Dies ist der sechzehnte Teil einer mehrteiligen Serie von Jan Müller zur aktuellen Imperialismusdebatte in der kommunistischen Bewegung. Sie beinhaltet folgendene Teile:
1. Einleitung & Marxsche Methode
2. Klassischer Imperialismus (1895 – 1945)
3. Der Spätkapitalismus (1945 – 1989)
4. Die expansive Phase des neoliberalen Kapitalismus (1989 – 2007)
5. Der Neoliberalismus in der Krise (seit 2007)
6. Chinas Aufstieg und der Abstieg des Westens (bis 2020)
7. Eine vierte imperialistische Epoche?
7.2 Die Klima‐Hysterie von 2019 als Vorspiel
7.3 Die Corona‐Hysterie von 2020 bis 2022
7.4 Der Dritte Weltkrieg
7.4.1 Der Ukrainische Kriegsschauplatz 2022
7.4.2 Der Wirtschaftskrieg gegen Russland
7.4.3 Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Deutschland und Europa
7.4.4. Klimalockdown und Great Reset
7.4.5. Faschismus in der Ukraine, Demokratieabbau im Westen
7.4.6. Umbruch in der Weltwirtschaft
7.4.7. Die Eskalation des Krieges
8. Exkurse zur aktuellen Imperialismusdebatte
9. Perspektiven des Sozialismus auf der Erde
Die Serie kann als Broschüre im PDF‐ und Epubformat frei heruntergeladen werden.
Imperialismus und Great Reset Teil 8: Zur aktuellen Ultra‐ und Imperialismusdebatte
8.1 Exkurs 1: Die Diskussion um den Charakter Russlands innerhalb der KO
Innerhalb der Kommunistischen Organisation KO, einer kleinen kommunistischen Gruppe, kam es anlässlich des Russland‐Ukraine‐Krieges zu Diskussionen um den Charakter Russlands und des Imperialismus allgemein, die Anlass dieser Artikelserie waren.
Eine Richtung, vertreten durch Thanasis Spanidis und international durch die KKE behauptet, es handele sich beim Krieg in der Ukraine um einen rein imperialistischen Krieg, der von beiden Seiten zugunsten von Kapitalinteressen geführt werde. Die andere Strömung geht davon aus, dass Russland einen gerechten Verteidigungskrieg führe.
Spanidis und Co. vertreten die These, dass sich das Monopolkapital in allen Ländern durchgesetzt habe und sie demnach alle als imperialistisch zu bezeichnen seien. Eine besondere Qualität der Kapitalkonzentration durch Schattenbanken wie Blackrock sieht er nicht. Ihre Macht würde überschätzt, schreibt er:
Die letztendliche Verfügungsgewalt liegt nicht bei BlackRock, sondern einerseits bei den Eigentümern dieses Kapitals, an die auch der absolute Großteil der Renditen zurückfließt und andrerseits bei institutionellen Anlegern und Banken, die das bereits gesammelte Kapital über BlackRock anlegen. Eigentümer bleiben weiterhin Menschen mit Namen und Adressen (auch wenn diese aufgrund der Geheimnistuerei eines Teils der Kapitalistenklasse nicht immer in Erfahrung zu bringen sind). Es sind also in der Regel nicht anonyme, unpersönliche Institutionen, die sich den gewaltigen, von der globalen Arbeiterklasse produzierten Reichtum aneignen, sondern die Millionäre, Multimillionäre und Milliardäre dieser Welt.[1]
Sicherlich ist Blackrock nur ein Dienstleister für die wenigen Multimilliardäre wie Gates und Bezos. Das ändert aber nichts daran, dass die Schattenbanken durch verschiedene Mechanismen, die in Teil 5 dieser Artikelserie beschrieben wurden, einen beträchtlichen Einfluss auf die Weltwirtschaft erlangt haben. Dies vor allem durch Blackrocks Supercomputer Aladdin, den Besitz von Ratingagenturen und extrem zahlreiche Aufsichtsratsmandate. Sie laufen alle darauf hinaus, den Wettbewerb zwischen den Firmen herunterzufahren und durch hohe Gewinnerwartungen ihre Substanz auszuzehren. Diese Praktiken sind Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus und verschärfen sie weiter.
Spanadis wendet sich scharf gegen die Theorie, dass die Bourgeoisien außerhalb der alten imperialistischen Führungsmächte (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich) Kompradorenbourgeoisien seien. Dass sie eine rein abhängige Position innehaben und lediglich als Sachwalter und Vermittler der Monopole der USA agieren und damit die Abhängigkeit dieser Länder aufrecht erhalten. Von einer Kompradorenbourgeoisie könne man nur sprechen, wenn deren Tätigkeit ausschließlich auf Vermittlungsdienste für ausländisches Kapital beschränkt sei. Das ist bei der russischen Bourgeoisie nicht der Fall. Daran ändere auch deren Kapitalflucht nichts. Denn auch das in Finanzoasen angelegte Kapital der russischen Bourgeoisie nahm bis 2022 an der globalen Verteilung von Mehrwert teil.[2]
Daraus folgt für ihn und zahlreiche kommunistische Parteien, dass in der Ukraine ein innerimperialistischer Krieg zwischen Russland und dem Westen stattfinde, der um die Kontrolle von Märkten, Rohstoffen und Transportnetzen des Landes geführt wird.[3] Implizit erwarten diese Parteien analog zu den Ereignissen des Jahres 1917, dass Russland erneut das schwächste Kettenglied in diesem Krieg ist und deshalb die dortige Bourgeoisie durch eine Revolution gestürzt wird. Da die KPRF keine Anstalten dazu macht, wird sie als revisionistisch geschmäht und aus der Gemeinschaft der kommunistischen Parteien ausgeschlossen, der Kontakt zu ihr abgebrochen.
Das Hauptproblem bei dieser Debatte ist, dass ihre Teilnehmer sich ausschließlich auf Lenins Imperialismusschrift beziehen und neuere marxistische Literatur nach 1945 schlankweg nicht zur Kenntnis nehmen, von den aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Great Reset ganz abgesehen.
Im Zeitalter des klassischen Imperialismus waren die Märkte der einzelnen Staaten durch hohe Zollmauern voneinander abgeschottet. Eine Markterweiterung konnte nur gewaltsam erfolgen. Deshalb kam es in dieser Zeit zu zwei Weltkriegen, die um die Neuaufteilung der Welt geführt wurden.
Bereits im Spätkapitalismus erlangten die USA im kapitalistischen Teil der Welt eine absolute Hegemonie. Im Prinzip konnte das Kapital jedes imperialistischen Landes in jedem anderen imperialistischen Land investieren. Kriege um die Neuaufteilung von Märkten waren nun nicht mehr erforderlich. Stattdessen kam es im Kalten Krieg zu einer schroffen Konfrontation der »Freien Welt« als ganzer gegen die Welt des Sozialismus.
Surplusprofite wurden vor allem durch technologische Renten realisiert, die dann anfallen, wenn ein Betrieb ein technologisch fortschrittliches Produkt als erster auf den Markt bringt und deshalb eine Zeitlang den Preis dieses Produktes weit über seinem Wert festlegen kann. An dieser Konstellation änderte sich auch im Neoliberalismus nichts. Ganz im Gegenteil fächerte sich die Firmenhierarchie weiter auf. An der Spitze standen jetzt Hightech‐Firmen wie Microsoft und Intel, die nicht nur technologische Renten realisieren konnten, sondern in der Lage waren, Standards für ganze Branchen zu setzen. Dadurch konnten sie sich noch größere Mehrwertanteile anderer Kapitalien aneignen. An eine ernsthafte Konkurrenz in diesem Feld können ohnehin nur Firmen aus den USA und China denken.
Russland fällt weit hinter diese Länder zurück und hat als Hightech‐Produkte nur Kerntechnik und Waffen im Angebot. Beide Bereiche werden von Staatsbetrieben dominiert. Hinzu kommt der Rohstoffexport, der sich ebenfalls zu einem großen Teil in staatlicher Hand befindet. Russland hat demnach gerade als kapitalistische Macht Interesse an einem freien Welthandel und wird von den Sanktionen schwer getroffen. Im Vergleich dazu sind die Vorteile Russlands bei der Eroberung von Märkten, Rohstoffen und Transportnetzen in der Ukraine minimal. Rohstoffe wie Steinkohle hat Russland selbst genug. Die ganze ukrainische Infrastruktur wurde seit 30 Jahren heruntergewirtschaftet und müsste mit Milliardenbeträgen (in Dollar!) modernisiert werden. Von den unglaublichen Kriegszerstörungen gar nicht zu sprechen. Da der Westen seine Sanktionen dauerhaft aufrecht erhalten will, ist die auf Europa gerichtete Transportinfrastruktur wie Gasleitungen ohnehin wertlos.
Die Frage, ob Russland nach Lenins Kriterien auch ein imperialistisches Land ist, kann zwar bejahrt werden. Denn auch in Russland gibt es große produktions‐ und marktbeherrschende Unternehmen.[4] Das ist nicht zuletzt ein Erbe des Sozialismus als höherer Gesellschaftsformation. Aber mit dieser Feststellung allein kann die aktuelle Stellung Russlands im kapitalistischen Weltsystem nicht ausreichend beschrieben werden.
Arnold Schölzel hat in einem Artikel der jungen Welt zu Recht darauf hingewiesen, dass Lenin nicht ausgeschlossen hat, dass es auch im imperialistischen Zeitalter noch nationale Befreiungskriege geben kann.[5] Russland wurde zwar vom Westen solange provoziert, bis es in der Ukraine als erster angegriffen hat. Dennoch wollte gerade der Westen den Krieg und hat alle Verständigungsversuche Russlands (Minsk 2, Sicherheitsgarantien) zurückgewiesen. Kriegsziele des Westens sind die Zerstörung der russischen Staatlichkeit und die Aneignung seiner Rohstoffe. Trotzdem wird Russland nur als Schild und Schwert Chinas angegriffen, das der Westen schon längst als Hauptgegner ausgemacht hat. Nur wenn Russland besiegt und seine Staatlichkeit beseitigt ist, hat der Westen bei seinem Krieg gegen China ernsthafte Chancen. Russland stand bei diesen Plänen einfach im Weg.
Auch der Zweite Weltkrieg war zumindest in Teilen ein imperialistischer Krieg zwischen dem deutschen und dem angelsächsischen Imperialismus. Dennoch zweifelte damals die kommunistische Weltbewegung nicht daran, dass es angesichts der monströsen Pläne des deutschen Imperialismus legitim war, sich mit seinen kapitalistischen Gegnern zu verbünden, um diese Pläne scheitern zu lassen.
Zudem ist gegenwärtig nicht Russland, sondern EU‐Europa das schwächste Kettenglied, zumindest was den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft angeht. Die Gegensätze zwischen arm und reich sind in der EU schroffer als in Russland und demnach werden politischen Freiheiten immer stärker abgebaut. Gerade weil die Menschen als Folgen von Great Reset und Krieg rasch verarmen, nehmen die europäischen Länder Kurs auf eine Diktatur. Deshalb wäre eine soziale Revolution eher hier als in Russland zu erwarten, aber auf eine solche Entwicklung ist keine Gruppe in der Gesellschaft vorbereitet, auch die Kommunistische Organisation nicht, die es nach der Spaltung über eben diese Frage zweimal gibt.
8.2 Exkurs 2: T. Mohrs Theorie des Ultraimperialismus
T. Mohr kommt in seinem Artikel »Imperialism Today is Conspiracy Praxis« vom 24.09.2022, erschienen in der MagMa[6] in vielen Bereichen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie diese Serie. Allerdings geht er davon aus, dass sich die Kapitalisten aller Länder – einschließlich Chinas – zusammengefunden haben, um die Menschen gemeinsam auszubeuten und zu unterdrücken. Es handelt sich damit um eine extreme Form der Ultraimperialismustheorie.
Wie sich aber aus der Darstellung des Teils 6 dieser Serie ergibt, sind die Projekte des US‐Amerikanischen und des chinesischen Kapitalismus unvereinbar. Die westlichen Oligarchen sind mit dem Problem konfrontiert, dass in ihrem Bereich die kapitalistische Ausbeutung einfach nicht mehr funktioniert. Sie wollen zu einer neuen Produktionsweise vorstoßen und große Teile der Menschheit ausrotten, da sie schlicht und einfach nicht mehr als Ausbeutungsobjekt benötigt werden.
Der chinesische Kapitalismus strebt eine »normale« kapitalistische Ausbeutung nicht nur der eigenen Bevölkerung an, sondern auch eine Industrialisierung der Entwicklungsländer auf kapitalistischer Grundlage. Da in China die organische Zusammensetzung des Kapitals noch niedriger ist als im Westen, funktioniert hier der Kapitalismus auch noch besser. Die Wohlstandssteigerung der Chinesen ist Augenblick noch eine Vorbedingung für die weitere kapitalistische Entwicklung des Landes.
Die Verhältnisse zwischen den beiden kapitalistischen Zentren sind komplex: Gerade weil die ökonomische Situation des westlichen Kapitalismus so verzweifelt ist und seine Pläne so monströs, muss er China und Russland niederringen, koste es, was es wolle. Einen Raum für Kompromisse gibt es aus seiner Sicht nicht.
Die chinesischen Kapitalisten wissen, dass sie die mit Nuklearwaffen gespickten USA nicht militärisch besiegen können. Sie streben deshalb an, das unberechenbare Monstrum USA soweit es nur irgend geht zu beschwichtigen und Kompromisse zu schließen. Allerdings gibt es bestimmte Grundkonstanten, die sie nicht aufgeben können. Darunter befinden sich die Möglichkeit zum technologischen Aufstieg, die Wohlstandssteigerung der chinesischen Bevölkerung, die neue Seidenstraße und der Handel mit Entwicklungsländern.
Kompromissmöglichkeiten dürften bei der Abgrenzung von Einflusssphären existieren. Die chinesischen Kapitalisten dürften bereit sein, den USA einen exklusiven Wirtschaftsraum in Europa, vielleicht auch noch in der Pazifikregion zuzugestehen. Auch wenn es bedeutet, die chinesischen Investitionen dort abschreiben zu müssen.
Noch etwas kommt hinzu: China ist erst in den letzten Jahren zur Großmacht aufgestiegen und hat sich dabei sehr stark an den Vorgaben des Westens orientiert. Es erfolgte eine starke inhaltliche Anlehnung an den neoliberalen Kapitalismus, an seine Wege, Methoden und in bestimmtem Maße sogar an das Ziel der Produktion, so Helmut Peters.[7]
Um dem Westen eine möglichst geringe Flanke für seine Angriffe zu bieten, beachtet China peinlichst genau jede Vorgabe der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, darunter natürlich auch der World Health Organization WHO. Diese aber ist schon seit Jahrzehnten von Bill Gates und seiner Bill and Melinda Gates Foundation gekapert worden. Da – aus welchem Grund auch immer – das Corona‐Virus SARS‐CoV2 zuerst in China entdeckt wurde, führte auch China die von der WHO verlangten drakonischen Maßnahmen durch. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass es mit ihnen die gleichen Absichten verfolgt wie der Westen. Es bedeutet auch nicht, dass chinesische Kapitalisten in eine Verschwörung zur Niederhaltung und Ausrottung der Menschheit verwickelt sind. Thomas Röper konnte jedenfalls keine Belege für diese These finden (siehe Abschnitt 6.3).
T. Mohr schreibt:
It is thus entirely fitting that the slogan of the highest point of human liberation, the moment when communism was most nearly achieved by the most progressive vanguard of humanity, the Great Proletarian Cultural Revolution, was and is the slogan of imperialist finance capital: politics in command of the economy.[8]
Meines Wissens strebte Mao Tse‐tung nicht während der Kulturrevolution, sondern während des Großen Sprunges nach Vorne 1958 an, den Kommunismus in kürzester Frist einzuführen. Solche Vorstellungen waren aber von Anfang an illusorisch. Der Kommunismus kann nur auf der Basis einer hochentwickelten sehr produktiven Wirtschaft, nicht aber in einem armen Agrarland errichtet werden. Ein solches war aber die Volksrepublik China sowohl in den 50er als auch noch in den 70er‐Jahren.
Erst heute bestünde auch in China die Möglichkeit, zum Kommunismus überzugehen. Noch funktioniert – im Unterschied zum Westen – der Kapitalismus in China. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass er dort auch notwendig ist.
In den 50er Jahren wollte Mao Tse‐tung mit einem großen Sprung den Kommunismus erreichen. Das war von Anfang an ein irreales Unterfangen. Heute dagegen bestehen hierzu alle materiellen Möglichkeiten, aber die Führung der KPCh setzt auf eine kapitalistische Expansion und hat zu diesem Zweck eine einheimische Kapitalistenklasse herangezüchtet, die mehr und mehr die chinesische Politik bestimmt.
[1] Vgl. Spanidis, 05.11.2022, a.a.O.
[2] Vgl. Spanidis, 05.11.2022, a.a.O.
[3] Vgl. Joint Statement: »Nein zum imperialistischen Krieg in der Ukraine!«, Punkt 2, 25.07.2022, KO, im Internet: https://kommunistische.org/dossier/js-nein-zum-imperialistischen-krieg-in-der-ukraine/, abgerufen am 26.02.2023
[4] Vgl. Arnold Schölzl: Die »Imperialismus«-Inflation, 06.07.2022, jW, im Internet: https://www.jungewelt.de//artikel/429908.russlands-krieg-die-imperialismus-inflation.html, abgerufen am 26.03.2023
[5] Vgl. Schölzl, 06.07.2022, a.a.O.
[6] Vgl. T. Mohr: Imperialism Today is Conspiracy Praxis, 22.09.2022, Magma, im Internet, https://magma-magazin.su/2022/09/t‑mohr/imperialism-today-is-conspiracy-praxis/, abgerufen am 09.03.2023
[7] Vgl. Helmut Peters: Die Volksrepublik China aus dem Mittelalter zum Sozialismus – Auf der Suche nach der Furt, Essen 2009, S. 486
[8] T. Mohr 24.09.2022, a.a.O.
Titelbild: Diskussion auf dem Imperialismuskongress der Kommunistischen Organisation u.a. mit Hannes Hofbauer (Mitte).