Staatsanleihen aufgekauft hatten. Also wurde Griechenland »gerettet«, das heißt, es wurde dem Land von den EU‐Mitgliedsstaaten in Form der Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (ESF) beziehungsweise des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) neue Kredite zur Verfügung gestellt. Mit drei Hilfspaketen, die Griechenland 2010, 2012 und 2015 gewährt wurden, wurde ihm ein Kreditspielraum von 368,6 Milliarden Euro eröffnet. Ausgeschöpft wurden davon bis 2015 nur 215,9 Milliarden und im Staatshaushalt angekommen sind nur 10,8 Milliarden, also weniger als 5 Prozent. Der Rest floss in Schuldentilgung beziehungsweise Umschuldung, also in einen Risikotransfer von privaten Banken zu öffentlichen Trägern (EU, EZB, IWF, ESM).
Die Kredite waren mit härtesten Auflagen für Griechenland verbunden. Durch brutale Sparprogramme, Lohnsenkungen, Liberalisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen sollte das Land zu internationaler Konkurrenzfähigkeit zurückfinden. Mit der Überwachung der Umsetzung der Maßnahmen wurde die Troika beauftragt. Sie bestand aus Vertretern der EZB, der EU‐Kommission, des IWF und – später – des ESM. Griechenland wurde gezwungen, drei Memoranden zu unterzeichnen, die unter anderen zu einem umfangreichen Abbau sozialer Rechte, sowie zu einer Kürzung von Löhnen und Renten führten. Das Dritte Memorandum war das umfangreichste und härteste. Es verlangte auch noch, dass alle Gesetze der Troika – später den Institutionen – vorzulegen sind und sie nur mit deren Erlaubnis verabschiedet werden können. Griechenland ist damit auf den Status einer Halbkolonie herabgesunken.16
Die Rettungspakete zeigten trotzdem keinen Erfolg. Im Gegenteil: Die Staatsschuld stieg trotzt eines Schuldenschnitts im Frühjahr 2012 weiter an und erreichte im vierten Quartal 2016 179 Prozent. Die Wirtschaftsleistung ist dagegen stark gefallen, so dass Griechenland ein Viertel seines Bruttoinlandsproduktes eingebüßt hat. Das Zusammenstreichen staatlicher Investitionen, die Absenkung der Löhne sowie die Kürzung von Sozialleistungen und Renten um 30 Prozent und mehr haben dem Land Kaufkraft entzogen und zu zahlreichen Unternehmenszusammenbrüchen mit der Folge weiterer Steuerausfälle geführt.17
Hauptziel der Troika war aber auch nicht die kurzfristige Rückkehr zum Wirtschaftswachstum. In ganz Südeuropa sollte der Wert der Ware Arbeitskraft langfristig abgesenkt werden, so dass diese Region zu einem attraktiven Billiglohnstandort werden sollte, der mit China konkurrieren kann. Hierdurch sollte auch der Druck auf die Löhne in Nordeuropa steigen. Aber auch dieser Plan ist nicht aufgegangen. Nach katastrophalen BIP‐Einbrüchen zwischen 2007 und 2016 mit einem maximalen Rückgang um 10,15 Prozent im Jahr 2011 wuchs das BIP ab 2017 wieder geringfügig, um dann freilich 2020 erneut um 9,02 Prozent abzusacken. Das griechische BIP erreichte 2006 mit 352 Milliarden Dollar seinen bisher höchsten Wert. Davon ist der Stand 2021 mit 216,38 Milliarden weit entfernt.18
Die zweite Säule zur Stabilisierung des Euro war neben dem ESM das OMT‐Programm (Outright Monetary Transaction). Im Mittelpunkt steht dabei das Versprechen der Zentralbank, Staatspapiere der Krisenländer im Notfall unbegrenzt aufkaufen zu wollen. Diese Zusage gab EZB‐Präsident Mario Draghi auf einer Pressekonferenz am 26. Juli 2012. Bisher bedurfte es nicht mehr als dieses Versprechens. Allein daraufhin kehrte das Vertrauen der Investoren in die Bonität der Krisenländer zurück. Sie haben die Risikoprämien im Zins gesenkt und den Krisenländern, aber auch Italien und Spanien mehr Luft zum Atmen gegeben.19
Unter dem Namen Quantitative Easing (Quantitative Erleichterung) wurde ab 2015 erneut ein Aufkaufprogramm aufgelegt, bei dem nicht nur Staatspapiere, sondern auch Anleihen europäischer Institutionen und sogar Firmen aufgekauft wurden. Ein weiteres Instrument zur Stabilisierung der Eurozone war die mehrere Jahre von der EZB verfolgte Niedrigzins beziehungsweise Nullzinspolitik. Nur dadurch konnte Ländern wie Italien, Portugal und Spanien der Zugang zu Krediten mit noch tragbaren Zinsen offengehalten werden.
Aber diese Niedrigzinspolitik hatte schädliche Nebenwirkungen. Der hierdurch angefachte Immobilienboom ließ die Kosten für Häuser und Wohnungen und damit auch die Mieten in die Höhe schnellen. Sie übte zudem Druck auf Sparvermögen, Renten und Stiftungseigentum aus.20
Durch verschiedene fiskalische (Folter-)Werkzeuge wie dem so genannten Sixpack und dem Fiskalpakt wurde die fiskalische Disziplin der Eurostaaten ab dem Dezember 2011 drastisch verschärft:
- Schmerzhafte Sanktionen und Geldstraften können gegen einzelne Staaten bei Verletzung des Stabilitäts‐ und Wachstumspaktes nun quasi automatisch und unabhängig von den Entscheidungen des Rates der Finanzminister in Kraft treten.
- Mitgliedsstaaten, die einen Gesamtschuldenstand von mehr als 60 Prozent des BIP aufweisen, werden verpflichtet, ihn zu verringern, und zwar auch dann, wenn ihr jährliches öffentliches Defizit unter dem Referenzwert von 3 Prozent des BIP liegt.
- Ein Land, gegen das ein Defizitverfahren läuft, kann zu verzinslichen Einlagen in Höhe von 0,2 Prozent des BIP verpflichtet werden.
- Der im März 2012 verabschiedete Fiskalpakt soll bei Ländern zur Anwendung kommen, deren strukturelles jährliches Defizit 0,5 Prozent des BIP oder deren Gesamtschuldenquote 60 Prozent des BIP überschreitet. Die Unterzeichnerstaaten müssen in diesem Fall der EU‐Kommission Maßnahmen zum Abbau der Verschuldung vorlegen. Die deutsche Schuldenbremse wurde damit in die EU exportiert. Eine aktive keynesianische Wirtschaftspolitik des Deficit Spending wurde auf diese Weise unmöglich gemacht.
Mit den oben beschriebenen Maßnahmen konnte immerhin verhindert werden, dass weitere Euroländer wie Spanien und Italien zu akuten Krisenfällen wurden.21
Die große Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 und die auf sie folgende Eurokrise lösten auf der ganzen Welt eine bisher nie dagewesene Protestwelle aus.
Bereits im Jahr 2010 fanden in Griechenland und Spanien mehrere Generalstreiks gegen die Austeritätspolitik statt, wobei die Regierungen – gestützt von der EU – jede Konzession verweigerten.
Im Dezember 2010 begann der »Arabische Frühling«. Die Weltwirtschaftskrise verschlechterte auch die Lebensbedingungen der Menschen in der arabischen Welt. Dagegen protestierten Menschenmassen zunächst in Tunesien und Ägypten. Zwar konnten sie ihre autoritären Regierungen stürzen, aber an ihrer katastrophalen ökonomischen Situation änderte sich nichts. Im Frühjahr 2011 nutzte der Westen dann die allgemeine Proteststimmung in Arabien aus, um in Syrien und Libyen, den »ehemaligen sowjetischen Klientelregimen«, Islamisten zu bewaffnen und sie in den Kampf gegen die säkularen Regierungen zu schicken. Mit Erlaubnis des UNO‐Sicherheitsrates intervenierte der Westen dann in Libyen und stürzte die Regierung von Muammar al‐Ghadaffi. Eine vergleichbare Strategie gegen Syrien scheiterte am Veto Russlands im UNO‐Sicherheitsrat. Dennoch brach in diesem Land der Bürgerkrieg voll aus. So ging der hoffnungsvolle arabische Frühling in einem Blutbad unter, während sich die ökonomische Lage der Bevölkerung wesentlich verschlimmerte.
Allerdings wurden die Proteste in Ägypten zum Vorbild weiterer Krisenproteste vor allem im Spanien und Griechenland. Im Mai 2011 entstand die 15M‐Bewegung, die überall in Spanien zentrale Plätze besetzte und Demonstrationszüge organisierte. Nur wenige Tage später kam es zu einem weiteren Generalstreik und Massendemonstrationen in Griechenland, der die Besetzung des Syntagma‐Platzes am 25. Mai in Athen folgte. Im Unterschied zum Jahr 2010 protestierte jetzt nicht nur die organisierte Arbeiterklasse, sondern große Teile der Bevölkerung.
Anlass waren die Memoranden der Troika, die eine soziale Kahlschlagspolitik durchsetzte. Hauptforderung der Protestierenden war, dass alle Politiker abtreten sollten. Innerhalb kurzer Zeit setzte sich auf den Vollversammlungen jedoch eine weitaus politischere Agenda durch. Kernpunkte waren:
- Verhinderung der Verstetigung des ersten Memorandums durch Gesetze
- Umkreisung des Parlaments am Tag der Abstimmung
- Aufforderung zum Generalstreik
Die Versammlung der Arbeiter und Arbeitslosen forderte zudem alle Gewerkschafter auf, die Besetzung der Betriebe vorzubereiten, denen die Schließung droht. Neuwahlen oder eine Volksabstimmung wurden abgelehnt. Faktisch lief dieses Programm auf eine soziale Revolution hinaus. Auf dem Syntagma etablierte sich die Vorform einer politischen Doppelmacht.
Die Regierung spielte auf Zeit. Die Abstimmung wurde verschoben und dann in der heißen Sommerzeit Ende Juli 2011 nachgeholt. Zeitgleich wurde der Syntagmaplatz mit unglaublicher Brutalität von der Polizei und bewaffneten faschistischen Banden geräumt. Damit wurde der Protestbewegung das Rückgrat gebrochen.22
In Spanien kam es ebenfalls zu Platzbesetzungen, aber hier waren die Proteste schwächer als in Griechenland. Sie flauten gegen Ende 2011 ab.23
Im Herbst 2011 erfassten die Proteste mit der Occupy‐Bewegung dann auch die USA und Kanada, nachdem es in Wisconsin bereits im Frühjahr massiven Widerstand gegen die Kürzungspolitik der dortigen Regierung gegeben hatte. Auch in Großbritannien, Israel, Italien und Deutschland (hier im Zusammenhang mit dem Bau von Stuttgart 21) kam es zu Unruhen. In den südosteuropäischen Ländern Bulgarien, Rumänien, Slowenien, Kroatien und Bosnien‐Herzegowina entstanden breite Bewegungen, wobei sich diejenige in Bosnien auch dezidiert gegen die politische Akzentuierung ethno‐nationaler Spaltungslinien richteten.
Noch am 15. Oktober 2011 fand ein Globaler Aktionstag mit dem Ziel der Vernetzung des gesamten Protestgeschehens statt.
2013, als die Protestwelle vielerorts schon abebbte, entfaltete sich in der Türkei mit der Gezi‐Park‐Bewegung noch einmal ein neuer Schub in der Protestkonjunktur.24
Zwar wurden in Griechenland die Syntagma‐Proteste gewaltsam niedergeschlagen und die von der Troika installierte Technokraten‐Regierung lehnte trotz weiterer Generalstreiks jedes Zugeständnis an die Bevölkerung ab. Aber als Reaktion darauf wurde die Partei Syriza, die Koalition der radikalen Linken, in der Parlamentswahl am 25. Januar 2015 mit mehr als 36 Prozent zur stärksten Kraft und konnte die Regierung bilden. Aber nach nur einem halben Jahr verriet sie ihre Wähler und setzte das dritte Memorandum durch – das brutalste von allen. Da die EU‐Finanzminister zu keinerlei Konzessionen gegenüber Griechenland bereits waren, wäre die einzige Alternative der Austritt Griechenlands aus dem Euro und die Wiedereinführung der Drachme gewesen. Davor aber schreckte die Syriza‐Regierung unter Alexis Tsipras zurück. Sie befürchtete, dass es dann zu einem unkontrollierten Absturz der Drachme und zu heftigen Spekulationsattacken gegen die neue Währung kommen könnte. Zudem gab es 2015 außerhalb des Westens keine Macht, an die sich Griechenland hätte anlehnen können.
Die einzige Möglichkeit zur Lösung der Eurokrise wäre, dass die Südländer und Frankreich aus der Gemeinschaftswährung austreten und ihre nationalen Währungen wieder einführen würden. Diese hätten sie dann im Falle von Wirtschaftskrisen abwerten können. Der immer noch bestehende Wechselkursmechanismus II (WKM II) hätte als Auffangnetz gegen Spekulationsattacken dienen können. Die EZB hätte mittels Interventionen am Devisenmarkt dafür sorgen können, dass die neuen Währungen nicht ins Bodenlose fallen. Außerdem hätte ein geregeltes Verfahren für einen Euro‐Austritt etabliert werden müssen.
Allerdings lag die aktuelle Konstruktion des Euro im Interesse der deutschen Kapitalisten. Denn die Teilnahme der Südländer bewirkte eine im Vergleich zur deutschen Wirtschaftsstärke relative Unterbewertung des Euro, was ihren Exporten nützte. Deshalb kam es nicht zu einer solchen Lösung und die Eurokrise schwelt weiter.25
In den folgenden Jahren verschob sich der Schwerpunkt militanter Proteste nach Frankreich. Hier gab es zwischen 2016 und 2020 heftige sozialen Unruhen als Reaktion auf die Deindustrialisierung des Landes und den zunehmenden Sozialabbau. Ein vorläufiger Höhepunkt des Protestgeschehens war die Gelbwestenbewegung in den Jahren 2018/19. Die Bewegung gegen die Rentenreform nahm zur Jahreswende 2019/20 Züge eines allgemeinen Aufstandes an. Im Jahr 2020 stand Frankreich kurz vor einer sozialen Revolution.
Der Politikwissenschaftler Kees van der Pijl stellte fest, dass ab 2008 alle Rekorde für soziale Unruhen gebrochen wurden. »Nach 2011 gab es einen starken Anstieg der Streiks, als sich ihre Zahl nach Jahren des Rückgangs in einem Jahr verdreifachte; 2015 wurde der bisherige Rekord (1988) gebrochen. Auch die Zahl der regierungsfeindlichen Demonstrationen nahm nach 2010 rapide zu, und die Zahl der Unruhen stieg nicht minder spektakulär an (nach 2011 versechsfachte sie sich) und brach 2013 den Rekord von 1968/69. Das Vertrauen in die Regierung und noch mehr in ‚offizielle‘ Informationen nahm in allen Ländern ab.«26
Letztlich blieben aber alle Proteste erfolglos. Die Regierungen und Kapitalisten waren zu keinerlei Konzessionen mehr bereit. Das wiederum bedeutet, dass eine wesentliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen nur durch eine soziale Revolution und eine Enteignung der Kapitalisten möglich ist. Dem standen allerdings große Probleme im Weg. Zum einen gab es keine glaubwürdige Alternative zum neoliberalen Kapitalismus und zum anderen konnten die vielfältigen sozialen Bewegungen keine erfolgreiche Strategie zu seiner Überwindung entwickeln. Zudem hielten die Repressionskräfte Armee und Polizei den Herrschenden die Treue.
Dennoch waren die Kapitalisten auf höchste alarmiert. Der US‐Amerikanische Globalstratege Zbigniew Brzezinski sprach sogar von einem neuen 1848. Scheinbar waren die Ängste der herrschenden Klasse um ihre Besitzstände weitaus größer, als sie in der Öffentlichkeit zugeben wollte.27
Erstmals in einem Protestzyklus nutzten vor allem junge Leute Smartphones und soziale Netzwerke wie Facebook zur politischen Mobilisierung. Das war Anlass für den Westen, diese sozialen Netzwerke scharf zu zensieren.28
5.2. Der Aufstieg von Blackrock und Co.
Nach der großen Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 09 ist die Weltwirtschaft in eine lange Welle mit depressivem Grundton eingetreten. Im Westen herrscht säkulare Stagnation. Unternehmen sind in den Investitionsstreik getreten, Staaten lassen ihre Infrastruktur verkommen und der Anteil der Löhne am Nationaleinkommen wird seit 2007 beschleunigt abgesenkt. Das angebliche Wirtschaftswachstum in den USA beruht zu einem großen Teil auf statistischen Tricks. Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung grassieren in der gesamten westlichen Welt.29
Diese dystopischen Zeit erlebte den Aufstieg neuer Kapitalmarktakteure, von denen die Schattenbank Blackrock der mächtigste ist.
Diese neuen Akteure lassen sich in vier Gruppen gliedern:
- Schattenbanken vom Typ Blackrock
- Investoren vom Typ Private Equity (»Heuschrecken«), Hedgefonds und Wagniskapitalisten
- Die fünf apokalyptischen Reiter des Internet Google, Apple, Microsoft, Facebook, Amazon (GAMFA)
- Unternehmen der digitalen Plattform‐Ökonomie Uber, Deliveroo, Upworks, Flixbus30
Investmentbanken, Privatbanken und traditionelle Großbanken sind durch die Weltwirtschaftskrise 2007 bis 2009 angeschlagen und mussten zum Teil hohe Verluste verkraften. Ihre Bedeutung ging zurück. Sie sind aber weiterhin wichtig als Dienstleister für die neuen Kapitalmarktakteure.
Blackrock wurde 1988 von Lawrence »Larry« Fink als Hedgefonds gegründet, erlangte aber erst in den 00er Jahren größere Bedeutung. Fink gilt als Erfinder der Wertpapiere aus verbrieften Immobilien‐ und anderen Krediten, die die Finanzkrise von 2007 auslösten. Dennoch profitierte Blackrock ganz erheblich von dieser Krise, denn er wurde von US‐Präsident Barack Obama beauftragt, die Finanzkrise zu managen und stieg damit zur weltweit größten Kapitalsammelstelle auf.
Dies hat damit zu tun, dass Blackrock in Wenatchee, Staat Washington, USA, eine Computeranlage mit 6.000 (!) Großrechnern betreibt. Auf dieser läuft das Programm Aladdin (=Asset Liability and Debt Derivative Investment Network). Offiziell soll dieses Programm den Handel mit Wertpapieren unterstützen, in dem alle auch nur denkbaren Faktoren zur Kursvorhersage genutzt werden. Dazu gehören nicht nur im engeren Sinne ökonomische Daten, sondern auch Regierungswechsel, Kriege, Militäraktionen, Erdbeben, Klimaschwankungen, Streiks‐ und Oppositionsbewegungen, Wechsel von Konsumverhalten, Insolvenzen und Imagekampagnen. Der Handel findet dann völlig automatisiert statt.
Auf der ganzen Welt gibt es nichts nur annähernd Vergleichbares. Allein durch Aladdin hat Blackrock eine unermessliche Macht angehäuft.31
Blackrock ist zudem Miteigentümer der wichtigsten Börsen der westlichen Welt, der NYSE, des Nasdaq, der Londoner Börse und der Deutschen Börse in Frankfurt am Main. Blackrock und Co. organisieren gleichzeitig ein nicht‐öffentliches, nicht geregeltes Parallelsystem. Das sind die Dark Pools, außerbörsliche Handelsplätze für Aktien und Wertpapiere aller Art. In diesen schwarzen Löchern vermittelt insbesondere Blackrock den direkten Kontakt zwischen Käufern und Verkäufern. Alle Teilnehmer bleiben nach außen anonym. Schätzungsweise fanden im Jahr 2014 schon 40 Prozent aller Aktiengeschäfte in den USA außerhalb der traditionellen, regulierten Börsen statt.32
Blackrock, Vanguard, State Street und Co. sind auch Mehrheitsaktionäre in den beiden Rating‐Agenturen S&P und Moodys. Zum einen verdient Blackrock als Agentur‐Miteigentümer an den hoch honorierten Bewertungen mit, zum anderen hat Blackrock so die Möglichkeit eines privilegierten Einblicks in diese Konzerne und kann als Miteigentümer zudem ein bevorzugter Informationslieferant für die beauftragte Agentur sein.33
So kombiniert Blackrock die größte Datenverarbeitungskapazität der westlichen Finanzbranche mit der Funktion als größter Finanz‐ und Wirtschaftsinsider.
Blackrock hat weltweit nur 13.000 Beschäftigte. Traditionelle Banken dagegen beschäftigen trotzt aller Sparorgien immer noch um Größenordnungen mehr Menschen, so die Deutsche Bank 100.000. Dies ist möglich, weil Blackrock nur superreiche Kunden zu betreuen hat, die so genannten Ultra High Net Worth Individuals. Die Mindesteinlagengröße beträgt 50 Millionen Dollar.34 Dieser weltweit reichsten Individuen bilden die transnationale kapitalistische Klasse. Nur Blackrock und Co. kennen die Namen ihrer Kunden. Blackrock ist damit auch eine riesige Anonymisierungsmaschine.
Von allen Kunden zieht Blackrock Gebühren ein. Dennoch fällt im Durchschnitt für die selbst unternehmerisch tätigen Kunden ein höherer Profit ab als bei ihrem eigenen Geschäft.
Das von Blackrock kontrollierte Vermögen entwickelte sich wie folgt:
Tabelle 5.2.1. Von Blackrock kontrolliertes Vermögen35
Neben Blackrock existieren noch weitere Schattenbanken. Die fünf größten waren im Jahr 2017:
Tabelle 5.2.2. Die fünf größten Schattenbanken 201736
Blackrock nutzt extensiv alle wichtigsten Finanzoasen. Dort sind die allermeisten Einzelfonds angesiedelt, die rechtlich als Aktionäre der von Blackrock gehaltenen Firmen gelten. Seine 5 Prozent RWE‐Aktien teilt Blackrock beispielsweise auf 154 Fondsgesellschaften und Finanzinstrumente auf, die ihren Sitz in den Finanzoasen haben. Blackrock gründet für das Kapital jedes Kunden eine Unternehmenshülle wie zum Beispiel Blackrock Holdco 2 Inc., Blackrock Holdco 4 LLC, Blackrock Holdco 6 Inc. Aber die Schattenbank selbst und nicht die einzelnen Kunden treffen alle unternehmerischen Entscheidungen.37
Die häufigsten genutzten Finanzoasen sind der US‐Bundestaat Delaware, Luxemburg, die Niederlande, Jersey, die Kaimaninseln, Großbritannien, Singapur, Australien und Kanada. Blackrock hat seinen operativen Hauptsitz in New York, den rechtlichen Sitz aber in Delaware.
Wie kommen diese beträchtlichen Profite zustande? Blackrock nutzt hierzu eine Reihe von Methoden:
1. Spekulation mit Aktien
Blackrock hält pro Unternehmen eine bestimmte Zahl an Aktien, meistens unter 10 Prozent. Aber die Schattenbank spekuliert auch mit ihnen. Deshalb ändert sich die genaue Anzahl der gehaltenen Aktien häufig.
Beispiel: Im Jahr 2016 kaufte Blackrock anderen Aktionären für eine begrenzte Zeit ein Fünftel aller Lufthansaaktien ab. Die Schattenbank spekulierte darauf, dass wegen der Angst vor Terroranschlägen und wegen des Brexits weniger Flüge gebucht werden. Das passierte auch und die Lufthansa‐Aktien stürzten um 14 Prozent ab. Blackrock und Co. gaben die Leihaktien nach einigen Wochen an ihre eigentlichen Eigentümer zurück und kauften im Wert gesunkene Lufthansaaktien auf – mit Gewinn, denn die Kurse stiegen wieder (Leerverkauf).
Blackrock ist aber nicht nur ein Spekulant, sondern auch Hauptaktionär der Lufthansa. Wenn die Spekulation mehr einbringt als das Halten der Aktien und die jährliche Dividende, dann wird spekuliert. Blackrock und Co. setzen ständig Teile ihrer Aktien von Lufthansa, Daimler, Siemens, Coca‐Cola, Goldman Sachs etc. zur Spekulation ein.38
2. Kartelle, Fusionen und Übernahmen
Fusionen und Übernahmen sind Renditetreiber. Ein Beispiel ist die Übernahme des US‐Biotechkonzerns Monsanto durch Bayer. Es handelte sich nicht um eine feindliche Übernahme. Sie wurde von den Großaktionären beider Firmen angeschoben. Und das sind dieselben: Blackrock, Vanguard, Capital World, Deutsche Bank. Blackrock ist auch der Großaktionär des Bayer‐Miteigentümers Deutsche Bank. Nach dem gleichen Muster verlief die Fusion von Linde mit Praxair.
Fusionen und Übernahmen ziehen sich über Monate und Jahre hin. Das ist eine wichtige Zeit für das von Blackrock und Co gesteuerte Auf und Ab der Börsenwerte der zunächst noch getrennten Unternehmen.
Außerdem verdienen die von Blackrock herangezogenen Kreditgeber, die etwa für Bayer den Kaufpreis von Monsanto in zweistelliger Milliardenhöhe aufbringen. Zum Beispiel die Banken Credit Suisse, Morgan Stanleym Goldman Sachs. An allen diesen Banken sind Blackrock und Co. wiederum als Großaktionäre beteiligt.
Bei Fusionen und Übernahmen verdienen viele Berater an den Transaktionskosten. Der Verkauf von Patenten, Grundstücken und Unternehmensanteilen muss arrangiert, Politiker, Gewerkschafterm, Medien und Kartellbehörden günstig gestimmt werden. Die Honorare für Kanzleien wie Freshfields, Wirtschaftsprüfer wie PwC und PR‐Agenturen wie Finsbury belaufen sich bei einer Fusion wie der von Bayer und Monsanto auf etwa 2 Milliarden Dollar.
Wie immer bei Fusionen und Übernahmen werden anschließend massenhaft Arbeitsplätze abgebaut, was die Profitabilität der neuen Firma weiter erhöht.
3. Herunterfahren des Wettbewerbs
Blackrock und Co. sind bei vielen großen Unternehmen derselben Branche gleichzeitig Aktionäre. So kommt der Wettbewerb zwischen diesen Unternehmen zum Erliegen, während die Unternehmensgewinne steigen. Von diesen profitieren hauptsächlich US‐Amerikanische Investoren, die so immer weiterwachsen können. Blackrock und Co. höhlen damit die Fundamente der Marktwirtschaft aus.
In den USA haben zum Beispiel die von Blackrock und Co. kontrollierten Banken Kartelle gebildet. Die Gebühren wurden erhöht und gleichzeitig die Guthabenzinsen gesenkt.39
4. Substanzverwertung von Unternehmen
Blackrock und Co. verwerten regelmäßig die Substanz der Unternehmen, in die sie einsteigen ohne neue Werte zu schaffen. Denn sie setzen die Profite der Unternehmen ein, um den Wert von deren Aktien zu steigern. Die Konzerne, an denen Blackrock und Co. beteiligt sind, kaufen von Kleinaktionären möglichst viele Aktien zurück und nehmen sie vom Markt. Denn weniger Aktien verknappen das Angebot und treiben den Kurs. Obendrein erhöht sich der zukünftige Gewinn pro Aktie, weil er sich auf weniger Anteilsscheine verteilt. Damit werden Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aber auch für die Verbesserung des Produktionsablaufes zurückgefahren. Im Grunde genommen betreiben Blackrock und Co. schon seit Jahren eine globale Plünderungswirtschaft.
Blackrock und Co. dringen bei den ihnen gehörenden Unternehmen darauf, die Stellung der Beschäftigten zu verschlechtern und die Löhne abzusenken. Auslagerungen, Einsatz von Leiharbeitern auf Abruf und Kündigung von Betriebsräten gehört zu ihrem Geschäftsmodell.40
Blackrock ist seit Jahren an allen DAX‐Konzernen beteiligt. Der Aktienanteil schwankt regelmäßig sehr stark. Er war im Juni 2022 wie folgt:
Tabelle 5.2.3 Anteile von Blackrock an den DAX‐Konzernen 202241
Der Einfluss von Blackrock und Co. wird über die in der Liste genannten Beteiligungen noch dadurch verstärkt, dass Blackrock, Vanguard, JPMorgan Chase, State Street, Fidelity und Capital Group gleichzeitig noch Miteigentümer anderer Konzerne wie der Deutschen Bank und der Allianz sind, die ebenfalls noch Aktienanteile an den DAX‐Konzernen besitzen.
Die DAX‐Konzerne sind für Blackrock der strategische Anker. Darüber hinaus sind Blackrock und Co. noch in hunderten weiterer Unternehmen in Deutschland Miteigentümer, zum Beispiel bei Rheinmetall, Hochtief, Jenoptik, Delivery Hero, Kali und Salz etc. Sie sind zudem Miteigentümer von tausenden US‐Konzernen wie Apple, Google, Microsoft, Amazon, die in Deutschland und der EU ebenfalls Politik und Wirtschaft mitgestalten.
Blackrock und Co. sind die größten Privateigentümer von Mietwohnungen. Sie besitzen große Anteile an den Mietenkonzernen Vonovia und Deutsche Wohnen. Diese Konzerne haben wesentlich zur Mieten‐Explosion in Deutschland beigetragen. Mit den Mieten stiegen auch deren Profite in exorbitante Höhen.42
Viele Beobachter können sich nicht vorstellen, wie Blackrock mit Aktienanteilen von 3 bis 10 Prozent eine so große Gestaltungsmacht haben kann.
Blackrock und Co. lassen die Vorstände der ihnen zum Teil gehörenden Konzerne regelmäßig in einer Roadshow antreten und machen Druck: Für höhere Profite und geringere Löhne sowie Entlassungen.
Blackrock und Co. entsenden grundsätzlich keine Vertreter in die Aufsichtsräte, sondern setzten sie informatorisch aufs Trockene. Sie üben Einfluss durch direkten Kontakt mit den Konzernvorständen aus. Dadurch hintertreiben sie auch die Mitbestimmung.
Blackrock besitzt darüber hinaus folgende Möglichkeiten der Einflussnahme:
- Blackrock und Co. wissen über alle wichtigen Unternehmen der jeweiligen Branche Bescheid.
- Blackrock und Co. sind auch Miteigentümer der wichtigsten Unternehmen und Banken der wichtigsten westlichen Volkswirtschaften.
- Blackrock und Co. sind Miteigentümer der wichtigsten Ratingagenturen.
- Die Unternehmen sind von Dienstleistungen abhängig, die Blackrock und Co. erbringen (Risikoanalysen, Finanzmanagement)
- Blackrock und Co. beeinflussen die Wertentwicklung der Unternehmensaktien und setzten damit Vorstand und Aufsichtsrat unter Druck, deren Leistung am Aktienwert gemessen wird. Außerdem hängt davon der Wert des persönlichen Aktiendepots der Vorstände ab.
- Vor allem die drei Kapitalorganisatoren Blackrock, Vanguard und State Street koordinieren ihr Abstimmungsverhalten bei den Aktionärsversammlungen und ihre sonstigen Maßnahmen.
Damit können die Schattenbanken den Kurs der Unternehmen auch bei einer geringen Beteiligung wesentlich bestimmen.43
Spanidis behauptet, Blackrock hätte gar kein Interesse daran, detaillierte unternehmerische Entscheidungen zu treffen, weil das Ressourcen binden würde.44 Im Unterschied zu Private Equity‐Investoren, den berüchtigten Heuschrecken, müssen Blackrock und Co. das auch gar nicht. Denn es geht Blackrock nicht um kurzfristige Maximalrenditen, die nur durch Substanzauszehrung erreicht werden können. Trotzdem macht die Schattenbank durchaus Druck in Richtung höherer Profite. Die von Blackrock angewandten Methoden wie Aktienspekulation, Kartelle, Fusionen und Übernahmen, Herunterfahren des Wettbewerbs und Aktienrückkauf bewirken langfristig auch eine Substanzauszehrung. Dies insbesondere durch ein Zurückfallen des Westens im globalen Wettbewerb gegenüber dynamischeren Wirtschaftsräumen wie China.
In Zweifelsfall wird Blackrock natürlich die US‐Interessen durchsetzen, allein schon deshalb, weil die Schattenbank dort viel stärker investiert ist als in allen europäischen Standorten. Das kann erklären, warum die deutsche Industrie im Jahr 2022 nicht gegen den selbstmörderischen Wirtschaftskrieg gegen Russland protestiert hat. Und das ist entscheidend.
Die folgende Tabelle gibt den ausländischen Aktienbesitz an den DAX‐Unternehmen an:
Tabelle 5.2.4. Ausländischer Aktienbesitz an DAX‐Unternehmen45
Es fand also ein richtiggehender Ausverkauf statt, wobei der der Anteil des ausländischen Aktienbesitzes von 20 auf 58 Prozent stieg. Diese Aktien gelangten schließlich direkt oder indirekt schließlich in die Hände der US‐Amerikanischen Kapitalorganisatoren. Ähnliche Entwicklungen spielten sich in Frankreich unter dem Sozialisten Hollande, in der Schweiz, Großbritannien und Italien ab.46
Vom Volumen her sind die Anteile von Blackrock und Co. an Unternehmen und Banken in den USA aber ungleich größer als in Europa. Dabei sind die Kapitalorganisatoren stark konzentriert. Blackrock, Vanguard und State Street dominieren die Szene. Von den 500 größten US‐Unternehmen sind die großen Drei in 450 die größten Einzelaktionäre, darunter bei Apple, Coca‐Cola, Exxon, Ford, General Motors, General Electric, Google, Goldman Sachs, Amazon, Facebook und Microsoft (Stand 2017). An 1.200 weiteren Unternehmen haben die großen Drei zusammen mindestens 40 Prozent aller Eigentumsanteile.
Blackrock hat 70 Niederlassungen in 30 Staaten vor allem in den USA und der EU. Schon 2012 war Blackrock Großaktionär in 282 der 300 größten westlichen Kapitalgesellschaften, gefolgt von Vanguard (267), State Street (247), Fidelity (239), JPMorgan Chase (219) und Capital Group (172).
Blackrock war 2017 Miteigentümer in 17.309 Unternehmen, Banken und anderen Kapitalorganisatoren. Hinzu kommt, dass Blackrock auch Miteigentümer von State Street und Vanguard ist und umgekehrt.47
Google, Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, abgekürzt GAMFA, werden auch als die fünf apokalyptischen Reiter des Internets bezeichnet. Ihr Börsenwert gehört zu den höchsten der Welt.
Die ersten vier Konzerne erbringen immerhin sinnvolle Leistungen, aber greifen dafür alle verfügbaren Daten ab, die sie bei ihren Kunden bekommen können und stellen sie den US‐Geheimdiensten zur Verfügung. Google und Facebook haben in ihren unterschiedlichen Diensten inzwischen auch harte Zensurmaßnahmen eingeführt und die Verbreitung von Informationen unterbunden, die für den Westen nachteilig sein können.
Amazon mit operativem Hauptsitz in Seattle, rechtlichem Hauptsitz in Delaware und mit 560.000 Beschäftigten weltweit wurde in zwei Jahrzehnten zum größten westlichen Konzern für Online‐Versandhandel. Gründer Jeff Bezos wurde 2018 mit 147 Milliarden Dollar Privatvermögen zum reichsten Mann der Welt.48
Die Beschäftigten werden abhängig von Region, Staat und Kräfteverhältnis extrem ausgepresst. Befristete Verträge, Teilzeit‑, Leih‐ und Saisonarbeit mit möglichst niedriger Bezahlung herrschen vor. In allen Staaten lehnt Amazon Tarifverträge mit Gewerkschaften ab. Die großen Lagerhallen werden in strukturschwachen Regionen mit billigen und willigen Arbeitskräften angesiedelt. Die Chefs fördern gegenseitige Denunziationen, »Minderleister« und Kranke werden brutal herausgemobbt. Amazon praktiziert eine sekundengenaue, disziplinierende Überwachung der Beschäftigten.49
Mit Amazon Alexa und Amazon Echo weitet der Konzern diese Überwachung auch auf seine Kunden aus. Amazon wertet ohne Beteiligung der Ausgespähten deren intimstes Privatleben aus und baut darauf seine Strategie einer weiteren Alltagsdurchdringung.50
Aggressiver noch als die fünf apokalyptischen Reiter des Internets wollen die Plattform‐Kapitalisten Uber & Co bisherige Gesetze und Regeln brechen. Disruptive Innovation ist ihr Motto. Bisherige Gesetze, Regeln, Verfahren, Produkte, Dienstleistungen sollen unterbrochen und vollständig verdrängt werden.
Als Uberisierung wird der Prozess bezeichnet, bei dem Unternehmen mithilfe von Internet, Smartphone, Tablet den Kontakt zwischen Verbrauchern und Anbietern von Produkten vermitteln. Am bekanntesten ist der Taxidienstleister Uber, der Vermittler von Privatwohnungen und Hotelzimmern AirBnB, die Essensauslieferer Deliveroo und Delivery Hero, die Arbeitsvermittler Upwork, Wework und Mechanical Turk, der Reisevermittler Booking.com und der Busvermittler FlixBus.
Der weltweit größte Taxibetrieb Uber besitzt kein einziges Taxi, sondern wälzt die Kosten der Fahrzeuge auf die Fahrer und Eigentümer ab. Die Millionen Taxifahrer von Uber sind Scheinselbständige. Sie werden so knapp und rechtlos gehalten wie nur irgend möglich.
Der Essenslieferdienst Deliveroo verlangt von seinen angeschlossenen Restaurants 25 Prozent des Essenbetrages. Er zieht zusätzlich pro Kunde zwischen 2,5 Euro und 4,9 Euro ein. In Zukunft möchte Deliveroo das Kochen selbst übernehmen. Die menschliche Arbeitskraft soll aus diesem Prozess ganz ausgeschaltet und das Kochen von Automaten geleistet werden.
Bisher machen die Plattformkapitalisten Verluste. Sie spekulieren aber auf ein Monopol in der Zukunft, wo sie sich für die heutigen Verluste schadlos halten können.
Die Plattformkonzerne verschärfen die Praxis der working poor hin zu einem noch ärmeren digitalen Prekariat. Ihr globales Millionenheer besteht aus Stücklohnempfängern, scheinselbständigen Freelancern, Auf‐Abruf‐Bereitstehern und individualisierten Niedriglöhnern. In Deutschland haben die Plattformkonzerne etwa eine Million Beschäftigte. Den Sozialversicherungen entgehen so jährlich Milliarden Euro. Diese Entwicklung führt zu einer Epidemie der Obdachlosigkeit. Sie erreicht in Kalifornien, dem Zentrum der Plattformökonomie, immer neue Höchststände. Uber und Co. tragen somit zu einer weiteren massiven Verarmung der Gesellschaft bei.51
Blackrock und Co. sind auch nur Dienstleister für die eigentliche globale Kapitalelite. Die krisenhafte Entwicklung der Weltwirtschaft ab 2007 bewirkte nicht nur eine Explosion der Armut und Obdachlosigkeit im Westen, sondern spiegelbildlich dazu eine Explosion des Reichtums der wenigen Milliardäre, wie die jährlichen Forbes‐Listen zeigen. Das Vermögen von Bill Gates hat sich seit 2005 mehr als verdreifacht auf 129 Milliarden Dollar. Die anderen bekannten Milliardäre und aggressiven Internetkapitalisten wie Elon Musk (219 Milliarden), Jeff Bezos (171, Amazon), Larry Page, Sergey Brin (111 und 107, beide Google) und Marc Zuckerberg (67, Facebook) sind überhaupt erst in den 10er Jahren ganz nach vorne vorgestoßen in die Liste der reichsten Männer der Welt. Ihr Vermögen hat sich in der Krisenperiode des Kapitalismus mehr als verzehnfacht.52
Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird es in einigen Jahren Billionäre geben. Die Anzahl der Superreichen der ersten Liga ist inzwischen auf einige 100 geschrumpft. Das sind Dimensionen, wo persönliche Absprachen möglich sind. Dies passiert in den zahlreichen Elitenzirkeln, von denen das World Economic Forum nur das mächtigste, aber bei weitem nicht das einzige ist. Natürlich mag es in Detailfragen Meinungsunterschiede zwischen einzelnen Oligarchen geben. Aber darüber ist sehr wenig bekannt. Diese Meinungsunterschiede haben jedoch nichts mehr mit innerkapitalistischer Konkurrenz zu tun. Die zahlreichen miteinander verbundenen Kapitalsammelstellen fungieren de facto als ein riesiges globales Monopol.
Hier zeigt sich unverhüllt das Wirken der kapitalistischen Bewegungsgesetze: Akkumulation von Reichtum an einem Pol und Akkumulation von Armut und Elend am anderen. Der ganze Reichtum der Welt wird sich bald in den Händen von einigen 100 Personen konzentrieren, während der Rest im wahrsten Wortsinn nichts mehr besitzen wird. Ob die Menschen deshalb glücklich sein werden, wie eine Werbebotschaft des World Economic Forums behauptet, darf bezweifelt werden.
Das von Marx im berühmten 23. Kapitel des Kapitals – Band 1 beschriebene allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation53 wirkt in Reinform nur dann, wenn es keine Gegenkräfte wie die Arbeiterbewegung gibt. Wie schon im historischen Faschismus wurde im Westen nach 1989 die Arbeiterbewegung entweder zerschlagen oder korrumpiert. Das erlaubte es dem Kapital, die Reallöhne unter dem Druck von Arbeitslosigkeit und Krise bedeutend zu senken.
Die Entwicklung hin zu einem globalen Monopol ist auch die Basis für die transatlantische Ausrichtung der Medien in Europa. Wie der Medienwissenschaftler Uwe Krüger bereits 2014 in seinem Buch Meinungsmacht herausgefunden hat, wird die Medienelite der EU durch US‐geführte Stiftungen orientiert, was die Militär‑, Außen‐ und Wirtschaftspolitik betrifft.
In Deutschland sind aktiv:
- die Atlantikbrücke
- das American Institut for Contemporary German Studies (Washington)
- der German Marshall Fund of the United States
- das Aspen Institute
- die Trilaterale Kommission
- die American Academy
- das American Council on Germany
Zu den von ihnen veranstalteten Konferenzen – mit Politikern, Militärs, Konzernchefs – werden Journalisten der öffentlich‐rechtlichen wie der privaten Leitmedien eingeladen: ZDF, ARD, Die Zeit, FAZ, taz, Die Welt, Süddeutsche, Spiegel, Focus.54
Im Zweifelsfall vertreten die so eingenordeten Redakteure primär die Interessen der US‐Eliten und nicht mehr der einheimischen Kapitalisten. Das zeigte das Jahr 2022 zur Genüge. Gäbe es die Deutschland AG noch, würden die Vorstände etwa der Deutschen Bank dafür Sorge tragen, dass die Journalisten primär im Interesse der deutschen Kapitalisten agieren. In diesem Sinne hat noch der legendäre Vorstandssprecher Hermann Josef Abs Einfluss auf die Presseentwicklung der Nachkriegszeit genommen.
5.3. Die Flüchtlingskrise von 2015
Im Jahr 2015 strömten mehr als eine Million Flüchtlinge vor allem aus dem arabischen Raum nach Europa und hier vor allem nach Deutschland.
Dies führte nicht nur dazu, dass die Löhne besonders im Niedriglohnsektor niedrig und die Mieten hoch blieben. Mit einer hohen Migrationsrate wird offenbar auch das Ziel verfolgt, den teilweise noch starken sozialen Zusammenhalt in Europa aufzuknacken. Denn dieser Zusammenhalt wird als Hindernis für die Erhöhung der Ausbeutungsrate eingeschätzt.55
Das ist auch zum großen Teil gelungen. In den europäischen Großstädten leben inzwischen einerseits die so genannten Kader, also die gehobene Mittelklasse, die in den Sektoren Finanzen, Verwaltung, Lehre und Forschung, PR und Werbung sowie Journalismus tätig ist. Ideologisch sind sie Anhänger des Linksneoliberalismus und ihr wichtigstes Anliegen ist die Identitätspolitik. Ihr Habitus ist derjenige der Bobos und Hipster.
Dem steht ein Immigranten‐Subproletariat gegenüber, das einfache Dienstleistungen verrichtet. Es wird durch die Identitätspolitik auf Kosten der einheimischen Bevölkerung moralisch aufgewertet, aber ökonomisch knapp gehalten.
Die Kader und das Immigranten‐Subproletariat dominieren die Großstädte. Einheimische Industriearbeiter, mittlere Angestellte und die Bauerschaft leben vor allem in den abgewerteten Industrierevieren wie dem Ruhrgebiet, in Ostdeutschland, in Klein‐ und Vorstädten und auf dem Lande. Die unteren Klassen der einheimischen Bevölkerung werden moralisch von den »Kadern« massiv abgewertet – »Weiße alte Männer« sind für sie der größte Abschaum – und in Deutschland ökonomisch durch Hartz IV langsam ausgehungert – direkt oder indirekt.
Diese Teile der Bevölkerung sind durch den Verlust von Industriearbeitsplätzen und den Niedergang der damit verbundenen Mittelschicht zum Beispiel aus Ladenbesitzern einerseits und durch das Anwachsen der qualifizierter Wissensökonomie sowie der Unterschichten andererseits in die Zange genommen und an den Rand gedrückt worden.56
In Deutschland stehen die »linken« Parteien SPD, Grüne und Linke für ein Bündnis zwischen den »Kadern« und dem Immigranten‐Subproletariat. Sie vertreten die einheimische werktätige Bevölkerung nicht mehr. Die einheimische Bevölkerung wird als »rechts« und »rechtsextrem« geschmäht, wenn sie ihre Stimme erhebt. Die Arbeiterklasse ist damit nahezu vollständig zum Verstummen gebracht und von jeder politischen Mitwirkung abgeschnitten worden. Die gehobene Mittelschicht dagegen hat einen enormen politischen und kulturellen Einfluss akkumuliert.
Der sechste Teil dreht sich um Chinas Aufstieg und den Abstieg des Westens.
Verweise
1 Vgl. Rügemer 2020, S. 278f
2 Vgl. Rügemer 2020, S. 280
3 Vgl. Karl‐Heinz Roth: Die globale Krise, Hamburg 2009, S. 19f
4 Vgl. Roth 2009, S. 20ff
5 Vgl. Roth 2009, S. 26
6 Vgl. Roth 2009, S. 28ff
7 Vgl. Roth 2009, S. 30
8 Vgl. Roth 2009, S. 37ff
9 Vgl. Roth 2009, S. 44
10 Vgl. Statista, USA: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/14558/umfrage/wachstum-des-bruttoinlandsprodukts-in-den-usa/, Deutschland: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2112/umfrage/veraenderung-des-bruttoinlandprodukts-im-vergleich-zum-vorjahr/, China: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/14560/umfrage/wachstum-des-bruttoinlandsprodukts-in-china/, abgerufen am 14.10.2022
11 Vgl. Leo Meyer: Globaler Kapitalismus vs. Protektionismus, in: Krise des Globalen Kapitalismus und jetzt wohin?, isw‐Report 109, München 2017, S. 4f
12 Vgl. Andreas Wehr: Europa, was nun?, Köln 2018, S. 13 und 16
13 Vgl. Wehr 2018, S. 15
14 Vgl. Wehr 2018, S. 16
15 Vgl. Wehr 2018, S. 19
16 Vgl. Wehr 2018, S. 20ff
17 Vgl. Wehr 2018, S. 25
18 Statista zu Griechenland: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/14398/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-griechenland/, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/14538/umfrage/wachstum-des-bruttoinlandsprodukts-in-griechenland/, abgerufen am 14.10.2022
19 Vgl. Wehr 2018, S. 26
20 Vgl. Wehr 2018, S. 28ff
21 Vgl. Wehr 2018, S. 31ff
22 Gregor Kritidis: Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt, in Sozial.Geschichte Online 6/2011, im Internet: https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00028997/07_Kritidis_Ende.pdf, abgerufen am 14.10.2022, S. 135ff
23 Nikolai Huke und Olaf Tietje: Gewerkschaftliche Erneuerung in der Eurokrise. Neue Organisationsformen der spanischen Gewerkschaften während des Protestzyklus ab 2011, in Prokla 177, S. 524ff
24 Redaktion der Prokla: Editorial, in Prokla 177, S. 466ff
25 Vgl. Wehr 2018, S. 41ff
26 van der Pijl 2021, Kapitel Ein neues 1848?
27 Vgl. van der Pijl 2021, Kapitel Ein neues 1848?
28 Vgl. Hannes Hofbauer: Zensur, Wien 2022, Anonym: Eskalation der Zensur, Magma 28.06.2022, im Internet: https://magma-magazin.su/2022/06/anonym/eskalation-der-zensur/, abgerufen am 14.10.2022
29 Vgl. Rügemer 2020, S. 16f.
30 Vgl. Rügemer 2020, S. 16
31 Vgl. Rügemer 2020, S. 20f.
32 Vgl. Rügemer 2020, S. 31
33 Vgl. Rügemer 2020, S. 30
34 Vgl. Rügemer 2020, S. 21f.
35 Wikipedia‐Artikel Blackrock, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/BlackRock, abgerufen am 14.10.2022
36 Rügemer 2020, S. 40
37 Vgl. Rügemer 2020, S. 31
38 Vgl. Rügemer 2020, S. 18
39 Vgl. Rügemer 2020, S. 24 und 33
40 Vgl. Rügemer 2020, S. 62f
41 Wikipedia‐Artikel Blackrock
42 Vgl. Rügemer 2020, S. 46
43 Vgl. Rügemer 2020, S. 33ff
44 Vgl. Thanasis Spanidis: Die Bourgeoisie im imperialistischen Weltsystem, 05.11.2022, im Internet; https://kommunistische.org/allgemein/die-bourgeoisie-im-imperialistischen-weltsystem/, abgerufen am 12.11.2022.
45 Vgl. Rügemer 2020, S. 43
46 Vgl. Rügemer 2020, S. 52ff
47 Vgl. Rügemer 2020, S. 59f
48 Vgl. Rügemer 2020, S. 162
49 Vgl. Rügemer 2020, S. 164
50 Vgl. Rügemer 2020, S. 166
51 Vgl. Rügemer 2020, S. 199ff
52 Vgl. Wikipedia‐Artikel The World’s Billionaires, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/The_World ProzentE2 Prozent80 Prozent99s_Billionaires, abgerufen am 14.10.2022
53 Vgl. Karl Marx: Das Kapital – Band 1, MEW 23, Berlin 1989, S. 675
54 Vgl. Rügemer 2020, S. 229
55 Vgl. van der Pijl 2021, Kapitel: Migration und das metropolitane Universum
56 Vgl. van der Pijl 2021, Kapitel: Kader, Einwanderer und die einheimische Überschussbevölkerung, Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten (E‑Book), Kapitel: Privilegierte Opfer – die Identitätspolitik, Frankfurt am Main 2021
Bild: Krisenproteste in Athen 2008. Quelle ist das inzwischen der Zensur zum Opfer gefallene Indymedia.