Dies ist der sechste Teil einer mehrteiligen Serie von Jan Müller zur aktuellen Imperialismusdebatte in der kommunistischen Bewegung. Sie beinhaltet folgendene Teile:
1. Einleitung & Marxsche Methode
2. Klassischer Imperialismus (1895 – 1945)
3. Der Spätkapitalismus (1945 – 1989)
4. Die expansive Phase des neoliberalen Kapitalismus (1989 – 2007)
5. Der Neoliberalismus in der Krise (seit 2007)
6. Chinas Aufstieg und der Abstieg des Westens (bis 2020)
7. Eine vierte imperialistische Epoche?
7.2 Die Klima‐Hysterie von 2019 als Vorspiel
7.3 Die Corona‐Hysterie von 2020 bis 2022
7.4 Der Dritte Weltkrieg
7.4.1 Der Ukrainische Kriegsschauplatz 2022
7.4.2 Der Wirtschaftskrieg gegen Russland
7.4.3 Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Deutschland und Europa
7.4.4. Klimalockdown und Great Reset
7.4.5. Faschismus in der Ukraine, Demokratieabbau im Westen
7.4.6. Umbruch in der Weltwirtschaft
7.4.7. Die Eskalation des Krieges
8. Exkurse zur aktuellen Imperialismusdebatte
9. Perspektiven des Sozialismus auf der Erde
Die Serie kann als Broschüre im PDF‐ und Epubformat frei heruntergeladen werden.
6. Chinas Aufstieg und der Abstieg des Westens (bis 2020)
Westliche China‐Reisende sind besonders in den Jahren ab 2007 überrascht von der unglaublich schnellen Entwicklungsdynamik und dem Zukunftsoptimismus der Menschen. Dem stehen Stagnation, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und Zerfall der Infrastruktur im Westen gegenüber. Es ist inzwischen nicht mehr zu bestreiten: Das dynamische Zentrum der Weltwirtschaft liegt in China und nicht mehr in den USA oder in Europa.
Wie in Teil 4 (Abschnitt 4.2) beschrieben wurde, verlagerten viele westliche Unternehmen in den 90er und 00er Jahren ihre Produktion nach China, um von den dortigen niedrigen Löhnen zu profitieren. Häufig gründeten sie noch nicht einmal Tochterfirmen, sondern lagerten die Produktion an Auftragsfertiger aus. So konnten sie große Investitionen in Maschinen und Gebäude vermeiden. Wegen der starken Rechte des geistigen Eigentums und ihrem Vorsprung in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Marketing konnten sie auch ohne formelles Eigentum an Produktionsmitteln einen großen Teil des in China produzierten Mehrwertes in Form von Surplusprofiten für sich vereinnahmen. Aber diese Konstellation ermöglichte es den Auftragsfertigern zumindest theoretisch, zu Markenfirmen aufzusteigen und so einen größeren Mehrwertanteil bei sich selbst zu realisieren. Die aus Taiwan stammenden Firmen Asus und Acer hatten das schon in den 00er Jahren vorgemacht.
Umgekehrt besteht die Möglichkeit, dass den westlichen Konzernen langfristig wichtiges Produktionswissen verloren geht. Dies umso eher, als ihre Substanz von Schattenbanken wie Blackrock und Private‐Equity‐Investoren (»Heuschrecken«) ausgezehrt wird. Ihre hohen Profite werden immer weniger für Forschung und Entwicklung eingesetzt, sondern an die Investoren, die wenigen hundert reichsten Menschen der Welt ausgeschüttet oder zum Rückkauf von Aktien verwendet. Hierdurch soll der Aktienwert weiter gesteigert werden.
Im Westen fahren Blackrock und Co. den Wettbewerb zwischen den ihnen gehörenden Firmen bewusst herunter, um ihre Profite zu steigern. In China dagegen wird der Wettbewerb besonders in neuen Branchen und Produktionsfeldern durch Regulierungsentscheidungen angeregt.1
Die chinesische Führung hatte schnell erkannt, dass mit der großen Weltwirtschaftskrise 2007 bis 09 das bisherige Wachstumsmodell der Exportorientierung mit Billiglohnproduktion keine Zukunft mehr hat. Denn die hochverschuldeten und ausgepowerten US‐Verbraucher konnten nun nicht mehr als globale Konsumenten der letzten Instanz fungieren, die chinesische Exporte aufsaugten.2
Also musste sich das Wirtschaftswachstum in den folgenden Jahren primär auf den Binnenmarkt stützen. Hierzu traf die Führung eine Reihe von richtungsweisenden Entscheidungen:
- Mit einem gigantischen Ausgabenprogramm in Höhe von 550 Milliarden Dollar oder 4.000 Milliarden Yuan wurden die unmittelbaren Krisenfolgen abgefangen. Das waren 14 Prozent des chinesischen BIPs. Ähnliche Programme in den USA umfassten nur 5 Prozent und in der BRD nur 2 Prozent des jeweiligen BIPs. Neben einigen direkten Zuschüssen an Arme und Arbeitslose wurden die Milliardengelder vorrangig in Infrastruktur‐Investitionen und Regionalentwicklung sowie dem energieeffizienten Umbau der Wirtschaft gelenkt. Darunter fallen der Ausbau von Eisenbahnstrecken und Autobahnen, der Ausbau der Netzinfrastruktur (Stromnetz, Internet), der Wasserbau sowie Ausbau der Gesundheits‐ und Sozialversorgung.3
- Die Mehrwertsteuer wurde nachhaltig gesenkt, besonders auf langlebige Konsumgüter wie Automobile.
- Während im Westen der Tourismus unter anderem mittels Flugscham bewusst madig gemacht wird, wurde der Tourismussektor in China massiv ausgebaut. Dazu lenkt der Staat große Investitionen in neue Ski‐ und Badegebiete.
- In den 00er Jahren war die Sparquote der chinesischen Bevölkerung sehr hoch. Da die sozialen Sicherungssysteme, bekannt als »Eiserne Reisschüssel« in den 90er Jahren abgeschafft wurden, mussten die Arbeiter sehr hohe Ersparnisse für Notfälle wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter zurücklegen. Auch das Schulgeld ihrer Kinder verteuerte sich geschwind. Da blieb vom Lohn nicht mehr viel übrig. Um den Binnenkonsum anzuregen, mussten also die sozialen Sicherungssysteme wiederhergestellt werden. Das geschah in den 10er Jahren. Inzwischen (Stand 2022) sind fast alle 1,4 Milliarden Chinesen krankenversichert, im Jahr 2017 hatten 900 Millionen Chinesen eine Rentenversicherung und etwas weniger eine Arbeitslosenversicherung. Es ist geplant, die gesamte Bevölkerung in die sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen. Schulgebühren wurden abgeschafft; der Besuch von Universitäten ist derzeit noch kostenpflichtig. In dem Maße, wie die sozialen Sicherungssysteme ausgebaut wurden, kam es zu einer nachhaltigen finanziellen Entlastung der Privathaushalte.4
Nach der von neoliberalen Ökonomen verbreiteten Theorie der »Middle Income Trap« stehe China vor einem großen Problem: Länder, die ein mittleres Einkommensniveau erreicht haben, werden hierdurch an einem weiteren Aufstieg gehindert. Denn wegen der höheren Löhne sinkt ihre globale Wettbewerbsfähigkeit. Anstatt den sich hieraus ergebenden neoliberalen Rezepten wie Lohnkürzungen, Sozialabbau, Privatisierungen und Liberalisierungen erneut zu folgen, nimmt man in China einen planmäßigen Aufstieg zur High‐Tech‐Macht in Angriff. Diesem Ziel dient das 2015 gestartete Programm Made in China 2025.
Bis 2025 will China den Sprung von der Fabrik der Welt zum Labor der Welt, vom industriellen Imitator zum technologischen Innovator schaffen. Bis zu diesem Jahr soll der Anschluss an die westlichen High‐Tech‐Standards erreicht werden, bis 2049 soll das Land zur führenden Industrie‐ und Technologie‐Supermacht aufsteigen.5
China will vor allem in den folgenden zehn Branchen aufholen und den Anschluss an die Weltspitze erreichen:
- Biomedizin und Medizintechnik
- Neue Materialien
- Landwirtschaftliche Geräte
- Luftfahrt, darunter Langstreckenflugzeuge
- Bahntechnik, Schienentransport
- Elektrofahrzeuge, vernetztes Fahren
- Marine‐Ausrüstung und High‐Tech‐Schiffe
- Informations‐ und Kommunikationstechnologie
- Automatisierung und Robotik, vernetzte Produktion
- Elektrische Anlagen, darunter auch Kerntechnik6
Neu sind auch die globalen Dimensionen des Planes. Bisher gab man sich in China mit nationalen Champions zufrieden. Jetzt will man globale Champions kreieren.
Bis 2025 sollen chinesische Hersteller folgende Marktanteile auf dem Heimatmarkt erreichen:
- Medizingeräte 70 Prozent
- Vernetztes Fahren 60 Prozent
- Energietechnik 90 Prozent
- Industrieroboter 70 Prozent
- Langstreckenflugzeuge 10 Prozent
- Handys 45 Prozent.7
Made in China 2025 ist die chinesische Version der deutschen Strategie Industrie 4.0.
Eine zentrale Rolle spielt der Einsatz von Industrierobotern. 2016 wurden 290.000 Industrieroboter ausgeliefert, davon 90.000 (31 Prozent) an China, 2019 sollten es weltweit 414.000 sein und davon 160.000 an China.8
Diesem Zweck dienen auch die staatlichen Banken, die den Staat bei seiner gut durchdachten Industriepolitik unterstützten. Im Jahr 2009 war die staatliche Industrial & Commerce Bank of China mit einer Marktkapitalisierung von 254,9 Milliarden die größte Bank der Welt. Mit der Chinese Constructions Bank (191,9 Milliarden Marktkapitalisierung) und der Bank of China (147,1 Milliarden) gehörten zwei weitere chinesische staatliche Banken zu den zehn größten Banken der Erde.
Mit staatlicher Unterstützung schafften viele chinesische Firmen den Sprung von Auftragsfertigern zu Markenfirmen. Sie waren zunächst auf den Binnenmarkt erfolgreich und konnten von dieser Basis aus durch gute Qualität bei niedrigem Preis langsam den Weltmarkt erobern. Beispiele hierfür sind: China Mobile, Tencent (Internet), Huawei (Mobilfunk), Lenovo (Computer), Xiaomei (Smartphones), Alibaba (Suchmaschine), CNR (Eisenbahnbau), sowie FAW und Dongfeng (LKWs). Hinzu kommen noch einige große Staatsunternehmen im Infrastrukturbereich wie Sinopec (Öl) und SGCC (Stromnetz).
China hält bis heute am Konzept der Globalisierung fest. Es soll sich um eine gleichberechtigte, friedliche Globalisierung in einer multipolaren Welt handeln. Das bedeutet auch, dass nicht nur ausländische Konzerne in China, sondern auch zunehmend chinesische im Ausland investierten. Die Investitionen konzentrierten sich in den 00er Jahren zunächst auf asiatische Staaten, auch auf Australien und Neuseeland, dann auf Afrika und auf die für die erweiterte Produktion notwendigen Rohstoffe. China ist – mit Ausnahme von Kohle und seltenen Erden – ein rohstoffarmes Land. Erst 2018 übertrafen die chinesischen Investitionen im Ausland die ausländischen Investitionen in China.
Im Unterschied zu westlichen Staaten macht China seine Investitions‐ und Handelsbeziehungen nicht von Freund‐Feind‐Kriterien abhängig. Die Volksrepublik entwickelt Beziehungen zu Ländern mit den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Systemen, wie zum Iran und Saudi‐Arabien, zu Israel und Palästina, zur BRD und zu Russland.9
Seit der großen Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 09 kaufte China verstärkt Unternehmen in zentralen kapitalistischen Staaten. In Europa standen zunächst Maschinenbau, Energie und Autozulieferer im Vordergrund. Dann folgten High‐Tech/IT, Pharma und Finanzdienste. Sie werden gegenwärtig ergänzt durch Biotechnologie, Medizin‐ und Umwelttechnik, Textil‐ und Logistikindustrie sowie Tourismus und Hotellerie. In jedem Land wird das Passende und Beste gesucht. Im Jahr 2016 kaufte das chinesische Unternehmen Midea den größten deutschen Roboterhersteller Kuka.10
Hauptziel der Investitionen in Deutschland ist nicht etwa die Substanzverwertung und Auszehrung der Firmen wie bei Blackrock und Co., sondern die Beschaffung von Wissen und Know‐How für die chinesischen Industriestrategie sowie die direkte Unterstützung des chinesischen Industrieaufbaus. Im Unterschied zu Blackstone und Co. bürden die chinesischen Käufer den gekauften Mittelstandsfirmen nicht die Kaufkredite auf. Die Chinesen beließen bei Kuka die bisherige Geschäftsführung im Amt, gaben langfristige Garantien für die Arbeitsplätze und eröffneten einen großen Markt in China. Deshalb sind chinesische Investoren auch bei Gewerkschaftern beliebt. Sie werden US‐Amerikanischen Schattenbanken und Heuschrecken bei weitem vorgezogen.11
Das 2014 von Präsident Xi Jinpeng gestartete Projekt der neuen Seidenstraße – auch bekannt als Belt‐and‐Road‐Initiative (BRI) oder One Belt, one Road (OBOR) – soll die Kontinente Asien, Europa und Afrika durch ein großes Netzwerk von Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken, Häfen, Pipelines, Kraftwerken, Strom‐ und Datenleitungen, Container‐Umladestationen und Terminals miteinander verbinden. Sie umfasst die Kontinente Asien, Europa und Afrika.
Die neue Seidenstraße besteht aus mehreren Wirtschaftsgürteln über den Land‐ und den Seeweg. Der Landweg besteht gegenwärtig aus den folgenden drei Güterzug‐Verbindungen:
- China‐Mongolei‐Russland
- Neue eurasische Landbrücke über die Dsungarische Pforte, Kasachstan und Russland nach Rotterdam
- China‐Zentralasien‐Westasien nach Istanbul12
Von diesen wiederum sollen weitere Nebenstrecken abzweigen. Zur maritimen Seidenstraße gehört die Route, die Chinas Ostküstenhäfen mit dem neuen und modernisierten Großhafen Piräus in Griechenland und mit dem Großhafen Rotterdam in den Niederlanden verbindet.
In Zukunft sind Ergänzungen dieser Routen möglich. Etwa die Schaffung weiterer Bahnverbindungen auf dem afrikanischen Kontinent, die diesen von Nord nach Süd (Route Kairo‐Kapstadt) und von West nach Ost (Route Dakar‐Dschibuti) erschließen.
China will mit neuentwickelten Ultrahochspannungskabeln ein transkontinentales Stromnetz aufbauen. Der Netzbetreiber SGCC hat in China bereits 37.000 Kilometer dieser Leitungen verlegt.
Idealerweise sollen die drei Kontinente Asien, Europa und Afrika mittels Eisenbahnlinien, Straßen, Schifffahrtsrouten, Datenleitungen, Stromleitungen sowie mit Gas‐ und Ölleitungen eng miteinander verflochten werden. An den durch Verkehrswege geschaffenen Entwicklungsachsen sollen zahlreiche Industriebetriebe und Kraftwerke entstehen, die eine Durchindustrialisierung der jeweiligen Länder vorantreiben.
Grafik 6.1. Auswahl der geplanten Verbindungslinien der neuen Seidenstraße13
Die Grundidee der neuen Seidenstraße geht auf langfristige Planungsvorhaben der Wirtschaftsintegration zwischen der Volkrepublik China und der Sowjetunion in 50er Jahren zurück. Es war geplant, bis 1967 einen gemeinsamen großen Wirtschaftsraum zu schaffen, wobei die chinesische Industrie von der nordchinesischen Ebene nach Westen, die sowjetische aber von Mittelasien nach Osten vorstoßen sollte. Ein zentrales Element dieser Planungen war die Trans‐Xinjiang‐Linie. Sie sollte über Urumchi nach Alma‐Ata in der Sowjetunion führen. Dazu kam es jedoch nach 1960 nicht mehr.14 Sie fiel dem sowjetisch‐chinesischen Bruch zum Opfer und wurde erst 1990 eröffnet.
Letztlich geht es um die Schaffung eines eurasischen Wirtschaftsraumes, der vom Gelben Meer bis an den Atlantik reicht. Eurasien umfasst 92 Länder mit 4,6 Milliarden Menschen und einer Wirtschaftsleistung von 50 Billionen Dollar, fast 60 Prozent des Weltsozialproduktes. Dazu kommt der afrikanische Kontinent.15
In der jetzigen Phase ist OBOR ein gigantisches Infrastrukturprojekt, von dem alle angeschlossenen Länder profitieren sollen. Das steht im Gegensatz zum Nullsummendenken des Westens, der alle anderen Regionen herabdrücken will.
Es ist zugleich ein gigantisches Wachstums‐ und Konjunkturprogramm, eine Art New Deal globalen Ausmaßes, der das Wirtschaftswachstum der beteiligten Länder, aber auch der gesamten Welt antreiben soll. China verspricht sich in diesem Zusammenhang, dass es seine nicht ausgelasteten Kapazitäten in der Stahl, Grundstoff‐ und Zementindustrie besser nutzen kann.16
Einige Projekte sind bereits fertiggestellt. Seit 2010 verkehrten bis zu 200 Eisenbahnzüge pro Woche von Zentralchina nach Duisburg. Eine neue Güterzugtrasse durch Zentralasien soll China mit Duisburg und Rotterdam in acht Tagen verbinden, statt wie bisher in 11 Tagen.
Bisher sind am Projekt 68 Staaten beteiligt. Davon kommen aus Europa und Eurasien 23, aus dem Nahen Osten und Afrika 16, aus Ost‐ und Südostasien 13 und aus Mittel‐ und Südasien 13. Weiter Staaten können hinzukommen.17
China hat bisher eine Billion Dollar in die BRI investiert, vereinbart oder geplant. Das Hauptinstrument sind öffentliche völkerrechtliche Verträge mit den jeweiligen Staaten, die den Rahmen abstecken. Chinas staatliche Banken und Fonds finanzieren dann primär öffentliche Infrastrukturen in den Partnerländern, aber sekundär auch Investitionen privater chinesischer Unternehmen in diesen Ländern. Die Zinsen sind meist niedriger als auf dem Markt verlangt würden.18
Diese hier genannten Faktoren führten zu einem Aufstieg Chinas und einen relativen Bedeutungsverlust der alten Industrieländer USA und Europa. Noch im Jahr 2000 machte die ökonomische Stärke der BRICS‐Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika nur ein Drittel derjenigen der G7 aus – gemessen am BIP nach Kaufkraftparität. Im Jahr 2016 hat die BRICS‐Gruppe in Bezug auf das BIP nach Kaufkraftparitäten19 mit den führenden kapitalistischen Industrieländern (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada) gleichgezogen.
Tabelle 6.1. Anteile von G7 und BRICS am Welt‐BIP in Prozent nach nominalem BIP und Kaufkraftparitäten 2000 und 2016.20
Im Jahr 2007 wurde China die drittgrößte Ökonomie, aber wegen der niedrigen Konsumquote von 36 Prozent erst der fünftgrößte Konsumentenmarkt nach den USA, Japan, Deutschland und Großbritannien.21
Im Jahr 2010 rückte China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde auf und verwies Japan auf Platz drei. Der Abstand zu den USA war allerdings noch groß: USA 2009 14.000 Mrd. Dollar BIP (24,6 Prozent des Welt‐BIP); China 5.000 Mrd. Dollar (8,6 Prozent).22 Im Jahr 2020 betrug das BIP Chinas 14.866,74 Milliarden Dollar, das der USA 20.893,75 Milliarden.23
Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass China im Jahr 2035 die USA eingeholt haben wird. Ein Gleichziehen mit dem BIP der USA würde allerdings bedeuten, dass das chinesische BIP vermutlich auf einer weit stärkeren industriellen Basis stünde. In den USA vollzog sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Prozess der Deindustrialisierung und der Auslagerung von industriellen Kapazitäten – zum großen Teil nach China. Die Volksrepublik hat dagegen eine sehr breitgefächerte Industrie entwickelt, was auch machtpolitisch ins Gewicht fällt.24
Nach Kaufkraftparitäten ist China bereits seit 2014 die größte Wirtschaftsmacht der Erde. Der so berechnete Anteil Chinas am Welt‐BIP betrug 2017 18,3 Prozent, der US‐Anteil 15,3 Prozent.25
In der Industrieproduktion liegt China bereits uneinholbar an der Spitze. Der Wert seiner Produktion betrug 2021 6,9 Billionen Dollar, weit vor der EU mit 3,9, den USA mit 3,8 und Japan mit 1,4 Billionen.26
Wie schon in der Zeit vor 1914 erleben etablierte Mächte, heute insbesondere die einzige Supermacht USA, einen relativen Bedeutungsverlust zugunsten von aufsteigenden Mächten mit einer größeren Dynamik.
Letzte Ursache für die größere wirtschaftliche Dynamik in China dürfte sein, dass dort aus historischen Gründen die organische Zusammensetzung des Kapitals noch geringer ist als im Westen. Das impliziert auch eine geringere Kapitalkonzentration und ‑zentralisation und demnach einen größeren Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Kapitalien.
Ökonomisch kann der Westen mit China immer weniger mithalten. Die in der großen Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 09 deutlich gewordene allgemeine Krise des westlichen Kapitalismus lässt sie nicht ohne weiteres überwinden. Andererseits ist der Westen auch nicht bereit, auf seine globale Hegemonie zu verzichten.
In den Jahren ab 1989 wurden die Menschen im Westen gezwungen, zugunsten des Freihandels große Opfer zu bringen. Alles wurde der globalen Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet. In Deutschland setzte die Rot‐Grüne Regierung Schröder zu diesem Zweck zum Beispiel die brutalen Hartz‐Gesetze durch, mit denen die Menschen unter Druck gesetzt werden, zu miserablen Bedingungen und miserabler Bezahlung Arbeit anzunehmen. Dies drückte das gesamte Lohnniveau. Als sich aber herausstellte, dass die Volksrepublik China den Standortwettbewerb gewinnen würde, gab der Westen seine Ideologie des Freihandels umstandslos auf. Sie ist nach 2007 in einer Orgie von Kriegen, Wirtschaftskonfrontationen und Sanktionen untergegangen. Freilich bedeutet das nicht, dass der Westen zu einer binnenmarktorientierten Entwicklung zurückgekehrt wäre. Ganz im Gegenteil wurde die Ausplünderung der Bevölkerung durch wenige westliche Oligarchen der Gates, Bazos und ihre Dienstleister wie Blackrock noch radikalisiert.
Die westlichen Eliten wollten China nutzen, um ihre Profite zu steigern. Dass die umfangreichen Produktionsverlagerungen nach dort zum wirtschaftlichen Aufstieg des Landes führten, haben sie weder gewollt noch vorhergesehen. Auch darin kann man nach den Worten von Werner Rügemer die profitgetriebene Selbsterblindung des US‐geführten Kapitalismus erkennen.27
Also blieb dem Westen nur die Anwendung von Gewalt übrig, um den Aufstieg Chinas zu verhindern. Im Bereich des Militärs, der Geheimdienste und Herrschaftstechniken war und ist der Westen seinen Widersachern haushoch überlegen. Aber es ist abzusehen, dass dieser Vorsprung langsam zusammenschmilzt. Also ist es für den Westen rational, möglichst bald zuzuschlagen, solange diese Vorteile noch wirksam sind.
Ein Element hierfür ist die von den USA im Jahr 2011 verkündete Strategie Pivot to Asia. Sie verlagerten ihre Streitkräfte schwerpunktmäßig von Europa weg in die Nähe von China und bereiten sich seitdem auf einen großen Krieg gegen das Land vor. Im Inselbogen von Japan bis Thailand haben sie eine ganze Stützpunktkette, einen eisernen Ring, vor das chinesische Festland gelegt.
Die erste Inselkette besteht nur aus Staaten, die mit den USA durch Militärabkommen oder Sicherheitsgarantien verbunden sind. Dies sind: Japan, Südkorea, Taiwan, Philippinen, Malaysia, Indonesien, Singapur und Thailand.
Wichtigstes Glied dieser Kette ist der US‐Verbündete Japan. Von zentraler Bedeutung ist hier der Luft‐ und Atomwaffenstützpunkt Okinawa (Kadena Air‐Base).
Vom Zugang zum Pazifik ist die chinesische Flotte nicht nur durch die innere, sondern auch durch Stützpunkte auf der äußeren Inselkette abgeschnitten. Dies sind Guam, Kwajalein, Wake, Midway und die Marshall‐Inseln.28
Von strategisch höchster Bedeutung für die Versorgungssicherheit Chinas ist die Straße von Malakka, einer der am häufigsten befahrenen Seewege. Täglich passieren etwa 2.000 Schiffe die Meerenge, etwa ein Viertel des Welthandels muss durch dieses Nadelöhr. Vor allem für China hat die Passage höchsten strategischen Wert, ist sie doch die entscheidende Lebensader für seinen Außenhandel. Allein 80 Prozent des von China importierten Öls müssen diese, teilweise nur wenige Kilometer breite Meerenge passieren.
Die USA könnten mit ihrer 5. und 3. Flotte die Straße von Malakka über Stützpunkte in Singapur und Diego Garcia problemlos blockieren. Die USA können also die Halsschlagader des Welthandels in ihren Würgegriff nehmen.29
Im Jahr 2018 starteten die USA und die EU einen Wirtschaftskrieg gegen China. US‐Präsident Trump belegte die chinesischen Konzerne Huawei und ZTE mit Sanktionen. US‐Firmen durften nun keine Mikrochips an diese Konzerne mehr liefern.
In den folgenden Jahren hagelte es in den USA und der EU Investitionskontrollen und Übernahmeverbote gegen chinesischen Firmen. Der Fall Kuka sollte sich nicht wiederholen.
Außerdem verhängten die USA im Jahr 2021 Exportverbote für das niederländische Unternehmen ASML. Es darf ab sofort keine Lithographiesysteme mehr nach China liefern, die für die Herstellung von Prozessoren in der fortschrittlichen 7‑Nanometer‐Technik benötigt werden. Da ASML ein Weltmonopol für Lithographiesysteme hat, bedeutet das, dass entsprechende Prozessoren in China nicht hergestellt werden können und das Land immer noch in der veralteten 14‐Nanometertechnik festsitzt.30
Mit diesem Wirtschaftskrieg geht es dem Westen darum, den technologischen Aufholprozess Chinas zu blockieren. Dabei nützt er geschickt die größten technologischen Schwachstellen Chinas aus. Das ist zweifellos der Bereich der Halbleiterherstellung. Dieser Prozess ist sehr aufwendig, teuer und technisch schwer zu beherrschen. Zwar hob US‐Präsident Trump die Sanktionen gegen Huawei und ZTE nach einem halben Jahr auf, aber nur unter demütigenden Bedingungen. Diese Sanktionen hatten den Charakter eines Warnschusses, mit dem China gezwungen werden sollte, sich den US‐Forderungen zu beugen.
Gegenwärtig bereitet die US‐Regierung harte Sanktionen gegen China vor, die den 2022 verhängten Russland‐Sanktionen entsprechen. Zu diesem Zweck schrieb sie alle großen Konzerne an und forderte sie auf, ihr China‐Geschäft zurückzufahren.
Als Reaktion auf die neue Seidenstraße kündigt die EU regelmäßig eine eigene Konnektivitätsstrategie mit Entwicklungsländern an. Sie lobt sich auf jedem Gipfel selbst dafür, wie viele Milliarden Euro sie für den Bau neuer Eisenbahnen, Häfen und Gasleitungen bereitstelle. Tatsächlich aber bleibt es regelmäßig bei Ankündigungen. Bei den genannten Summen handelt es sich im Unterschied zu China um Luftbuchungen. Nur in einem Bereich ist die EU hyperaktiv: Bei ihren Versuchen, die von China vorangetriebenen Seidenstraßenprojekte zu torpedieren und madig zu machen. Dabei werden routinemäßig Bedenken zu Minderheitenrechten und Umweltschutzargumente abgespult, so zum Beispiel bei der geplanten Ölpipeline von Uganda zum tansanischen Hafen Tanga am Indischen Ozean.31
In den 10er Jahren traf der Westen zum ersten Mal seit 1989 auf ernsthaften Widerstand bei seinen Regimechange‐Projekten. In Syrien hatten die USA und einige europäische Länder im Gefolge des arabischen Frühlings Islamisten der Terrororganisation Al‐Qaida bewaffnet und ausgerüstet. Sie wurden zu einer ernsthaften Gefahr für die säkulare Regierung unter Präsident Bashir Al‐Assad. Einem Regimechange wie in Libyen stand scheinbar nichts im Wege. Als US‐Präsident Obama 2013 ankündigte, bei einem möglichen Einsatz von chemischen Waffen durch Regierungstruppen militärisch intervenieren zu wollen, tauchten wie auf Bestellung kurz darauf Giftgasvorwürfe von Seiten der »gemäßigten Rebellen«, also Al‐Qaidas auf. Russland überzeugte Syrien davon, der Konvention zum Verbot von chemischen Waffen beizutreten und seine Giftgasvorräte der internationalen Gemeinschaft zu übergeben. Damit war einer US‐Intervention die Basis entzogen. Russland griff darüber hinaus ab 2015 in den syrischen Bürgerkrieg auf Seite der Regierung ein, besonders durch Luftangriffe auf die Islamisten und mit Waffenlieferungen. In der Folge konnte die Regierung die militärische Lage stabilisieren und die Kontrolle über große Teile des Landes zurückgewinnen. Aber Syrien bleibt nach wie vor im Würgegriff der brutalen westlichen Wirtschaftssanktionen.
Entgegen den Gorbatschow gegebenen Zusicherungen dehnte sich die NATO in den 90er Jahren über Osteuropa aus. In einer ersten Erweiterungsrunde wurden 1999 Polen, Tschechien und Ungarn in das Militärbündnis aufgenommen, 2004 folgten Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, 2009 Albanien und Kroatien, 2019 Montenegro und 2020 Nordmazedonien. Der Westen war und ist bestrebt, auch die Ukraine als antirussischen Vorposten in die NATO aufzunehmen.
Bereits im Jahr 1997 bezeichnete der US‐Stratege Zbigniew Brzezinski in seinem Buch Die einzige Weltmacht die Ukraine als einen geostrategischen Dreh‐ und Angelpunkt. »Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh‐ und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. […] Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.«32
Dementsprechend haben die USA bis 2014 auch 4 Milliarden Dollar in der Ukraine investiert, um prowestliche und damit faschistische Strukturen der Zivilgesellschaft zu fördern. Im Jahr 2004 orchestrierten sie die orange Revolution, in dessen Gefolge der offen prowestliche Politiker Viktor Juschtschenko an die Macht kam. Die prowestlichen Parteien verloren allerdings die Präsidentenwahlen von 2010, die Viktor Janukowitsch von der Partei der Regionen gewann. Weder Janukowitsch noch die Partei der Regionen waren prorussisch oder antiwestlich. Vielmehr befürworteten sie einen neutralen Status der Ukraine, die gleichzeitig mit Russland und der EU Handel treiben sollte. Die Partei der Regionen wurde allerdings fast ausschließlich von ethnischen Russen in den östlichen Oblasten der Ukraine gewählt.
Als Janukowitsch Ende 2013 ein von der EU oktroyiertes Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnen wollte, aktivierten die EU und die USA ihre zivilgesellschaftlichen Fußtruppen. Dieses Assoziierungsabkommen hätte der Ukraine schmerzhafte neoliberale Reformen abverlangt und sie zu einer Stilllegung von zahlreichen Industriebetrieben gezwungen, die nach Russland exportierten.
Diese Zusammenhänge waren der westukrainischen Bevölkerung aber nicht bekannt. Vielmehr dachte sie, dass sie mit einer EU‐Assoziierung den gleichen Lebensstandard wie etwa in Deutschland bekommen würde. Zugleich gab es im Land eine große Unzufriedenheit über die Bereicherung von Janukowitsch und seinem Clan.
Aus diesen Gründen errichteten zivilgesellschaftliche Aktivisten im November 2013 auf dem Maidanplatz in Kiew ein Protestcamp. Sie forderten die sofortige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen. Die Proteste wurden aber schon nach wenigen Wochen von organisierten und bestens bewaffneten Neofaschisten übernommen. Diese besetzten im Januar und Februar 2014 auch Verwaltungsstellen in der Westukraine sowie Polizeiwachen und brachen deren Waffen an sich. Damit existierte im Land eine Doppelmacht. Janukowitsch hatte die Kontrolle über große Teile des ukrainischen Territoriums verloren.
Am 20. Februar 2014 eskalierte die Situation dramatisch, als 39 Demonstranten und 17 Polizisten von Heckenschützen getötet wurden. Die Schüsse wurden vom Hotel Ukraina aus abgefeuert, das zum damaligen Zeitpunkt unter der Kontrolle des Rechten Sektors stand. Eine bewusste Provokation zum Zweck eines Regimechanges liegt nahe. Der Westen machte jedoch ohne jede Untersuchung Janukowitsch für das Massaker verantwortlich.
Am 21. Februar reisten die Außenminister Frank‐Walter Steinmeier (Deutschland), Laurent Fabius (Frankreich) und Radoslaw Sikorski (Polen) nach Kiew, um die Situation zu beruhigen. Es wurden ein Waffenstillstand, Gewaltverzicht, Untersuchung der Gewalttätigkeiten, Rückkehr zur Verfassung von 2004, Regierung der nationalen Einheit und vorgezogene Neuwahlen noch in diesem Jahr vereinbart. Die Vereinbarung unterschrieben Präsident Janu‐kowitsch und die Oppositionspolitiker Jazenjuk, Klitschko und Tjagnibok. Damit hätte die Opposition gewonnen, wenn es ihr nur um die EU‐Assoziierung gegangen wäre. Denn ein Wahlsieg der Oppositionskandidaten war zu erwarten.
Die EU wollte zwar die Ukraine als auszubeutende Halbkolonie gewinnen, aber gleichzeitig verhindern, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät. Denn damit wären ihre damals noch bedeutenden Beziehungen zu Russland beschädigt worden. Die USA betrieben aber gezielt eine solche Eskalation, um Russland zu zerstören und die EU zu schwächen. Sie standen wegen der Vereinbarung unter Handlungsdruck und aktivierten ihre Organisationen. Nachdem das ukrainische Parlament handgreiflich von Angehörigen der Partei der Regionen gesäubert worden war, erklärte es am 22. Februar Janukowitsch entgegen den Bestimmungen der Verfassung für abgesetzt. Dieser fürchtete um sein Leben und floh nach Russland. Damit war der Putsch vollzogen. Turtschinow wurde zum Präsidenten und Jazenjuk entsprechend den Wünschen der USA zum Premierminister ernannt. In der neuen Regierung hielten Neofaschisten Schlüsselpositionen in den bewaffneten Organen. Als erstes Gesetz beschloss das Putschparlament das Verbot der russischen Sprache. Die EU erkannte die Putschregierung sofort an und enthielt sich ab nun jeder Eigenmächtigkeit gegenüber den USA.
Auf diesen Putsch folgte die Sezession der Krim, die in die Russische Föderation aufgenommen wurde, bestialische Massaker in Odessa und Mariupol an ethnischen Russen durch ukrainische Faschisten im Mai und schließlich ab Juni 2014 der offene Bürgerkrieg im Osten des Landes. Der bis heute ungeklärte Abschuss des malaysischen Verkehrsflugzeugs MH17 am 17. Juli 2014, der ohne jede Untersuchung Russland angelastet wurde, brach den Widerstand der EU gegen harte Russland‐Sanktionen. Spätestens mit dem Abschuss von MH17 ist der Neue Kalte Krieg des Westens gegen Russland und China voll entbrannt.33
Führende Politiker und Oligarchen der USA blickten mit großen Sorgen auf China. Spätestens seit der großen Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 wurde ihnen klar, dass mit der Volksrepublik für die USA welthistorischer Konkurrent entstehen könnte, wie es ihn seit dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 nicht mehr gegeben hatte. Dabei ist es völlig unerheblich, ob die Volksrepublik China diese Rolle als neue Supermacht will oder nicht. Ja schlimmer noch aus ihrer Sicht: Mit der Shanghai Cooperation Organization und der Neuen Seidenstraße zeichnet sich ein Zusammenwachsen der Kontinente der Östlichen Feste also Asien, Europa und Afrika unter Chinas Führung ab. Damit entsteht möglicherweise eine Wirtschaftgemeinschaft, die weitaus stärker ist als der Westen. Wenn das passiert, haben die USA keine Chance mehr, ihre Weltdominanz aufrecht zu erhalten.
Bereits der Obama‐Administration war klar, dass diese Entwicklung nur durch einen neuen Weltkrieg aufgehalten werden kann. Dieser musste möglichst bald geführt werden, solange die Herausforderer wirtschaftlich und militärisch noch schwächer sind als die etablierten Mächte. Zu diesem Zweck starteten die USA eine neue Aufrüstungsrunde und konzentrierten ihre Streitkräfte in Ostasien, weil der Hauptschlag gegen die Volksrepublik China geführt werden sollte. Ein Krieg gegen China gilt in Kreisen des US‐Militärs schon lange aus unausweichlich.
Vorher musste allerdings noch die Situation in Europa „bereinigt“ werden. Russland war als Verbündeter Chinas und dessen Rohstoffquelle auszuschalten. Darin sahen Obama und Clinton keine großen Probleme, denn das Land galt als schwach und korrupt, als »Regionalmacht mit Tankstelle«. Nur wenn es gelänge, Russland zu beherrschen, zu zerstückeln und in den Reststaaten US‐hörige Regierungen einsetzen, konnte China von wichtigen Rohstoffen abgeschnitten und wirtschaftlich langsam erdrosselt werden. Die Vernichtung der russischen Staatlichkeit wurde als Vorbedingung für einen Sieg im Krieg gegen China angesehen.
Über die Ukraine und Syrien wurden im Westen Elefantendosen von Propaganda verbreitet, die das wirkliche Geschehen auf den Kopf stellten. Wer erinnert sich nicht an die herzzerreißenden Stories über die syrischen Weißhelme und das siebenjährige Twittermädchen Bana Alabad, das im besten Englisch Präsident Obama anflehte, den Dritten Weltkrieg zu beginnen? Diese Propaganda muss Milliarden gekostet haben.
Die USA waren vor 2016 wohl eher geneigt, die syrische Option zu ziehen. Eine Flugverbotszone als Reaktion auf eine bestellte Giftgasprovokation durch Islamisten sollte die unmittelbare Konfrontation mit Russland erzwingen, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Nuklearkrieg eskaliert wäre. Um diese Flugverbotszone durchzusetzen, müssen als erstes alle Luftverteidigungseinrichtungen ausgeschaltet werden. Russland hat aber die Luftverteidigung in Syrien durch Stationierung der Luftabwehrsysteme S‑300 und S‑400 übernommen. Die Einrichtung einer Flugverbotszone hätte also zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland geführt. Die USA wähnten sich jedoch aufgrund ihrer überragenden Raketenabwehr sicher. Russische Hyperschallwaffen gab es 2016 noch nicht.
Hillary Clinton war von den globalen Eliten als Kriegspräsidentin vorgesehen. Sie wäre bereit und in der Lage, die härtesten Maßnahmen gegen Russland durchzusetzen. Im Jahr 2016 herrschte fiebrige Vorkriegsstimmung. Die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz glaubten, dass dies die letzte Konferenz in Friedenszeiten sein würde. Hillary Clinton forderte bereits 2015 als Außenministerin und im Präsidentschaftswahlkampf 2016 eine Flugverbotszone über Syrien.34 Über ihr Handeln als Präsidentin konnten also keine Zweifel aufkommen. Dann aber passierte etwas völlig Unerwartetes: Nicht sie, sondern ihr Herausforderer Donald Trump wurde zum US‐Präsidenten gewählt. Vielleicht gerade wegen Clintons offen zur Schau getragenen Kriegsgeilheit.
Insofern ist es kein Wunder, dass die maßgeblichen Kapitalfraktionen vor Wut schäumten und die Schuld an diesem Wahlsieg Russland zugeschoben haben. Die Wahl von Trump hatte auf jeden Fall Auswirkungen, die immer noch nicht vollständig verstanden sind.
Russland nutzte die vier Trump‐Jahre zu einer massiven Aufrüstung, auch mit Hyperschallwaffen, gegen die sogar die hochentwickelte US‐Raketenabwehr noch nichts ausrichten kann. Auch China ist inzwischen militärisch besser aufgestellt, während sich die ökonomische Krise des Westens weiter zuspitzte.
Ein direkter Angriff auf Russland ist für die USA nun viel riskanter geworden. Das von Hillary Clinton favorisierte syrische Szenario ist nicht mehr möglich; auch deshalb nicht, weil die Islamisten inzwischen besiegt dort worden sind. Deshalb rückte nach dem Wahlsieg von Joe Biden 2020 die Ukraine erneut in den Fokus der US‐Politik.
Unter Trump war ein Großkrieg gegen Russland und China keine Option. Deshalb wurden offenbar andere Methoden zur Überwindung der allgemeinen Krise des Kapitalismus für die Oligarchen umso wichtiger. Es ist schon auffällig, dass Klimahysterie und die Pandemievorbereitungen nach der Wahl von Trump intensiviert wurden. Erst 2017 leisteten die Oligarchen in großem Umfang Zahlungen an diverse NGOs zur Vorbereitung auf eine »mögliche« Pandemie (siehe dazu den Abschnitt zur Corona‐Hysterie).
Verweise
1 Wolfram Elsner: Das chinesische Jahrhundert, Frankfurt am Main 2020, S. 115ff
2 Auch die Industrie der BRD produzierte hauptsächlich für den Export. Aber hier wurde bereits eine öffentliche Diskussion über dieses Problem unterbunden.
3 Vgl. Fred Schmid: China – Krise als Chance?, isw‐Report 83/84, 2010, S. 5
4 Vgl. Jan Müller: Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008) – Artikelserie zu China Teil XII, Magma 02.05.2022, im Internet: https://magma-magazin.su/2022/05/janmueller/kleiner-wohlstand-und-neue-seidenstrasse-ab-2008-artikelserie-zu-china-teil-xii/, abgerufen am 14.10.2022
5 Vgl. Fred Schmid: China im globalen Kapitalismus, in: Krise des Globalen Kapitalismus und jetzt wohin?, isw‐Report 109, München 2017, S. 29.
6 Vgl. Schmid 2017, S. 29.
7 Vgl. Fred Schmid: Trumps Wirtschaftskrieg gegen China, in: Globaler Wirtschaftskrieg, isw‐Report 115, München 2018, S. 50.
8 Vgl. Schmid 2018, S. 50.
9 Vgl. Rügemer 2020, S. 309
10 Vgl. Rügemer 2020, S. 301ff
11 Vgl. Rügemer 2020, S. 304ff
12 Vgl. Rügemer 2020, S. 315
13 China Belt Road Initiative Landkarte Projekte 2018, im Internet: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:China_Belt_Road_Initiative_Landkarte_Projekte_2018.jpg, Urheber: Appenzeller/Hecher/Sack, CC‐BY‐SA, abgerufen am 14.10.2022.
14 Vgl. Peter Schöller /Heiner Dürr /Eckart Dege: Ostasien, Fischer Länderkunde, Band 1, Frankfurt am Main 1978, S. 150
15 Vgl. Schmid 2017, S. 33
16 Vgl. Schmid 2017, S. 33
17 Vgl. Rügemer 2020, S. 315
18 Vgl. Rügemer 2020, S. 315 und Elsner 2020, S. 274.
19 „Kaufkraftparität zwischen zwei geographischen Räumen im selben Währungsraum liegt dann vor, wenn Waren und Dienstleistungen eines Warenkorbes für gleich hohe Geldbeträge erworben werden können.“ Vgl. Wikipedia‐Artikel Kaufkraftparität, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Kaufkraftparit ProzentC3 ProzentA4t, abgerufen am 14.10.2022
20 Schmid 017, S. 41
21 Vgl. Schmid 2010, S. 22
22 Vgl. Schmid 2010, S. 3
23 Statista.de: Ranking der 20 Länder mit dem größten Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2020, im Internet: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157841/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-bruttoinlandsprodukt/, abgerufen am 30.03.2022
24 Vgl. Schmid 2010, S. 34.
25 Vgl. Schmid 2018, S. 28.
26 Wikipedia‐Artikel Liste der Länder nach Industrieproduktion, im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L ProzentC3 ProzentA4nder_nach_Industrieproduktion, abgerufen am 14.10.2022
27 Vgl. Rügemer 2020, S. 293
28 Vgl. Schmid 2010, S. 51.
29 Vgl. Schmid 2010, S. 52.
30 Heise News: Halbleiterfertigung: TSMC hat eine Milliarde 7‑Nanometer‐Chips produziert, 21.08.2020, im Internet: https://www.heise.de/news/Halbleiterfertigung-TSMC-hat-1-Milliarde-7-Nanometer-Chips-produziert-4875572.html, Heise News: Chinesischer Chiphersteller HSMC schließt endgültig, 01.03.2021, im Internet:https://www.heise.de/news/Chinesischer-Chiphersteller-HSMC-schliesst-endgueltig-5067551.html, Heise News: Chipauftragsfertiger im Goldrausch: Milliardenplus bei Halbleiterherstellern , 14.03.2022, https://www.heise.de/news/Milliardenplus-bei-Halbleiterherstellern-Chipauftragsfertigung-im-Goldrausch-6549085.html, Heise News: Wie der Westen Russland mit Tech‐Sanktionen schwächen will, 15.03.2022, https://www.heise.de/news/Wie-der-Westen-Russland-mit-Tech-Sanktionen-schwaechen-will-6540227.html, Abruf aller Texte am 14.10.2022.
31 Kolonialmacht 2.0: EU will Uganda und Tansania Bau einer Ölpipeline verbieten, RT, 02.10.2022, im Internet: https://test.rtde.tech/international/150024-kolonialmacht-eu-uganda-tansania/, abgerufen am 14.10.2022
32 Brzezinski 2001, S. 74f
33 Vgl. Kees van der Pijl: Der Abschuss, Köln 2018, S. 142ff
Danke dir!
Gute Analyse.
… Bis vielleicht auf: »Letzte Ursache für die größere wirtschaftliche Dynamik in China dürfte sein, dass dort aus historischen Gründen die organische Zusammensetzung des Kapitals noch geringer ist als im Westen.« – Den wenigsten Ländern nützt eine niedrigere organische Zusammensetzung etwas. »Letzte Ursache« scheint mir eher die Verbindung produktive Staatswirtschaft /Kapitalismus zu sein, Kapitalbildung unter Staatskontrolle, dadurch ermöglichte diversifizierte Produktion & Entwicklung. Halbsozialismus.