Wer ewigen Krieg will, kann den Autor des Ewigen Friedens nicht schätzen

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Vorab erst einmal – ich bin seit über 9 Jahren Vorsitzende eines Vereins, der humanitäre Hilfe im Donbass leistet; man möge es mir nachsehen, wenn die Beschäftigung mit dem Wissen um die dortigen Ereignisse, es sehr beeinflusst, wie ich die Aussagen Kants betrachte. Eigentlich wäre es nicht erstaunlich, wenn man es heute in Deutschland verbieten würde, die Werke dieses großen deutschen Philosophen zu lesen. Vor allem eines, sein politischstes Werk, von dem man mit Fug und Recht behaupten kann, es sei eine der Quellen des heutigen Völkerrechts: seine Schrift »Zum ewigen Frieden«.

Man muss nur anfangen, sie zu lesen, und die vergangenen Jahre scheinen dahinter auf wie ein Film auf einer Leinwand. Weshalb ich ein kurzes Stück dieses Films darstellen möchte, weil sich daraus deutlich erkennen lässt, wie aktuell dieses Werk heute noch ist, aber leider auch, wie weit sich die heutige deutsche Politik davon entfernt hat. »Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.« Kommen nur mir da die Aussagen von Angela Merkel und Francois Hollande in den Sinn, sie hätten die Minsker Vereinbarungen nur unterstützt, um der Ukraine Zeit zu verschaffen?

Kant erklärte das für »unter der Würde der Regenten«. Bei den Besuchen im Donbass war es übrigens immer sichtbar, fühlbar, hörbar, wie sehr sich das Kiewer Regime durch diese Vereinbarungen gebunden fühlte; es ließ sich am Beschuss festmachen, der all die Jahre über nie endete, und den ich schon allein daran ermessen konnte, wie häufig das Dach der selben Schule wieder neu gedeckt werden musste.

Kant hat sehr genau die politische Lage im damaligen Europa beobachtet. Wenige Zeilen weiter schreibt er nämlich, unter der Überschrift, kein Staat solle von einem anderen »durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können« nicht nur von der berüchtigten Heiratspolitik der Habsburger, sondern er erwähnt auch einen der großen politischen Skandale im Deutschland der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, den Verkauf hessischer Soldaten an die Briten im Jahr 1776. »Die Untertanen werden dabei als nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht.«

Und ein weiteres Mal drängt sich die Gegenwart in der Ukraine ins Denken, wenn er stehende Heere, die er ablehnt, als »einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Anderen« beschreibt. Kant sieht das sogar bei einem stehenden Heer in Friedenszeiten als gegeben, abgesehen von einer legitimen Verteidigung, die »Staatsbürger in Waffen« vornehmen. Eine der Formulierungen, in der Kant zu erkennen gibt, dass er die Welt der Fürsten und Könige nicht schätzt.

Gebrauch durch die Hand eines anderen, das ist eine überaus passende Formulierung für das, was derzeit in Europa geschieht. Ein Krieg im Interesse westlicher Oligarchen, für die die deutsche Bevölkerung ihren Wohlstand opfern muss, und hunderttausende Ukrainer ihr Leben. Der »Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen«, das ist es, was vor über hundert Jahren die große Erschütterung des ersten Weltkriegs darstellte.

Die Naziherrschaft hat dann diesen Gebrauch auf bisher ungeahnte Höhen getrieben. Und wenn man auch nur die Vorgänge rund um den Abbruch der Friedensverhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 kennt, dann kann man auch hier den Gebrauch sehen, diesmal bezogen auf ein ganzes Land. Eine Tatsache, die auch der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, eingestanden hat: dass es nie um die Ukraine ging, sondern immer um die Unterwerfung Russlands.

Ja, es läuft einem sogar ein Schauer über den Rücken, wenn man den Punkt 6 des ersten Abschnitts liest: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“, und dann folgen Beispiele wie »Anstellung der Meuchelmörder«.

Wer sähe da nicht heute das Bild der brennenden Crocus City Hall vor sich? Und das sind nur die ersten Seiten, über die Vorbedingungen eines Friedens. Aber das Vertrauen, von dem Kant schrieb, das ist nicht nur geschwunden, es wird mit allen Mitteln untergraben. Man sollte es nicht unterschätzen, die Bedeutung dieses »Zutrauens im künftigen Frieden«. Das geht mir deshalb besonders nahe, weil diese kleine Arbeit, die humanitäre Hilfe, die wir für den Donbass geleistet haben, auch ein Baustein für solches Vertrauen ist. Anders gesagt, wenn Deutschland von Menschen regiert würde, die zumindest noch eine Vorstellung davon haben, dass eine Zerstörung des Vertrauens den Weg zum Frieden versperrt, müsste unsere Arbeit wenigstens unbehindert bleiben.

Weil auch die Bewahrung freundschaftlicher Kontakte in diesem kleinen Feld ein Fundament sein kann, auf dem dieses Vertrauen wachsen kann. Stattdessen wird selbst die Lieferung von Wasser, Saatgut und anderen Hilfsgütern mit allen Mitteln bekämpft, bestraft und unmöglich gemacht.

Frieden, auch das sagt Kant klar, muss »gestiftet werden«. Er fällt nicht vom Himmel, er erfordert ein Bemühen. Nicht nur auf der Ebene der globalen Politik. Wenn man sich das heutige Verhalten des Westens betrachtet, erinnert es, auch in der Weise, in der die Interessen der einfachen Bürger keine Rolle spielen, an das Verhalten der Fürsten, über die Kant spottete, dass »Staaten einander heiraten könnten«.

Was würde er über die heutige EU sagen?

Wenn wir heute hier sind, um an die Leistung dieses deutschen Denkers zu erinnern, dann ist dieses Erinnern sicher desto wichtiger, je mehr Kant uns heute zu sagen hätte. Aber dass er uns heute so viel zu sagen hat, dass seine Sätze »zum ewigen Frieden«, die vor über 200 Jahren geschrieben wurden, heute wieder wie eine Utopie klingen, obwohl vieles davon bereits in der Charta der Vereinten Nationen zu geltendem Völkerrecht geworden war, belegt ein Scheitern.

Nicht das Scheitern von Kant, sondern unseres.

Weil wir, und da spreche ich von den Bürgern des Westens, es zugelassen haben, hinter Erkenntnisse zurückzufallen, die schon zu Zeiten unserer Ur-​Ur-​Urgroßeltern niedergeschrieben und gedruckt wurden.

Bild: Liane Kilinc vor der Kant-​Statue in Kaliningrad

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