Imperialismus und Great Reset: Einleitung & Marxsche Methode (Teil 1)

Lesezeit17 min

Dies ist der Auftakt einer mehrteiligen Serie von Jan Müller zur aktuellen Imperialismusdebatte in der kommunistischen Bewegung. Sie beinhaltet folgendene Teile:

1. Einleitung & Marxsche Methode

2. Klassischer Imperialismus (1895 – 1945)

3. Der Spätkapitalismus (1945 – 1989)

4. Die expansive Phase des neoliberalen Kapitalismus (1989 – 2007)

5. Der Neoliberalismus in der Krise (seit 2007)

6. Chinas Aufstieg und der Abstieg des Westens (bis 2020)

7. Eine vierte imperialistische Epoche?

7.1 Der Great Reset

7.2 Die Klima‐​Hysterie von 2019 als Vorspiel

7.3 Die Corona‐​Hysterie von 2020 bis 2022

7.4 Der Dritte Weltkrieg

7.4.1 Der Ukrainische Kriegsschauplatz 2022

7.4.2 Der Wirtschaftskrieg gegen Russland

7.4.3 Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Deutschland und Europa

7.4.4. Klimalockdown und Great Reset

7.4.5. Faschismus in der Ukraine, Demokratieabbau im Westen

7.4.6. Umbruch in der Weltwirtschaft

7.4.7. Die Eskalation des Krieges

8. Exkurse zur aktuellen Imperialismusdebatte

9. Perspektiven des Sozialismus auf der Erde

Die Serie kann als Broschüre im PDF‐ und Epubformat frei heruntergeladen werden.

Einleitung & Marxsche Methode

1.1 Einleitung in die aktuelle Imperialismusdebatte

Der Ukrainekrieg wirft grundlegende Fragen zum aktuellen Wirken des Imperialismus auf. Einige kommunistische Parteien wie die Kommunistische Partei Griechenlands KKE betrachten diesen Krieg als einen Krieg zwischen zwei gleichermaßen imperialistischen Mächten, wenn sie schreiben:

Die Entscheidung der Russischen Föderation, zunächst die ›Unabhängigkeit‹ der sogenannten ›Volksrepubliken‹ im Donbass anzuerkennen und dann unter dem Vorwand der ›Selbstverteidigung‹ Russlands, der ›Entmilitarisierung‹ und ›Entnazifizierung‹ der Ukraine zu einer Militärintervention überzugehen, diente nicht dem Schutz des Volkes in der Region oder dem Frieden, sondern den Interessen der russischen Monopole auf ukrainischem Territorium, und ihrer erbitterten Konkurrenz mit den westlichen Monopolen.1

De facto stellt sich die KKE damit auf die Seite des Westens, da sie Russland als Aggressor brandmarkt. Ähnlich argumentierten einige Referenten und vor allem viele jugendliche Teilnehmer des von der Kommunistischen Organisation KO im September 2022 organisierten Imperialismuskongresses.2 Bei manchen Wortmeldungen aus dem Publikum scheint teilweise gar die Bereitschaft durch, etwas zugespitzt ausgedrückt, sich zusammen mit der Bundesregierung auf einen neuen Russlandfeldzug zu begeben.

Wie konnte es dazu kommen? Diese Art von »Analysen« belegt jedenfalls den allgemeinen Verfall des marxistischen Denkens. Viele »Marxisten« versuchen die Erkenntnisse aus Lenins Imperialismusschrift mehr intuitiv als wissenschaftlich auf die heutige Zeit zu übertragen. Neuere marxistische Literatur wird schlankweg nicht zur Kenntnis genommen.

Ein weiteres Problem ist die große Mediengläubigkeit der heutigen Jugend. Die offiziellen Narrative zum CO2 und zu Corona werden überhaupt nicht in Frage gestellt. Auch die Mediennarrative zu China und Russland werden zu einem großen Teil geschluckt und allerhöchstens in eine pseudomarxistische Diktion übersetzt. Die Medien würden im Großen und Ganzen die Wahrheit berichten und allenfalls in ihrer Kommentierung eine politische Tendenz erkennen lassen, heißt es. Bereits der Begriff »Mainstreammedien« ist verpönt.

Medien und Regierung haben mit dem Verdikt Verschwörungstheorie richtiggehende Diskursverbote über viele entscheidende Ereignisse der Zeitgeschichte verhängt, darunter zu 9/​11, MH17, zum Great Reset, zum CO2, zu Corona und zu Oligarchen wie Bill Gates im Allgemeinen. Diese werden zum Beispiel von der KO nicht selten brav akzeptiert. Kein Wunder, dass sie zu falschen Schlussfolgerungen gelangt.

Insbesondere wird die sich abzeichnende neueste Phase des Imperialismus, die von den westlichen Oligarchen unter dem Schlagwort »Great Reset« propagiert wird, von diesen komplett ignoriert. Einerseits ist das wegen der grenzenlosen Mediengläubigkeit heutiger Kommunisten verständlich. Es ist aber auch fatal, da die von Klaus Schwab und Co. unverfroren und offen ausgesprochen monströsen Pläne ein ganz anderes Licht sowohl auf die Corona‐​Hysterie wie den Ukrainekrieg werfen. Daraus ergibt sich, dass die Lektüre von Lenins Imperialismusschrift allein nicht ausreichend ist, um den heutigen Imperialismus zu verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint auch der Ukrainekrieg in einem ganz anderen Licht, als das obige Zitat der KKE behauptet.

Der folgende Text geht anders vor. Unter Hinzuziehung von marxistischer und bürgerlicher Literatur werden die Perioden von 1895 bis 1945, 1945 bis 1989, 1989 bis 2020 und die sich seit 2020 abzeichnende vierte Phase als spezifische Epochen des Imperialismus verstanden mit spezifischen ökonomischen, sozialen, politischen und militärischen Gesetzmäßigkeiten.

In Anbetracht der schon erwähnten, die heutige Debatte kennzeichnenden Wissensdefizite soll zunächst auf einige Grundlagen der Marxschen Methode eingegangen werden.

1.2 Die Marxsche Methode

1.2.1 Das Verhältnis von Bewegungsgesetzen und Geschichte des Kapitals nach Mandel

Zum Verständnis des Folgenden ist es wichtig sich die wichtigsten Merkmale der marxschen Methode zu vergegenwärtigen. Bekanntlich sind die von Marx entdeckten Entwicklungsgesetze des Kapitalismus das Ergebnis einer vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigenden dialektischen Analyse.3

Allerdings kann die marxsche Methode nicht hierauf reduziert werden, denn:

  • das Konkrete bildet sowohl den Ausgangspunkt wie auch das Ziel des Erkenntnisprozesses, der als »Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens« aktiv gefasst wird

  • dem Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten ist im Verlauf der Untersuchung ein Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten voraus gegangen, denn das Abstrakte selbst ist bereits Ergebnis analytischer Arbeit

  • es existiert eine Einheit zwischen beiden Prozessen, zwischen dem analytischen und dem synthetischen

  • die gelungene Reproduktion der konkreten Totalität kann nur durch ihre praktische Anwendung beweiskräftig werden, das heißt bei jedem Schritt der Analyse muss die Kontrolle durch die Tatsachen beziehungsweise durch die Praxis stattfinden4

Demnach impliziert die Marxsche Dialektik eine zweifache Analyse, eine deduktive und eine induktive, eine logische und eine historische.5

Nach Marx ist Wissenschaft deshalb notwendig, weil Wesen und Erscheinung nicht unmittelbar zusammenfallen. Allerdings ist ihre Aufgabe nicht nur das Aufdecken des Wesens der Erscheinungen, sondern auch die Erklärung der Erscheinungen selbst durch die Darstellung der vermittelnden Zwischenglieder. Gelingt dies nicht, so reduziert sich die Theorie auf die Konstruktion abstrakter Modelle.

Die empirische Aneignung des Stoffes ist dem analytischen Erkenntnisprozess vorgelagert, genauso wie die empirische Verifizierung ihn vorläufig abschließt.6

Karl Marx stellt fest:

Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechen dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoff ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.7

Idealerweise sollte der Arbeitsprozess bei Anwendung der Marxschen dialektischen Methode nach Mandel wie folgt aussehen:

  1. Aneignung des empirischen Stoffes
  2. Analytische Aufgliederung des Stoffes in seine konstitutiven abstrakten Elemente
  3. Erforschung der entscheidenden Gesamtzusammenhänge zwischen diesen Elementen, die die abstrakten Bewegungsgesetze des Stoffes, sein Wesen verdeutlichen sollen.
  4. Entdeckung der Mittelglieder, die es ermöglichen, die Vermittlung zwischen Wesen und Erscheinung zu verwirklichen
  5. Praktisch‐​empirische Verifizierung der Analyse an der konkreten historischen Bewegung
  6. Entdeckung neuer empirisch relevanter Daten und neuer Zusammenhänge, oft sogar neuer abstrakt elementarer Bestimmungen, dank der Anwendung der Ergebnisse der Erkenntnis auf die komplexe Wirklichkeit8

Das Verhältnis zwischen den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitals und der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise ist noch nicht befriedigend geklärt. Allerdings hat bereits Marx darauf hingewiesen, dass die Weltmarktkrisen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie gefasst werden müssen.9

Daraus folgt, dass in der kapitalistischen Produktionsweise, gefasst als dynamische Totalität, das Zusammenspiel sämtlicher grundlegender Entwicklungsgesetze betrachtet werden muss.

Alle Grundvariablen der kapitalistischen Produktionsweise können bis zu einem gewissen Grade die Rolle von unabhängigen Variablen spielen. Diese Grundvariablen sind:

  1. Die organische Zusammensetzung des Kapitals im allgemeinen und in den beiden Abteilungen, »was auch den Umfang des Kapitals und seine Verteilung zwischen den Abteilungen beinhaltet« (Erläuterung: Nach den Marxschen Reproduktionsschemata, die im zweiten Band des Kapitals behandelt werden, kann die Wirtschaft eines Landes in zwei Abteilungen untergliedert werden. In Abteilung I findet die Produktion von Produktionsmitteln und in Abteilung II die Produktion von Konsumgütern statt)
  2. Die Verteilung des konstanten Kapitals zwischen fixem und zirkulierendem (im Allgemeinen und in den beiden Abteilungen, dies gilt auch für die folgenden Punkte)
  3. Die Entwicklung der Mehrwertrate
  4. Die Entwicklung der Akkumulationsrate (Verhältnis zwischen produktiv und unproduktiv konsumiertem Mehrwert)
  5. Die Entwicklung der Umschlagszeit des Kapitals
  6. Die Austauschrelationen zwischen den beiden Abteilungen (die meistens, aber nicht ausschließlich eine Funktion der organischen Zusammensetzung des Kapitals in den Abteilungen darstellen)10

Die Geschichte der Entfaltung der inneren Widersprüche und der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus kann nur als Funktion des Zusammenspiels dieser sechs Variablen verstanden werden.

Die Fluktuationen der Profitrate ist nur der »Seismograph« dieser Entwicklung. Sie können nur durch die oben genannten Variablen erklärt werden.

Hierfür gibt Mandel einige Beispiele:

  1. Die Mehrwertrate ist unter anderem eine Funktion des Klassenkampfes. Demnach ist es falsch, sie als eine mechanische Funktion der Akkumulationsrate zu sehen, etwa nach der Formel: Höhere Akkumulationsrate = niedrigere Erwerbslosigkeit = Stabilisierung oder Rückgang der Mehrwertrate. Damit verwechselt man Faktoren, die ein Ergebnis begünstigen, mit diesem selbst. Die Geschichte der Arbeiterklasse zeigt die vielen hier möglichen Variationen. Die Situation der USA im 19. Jahrhundert z. B. widerspricht einer anderen allzu sehr vereinfachenden Formel: Niedrige Arbeitsproduktivität = niedrige Mehrwertrate, hohe Arbeitsproduktivität = hohe Mehrwertrate. In den USA waren die hohen Löhne Ergebnis des Mangels an Arbeitskräften und führten erst später zu einer hohen Arbeitsproduktivität. Die Mehrwertrate aber war niedrig.
  2. Die Höhe der Mehrwertrate wird auch durch die historische Ausgangsposition der industriellen Reservearmee beeinflusst: »Je nach Umfang dieser Reservearmee kann eine wachsende Akkumulationsrate von einer zunehmenden, einer gleichbleibenden oder einer sinkenden Mehrwertrate begleitet sein.«
  3. Die Wachstumsrate der organischen Zusammensetzung des Kapitals kann nicht ausschließlich als Funktion des durch die Konkurrenz hervorgerufenen technischen Fortschritts definiert werden. Denn das konstante Kapital besteht aus zwei Teilen: aus den fixen und dem zirkulierenden konstanten Kapital. Wenn die Arbeitsproduktivität im Rohstoff produzierenden Sektor schneller wächst als jene im Konsumgüter produzierenden Sektor, »dann kann eine relative Verbilligung des zirkulierenden konstanten Kapitals stattfinden, das zur Folge hat, dass trotzt beschleunigtem technischen Fortschritt und trotzt beschleunigter Mehrwertakkumulation im fixem Kapital die organische Zusammensetzung des Kapitals langsamer wächst als zuvor.«11

Das bedeutet: Alle Grundvariablen der kapitalistischen Produktionsweise müssen gleichzeitig als zum Teil selbständige Variablen betrachtet werden. Die Wirkung dieser Variablen wird in einen konkreten historischen Rahmen gestellt, um die aufeinander folgenden Phasen der Geschichte des Kapitalismus analysieren und erklären zu können. Die Kombination aller dieser ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen, d. h. der zum Teil selbständigen Variablen erlaubt es, die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise, und vor allem die seiner imperialistischen Phase, aus den Bewegungsgesetzen des Kapitals selbst zu erfassen und nicht aus irgendwelchen exogenen, der Marxschen Kapitalanalyse fremden Faktoren.

1.2.2 Der tendenzielle Fall der Profitrate

Der Kapitalismus existiert als eigenständige Gesellschaftsformation schon seit 233 Jahren. Der Imperialismus seit 127 Jahren (Stand 2022). Die entscheidende Frage muss daher sein, warum er aufgrund des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate nicht schon längst zusammengebrochen ist. Da diese Frage von extremer Wichtigkeit für die folgende Darstellung ist, wird das von Marx entdeckte Gesetz im Folgenden ausführlich und allgemeinverständlich erklärt:12

Jeder Kapitalist, der ein neues Industrieunternehmen gründet, muss sein Kapital in zwei verschiedene Teile teilen. Einen Teil für den Erwerb von Maschinen, Gebäuden, Rohstoffen, Hilfsstoffen usw. Der Wert dieses Teils des Kapitals geht im Verlauf des Produktionsprozesses in den Wert der Endprodukte ein und wird erhalten. Man nennt ihn deshalb konstantes Kapital.

Der zweite Teil des Kapitals muss für den Ankauf von Arbeitskraft verwendet werden. Dieser Teil vergrößert sich um den von den Arbeitern erzeugten Mehrwert. Man nennt ihn deshalb variables Kapital.13

Nur die Ware Arbeitskraft ist in der Lage, Wert und Mehrwert zu schaffen. Der Wert des konstanten Kapitals, zum Beispiel von Maschinen, lässt sich wiederum auf den Wert der Ware Arbeitskraft zurückführen, der zu ihrer Produktion eingesetzt wurde.14

Das Verhältnis zwischen dem konstanten und dem variablen Kapitalteil bezeichnet man als die organische Zusammensetzung des Kapitals. Je entwickelter ein Unternehmen, ein Industriesektor oder ein Land ist, desto höher ist die organische Zusammensetzung des Kapitals, also, der Anteil des konstanten Kapitals, also des Kapitals, der für die Anschaffung von Maschinen etc. ausgegeben wird.

Formel:

Dabei bedeuten: c = konstantes Kapital, v = variables Kapital15

Steigt die durchschnittliche organische Zusammensetzung des Kapitals, dann geht – unter sonst gleichen Umständen – die mittlere Profitrate zurück.

Beispiel: Der Wert der Jahresproduktion eines Landes betrage 300 Milliarden c, 100 Milliarden v und 100 Milliarden m (Mehrwert). Dann liegt die Profitrate bei 25 Prozent.

Formel:

Erhöht sich nun in einem Jahrzehnt der Wert des konstanten Kapitals von 300 auf 400 Werteinheiten, gilt:

Dabei bedeuten: c = konstantes Kapital, v = variables Kapital, m = Mehrwert

Diese Entwicklung ist in der Realität in der Tat zu beobachten, denn die Vermehrung des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital ist ein Wesenszug des Kapitalismus. Der tendenzielle Fall der Profitrate ist somit ein Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise.16

Karl Marx sprach jedoch bewusst vom tendenziellen Fall der Profitrate, denn sie wird durch eine Reihe von gegenwirkenden Faktoren gebremst.

1. Steigerung der Mehrwertrate: Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals bedeutet ein Wachstum der Arbeitsproduktivität, was auf eine Erhöhung der Mehrwertrate hinauslaufen kann. Beispiel:

Auf die Dauer lässt sich jedoch keine gleichwertige Steigerung der Mehrwertrate und der organischen Zusammensetzung erreichen. Denn die Steigerung der Mehrwertrate stößt auf absolute Grenzen. Diese liegen in der Unmöglichkeit, die notwendige Arbeit auf Null zu reduzieren, während es für die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals keine Grenzen gibt.17

2. Das Sinken der Preise des konstanten Kapitals. Wenn die allgemeine Arbeitsproduktivität steigt, dann vermindert sich der Wert jeder einzelnen Ware. Das gilt selbstverständlich auch für Maschinen und andere Produktionsmittel.

3. Ausdehnung der kapitalistischen Produktion. Wenn das Kapital in Ländern oder Branchen angelegt wird, in denen anfänglich eine niedrige organische Zusammensetzung vorherrscht, sinkt die durchschnittliche organische Zusammensetzung des Weltkapitals und die Profitrate steigt.18

1.2.3 Die langen Wellen im Kapitalismus

Es leuchtet ein, dass die Profitrate infolge einer zurückgehenden organischen Zusammensetzung insbesondere dann steigt, wenn zwei oder gar alle diese Faktoren zusammentreffen. In diesem Fall kann es passieren, dass die Profite schlagartig nach oben schnellen, viel bisher brachliegendes Kapital angelegt wird und sich so für einige Zeit eine selbsttragende Phase der kapitalistischen Hochkonjunktur einstellt. Bis sich schließlich das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate wieder durchsetzt.19

Tatsächlich lassen sich in der Geschichte diese Phasen nachweisen. Sie dauern ungefähr 20 Jahre im Aufstieg und 20 weitere Jahre im Abstieg. Die langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung existieren zusätzlich zum gewöhnlichen Konjunkturzyklus von 5 bis 10 Jahren mit seiner immer gleichen Abfolge von Wiederbelebung, Boom, Überproduktion, Krach und Krise. Sie setzen sich gerade durch diese »gewöhnlichen« Zyklen durch und zwar so, dass in einer expansiven Phase die zyklischen Perioden von Hochkonjunktur länger und intensiver, die zyklischen Überproduktionskrisen kürzer und weniger tief sind. Umgekehrt werden sich in den zur Stagnation neigenden Phasen der »langen Welle« die Perioden der Hochkonjunktur als weniger fieberhaft und kürzer erweisen, die Perioden der zyklischen Überproduktionskrise dagegen länger und tiefer erscheinen.20

Bisher existierten folgende lange Wellen:

Tabelle 1.2.3.1. Lange Wellen in der Geschichte des Kapitalismus. Die Abkürzungen der Wertbestandteile bedeuten: cf: Konstantes fixes Kapital, Maschinen, cz: Konstantes zirkulierendes Kapital, Rohstoffe, v: Variables Kapital, Löhne, m/​v: Mehrwertrate22

So bewirkte das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate bisher eine wellenförmige Bewegung des Kapitalismus. Lange Perioden mit einem starken Wachstum der Kapitalakkumulation standen Perioden mit stagnativen Tendenzen gegenüber. Allerdings: Wie wir gesehen haben, waren Auslöser für eine lange Welle mit expansivem Charakter geographische, geologische und politische Faktoren. Diese waren immer spezifisch und es ist keineswegs garantiert, dass noch einmal so viele Faktoren zusammenkommen, um eine neue lange Welle mit expansiver Tendenz auszulösen. Der Umschlag in eine lange Welle mit stagnierender Tendenz wird dagegen gesetzmäßig durch die im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate beschriebene Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals hervorgerufen.23

Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Der Kapitalismus basiert auf der Aussaugung lebendiger menschlicher Arbeitskraft. Durch die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals infolge der Automatisierung untergräbt er seine eigenen Grundlagen. Hier sind wir bei der absoluten inneren Grenze der kapitalistischen Produktionsweise angelangt. Sie liegt da, wo die Mehrwertmasse selbst zwangsläufig zurückgeht – wegen der in der Vollautomation stattfindenden Ausschaltung der lebendigen Arbeit aus dem Produktionsprozess.24

Der Kapitalismus ist unvereinbar mit vollautomatisierter Produktion in der gesamten Industrie und Landwirtschaft, weil dann keine Mehrwertschöpfung und keine Kapitalverwertung mehr vor sich geht. Demnach kann sich die Automation nie auf den gesamten Produktionsbereich ausdehnen. Allerdings würden die angenommenen großen Veränderungen und zwar die Industrie 4.0 und die künstliche Intelligenz die Ausschaltung des Menschen aus dem Produktionsprozess noch einmal radikal beschleunigen.

Karl Marx schreibt:

Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört [auf] und muss aufhören die Arbeitszeit Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes.25

Unter Marxisten wird schon seit Jahrzehnten diskutiert, ob dieser Punkt bereits erreicht wurde oder ob er in den nächsten Jahren zu erwarten ist.

Bereits Trotzki erkannte, dass der Imperialismus eine integrierte Weltwirtschaft geschaffen hat, in der die Großmächte einen Kampf um die Hegemonie führen. Die nationalstaatlichen Ökonomien sind eng miteinander vernetzt. Die Weltwirtschaft bildet eine komplexe Hierarchie der Arbeitsteilung, in der auch nichtkapitalistische Produktionsweisen nicht ausgelöscht, sondern den Bedürfnissen des Kapitals angepasst werden. Der Weltmarkt und die nationalen Ökonomien sind geprägt durch eine ungleiche und kombinierte Entwicklung.

Nach Mandel sind die langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung mit ihren Auf‐ und Abschwüngen gleichzeitig auch als spezifisch historische Perioden anzusehen. Sie weisen nicht nur eine spezifische ökonomische Konstellation und eine spezifische Technik auf, sondern ein bestimmtes internationales Kräfteverhältnis und Klassenkampfkonstellation, ja sogar eine spezifische Kultur und Mentalität. Dabei unterscheiden sie sich sehr stark voneinander.26

In der Geschichte des Kapitalismus gab es bisher fünf solcher Perioden:

  1. Periode der langen industriellen Revolution (1789 bis 1848)
  2. Kapitalismus der freien Konkurrenz (1848 bis 1895)
  3. Klassischer Imperialismus (1895 bis 1945)
  4. Spätkapitalismus (1945 bis 1989)
  5. Neoliberalismus (1989 bis 2020)

Die Periode der langen industriellen Revolution war auch die Zeit der großen bürgerlichen Revolutionen (1789, 1830, 1848), der napoleonischen Kriege und der Errichtung des Weltmarktes für Fertigwaren.27

Bereits die Herausbildung des klassischen Imperialismus war die Antwort auf die zunehmenden Schwierigkeiten des Kapitalismus der freien Konkurrenz. Der Spätkapitalismus wiederum entstand aus dem titanischen Ringen zweier imperialistischer Mächtegruppen. Er war das Resultat einer schweren Niederlage der Arbeiterklasse durch Faschismus und Krieg einerseits, aber auch eines großen Sieges der in der Sowjetunion staatsförmig organisierten Arbeiterklasse über den deutschen Imperialismus andererseits. Das gab dieser Periode ein spezifisches Gepräge.

Allein diese Tatsache illustriert, dass es völlig unmöglich ist, nach Lektüre von Lenins Imperialismusschrift allein die heutige Form des Imperialismus zu verstehen. Vielmehr müssen die Perioden in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, was das Studium der relevanten Literatur und eine größere wissenschaftliche Anstrengung voraussetzt, die freilich auch in diesem Text nur in Ansätzen geleistet werden kann. Es wäre schon viel erreicht, wenn er die eine oder andere Anregungen für weitere Forschungen geben könnte.

Noch ein Wort zu den verwendeten Periodenbezeichnungen: Sie passen eigentlich nicht. Der Begriff Spätkapitalismus impliziert, dass es sich um die letzte Periode des Kapitalismus handele, was 1989 widerlegt wurde. Der Neoliberalismus war ursprünglich eine Wirtschaftstheorie, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Karl Popper, Milton Friedman und Friedrich August von Hayek entwickelt wurde. Allerdings ist er auch der Name einer kapitalistischen Periode, deren Ideologie auf der neoliberalen Wirtschaftstheorie basiert. Alternative Bezeichnungen wie Hochtechnologiekapitalismus von Manuel Candeias haben sich nicht durchgesetzt. Zumal auch der klassische Imperialismus und der Spätkapitalismus als Hochtechnologiekapitalismus bezeichnet werden könnten. Auch sie basierten zu großen Teilen auf der damals neuesten Technik, die sie weiterentwickelten.

Teil 2 widmet sich dem klassischen Imperialismus.

Verweise

1 Kommunistische Partei Griechenlands: Nein zum imperialistischen Krieg in der Ukraine!, Gemeinsame Erklärung kommunistischer und Arbeiterparteien, 22.02.2022, im Internet: https://​inter​.kke​.gr/​d​e​/​a​r​t​i​c​l​e​s​/​N​e​i​n​-​z​u​m​-​i​m​p​e​r​i​a​l​i​s​t​i​s​c​h​e​n​-​K​r​i​e​g​-​i​n​-​d​e​r​-​U​k​r​a​i​ne/, abgerufen am 13.10.20222

3 Vgl. Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1974, S. 11.

4 Vgl. Mandel 1974, S. 12

5 Vgl. W.I. Lenin: Aus dem philosophischen Nachlass, Berlin 1949, S. 249f, zitiert nach Mandel 1974, S. 12

6 Vgl. Mandel 1974, S. 13

7 Karl Marx, Das Kapital – Band 1, Berlin 1988, MEW 23, S. 27.

8 Vgl. Mandel 1974, S. 14f

9 Vgl. Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Band II, Stuttgart 1919, S. 282, zitiert nach Mandel 1974, S. 36.

10 Vgl. Mandel 1974, S. 37

11 Mandel 1974, S. 37ff

13 Vgl. Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie, Band 1, Frankfurt am Main 1972, S. 181.

14 Vgl. Karl Neelsen: Kapital und Mehrwert, Lehrhefte Politische Ökonomie des Kapitalismus, Berlin 1972, S. 17.

15 Vgl. Mandel 1972, S. 182.

16 Vgl. Mandel 1972, S. 196.

17 Vgl. Mandel 1972, S. 198f.

18 Vgl. Mandel 1972, S. 199f.

20 Vgl. Mandel 1974, S. 115.

22 Vgl. Mandel 1974, S. 122ff. Ergänzung ab 1975 durch den Autor.

23 Vgl. Mandel 1974, S. 106ff.

24 Vgl. Mandel 1974, S. 191.

25 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 592f.

26 Vgl. Ernest Mandel: Die langen Wellen im Kapitalismus, Frankfurt am Main 1987, S. 91ff

27 Vgl. Mandel 1987, S. 98

Bild: Frida Kahlo, Originialtitel: »Frieden auf Erden, damit die marxistische Wissenschaft die Kranken und die vom kriminellen Yankee‐​Kapitalismus Unterdrückten retten kann«, 1954

2 thoughts on “Imperialismus und Great Reset: Einleitung & Marxsche Methode (Teil 1)

  1. Lesenswerter Artikel. Bin gespannt auf die anderen Teile. Bei der Frage des tendenziellen Falls wird leider auch hier vergessen, dass das Marxsche Schema auf einer wesentlich betriebswirtschaftlichen Sicht beruht (Verhältnis C zu V). Insofern ist es auch korrekt. Doch gesamtgesellschaftlich gesehen ist die produktive Sphäre weit größer als nur die industrielle. Dazu gehören z.B. Bildung, Wissenschaft, Kultur, Werbung, Verwaltung usw. Diese Bereiche sind seit Marx´ Zeit gewaltig gewachsen. Gerade dort aber ist der Anteil der »manpower«, d.h. des Faktors V, besonders groß. Insofern wirkt die Aufblähung dieser Faktoren dem tendenziellen Fall entgegen.

    Zweitens kommt dazu, dass die Datengrundlage für Marxens Behauptung sehr dünn war. Darauf hat z.B. Pickety zum recht hingewiesen. Insofern ist Marx These vom tendenziellen Fall streng genommen keine Theorie, sondern eine Hypothese (weshalb sie aber nicht falsch sein muss).

    Bei allem Für und Wider zu diesem Thema lässt sich historisch nicht leugnen, dass – wenn Marx´ These stimmt – der Kapitalismus längst an einem »Nullpunkt« angekommen sein müsste. Ob das gegenwärtig der Fall ist, ist die Frage. In jedem Fall spielt die Frage für den konkreten Klassenkampf kaum eine Rolle, denn es kann uns egal sein, ob der Kapitalismus in 50, 100 oder 400 Jahren »zusammenbricht«. Marx hat hat ja auch gesagt, dass keine Gesellschaftsformation untergeht, bevor nicht alle PK entwickelt sind, für die er weit genug ist. Das ist bis jetzt noch nicht der Fall. Das wiederum heißt nicht, dass er nicht gestützt werden konnte und könnte. Die objektiven Voraussetzungen dafür existieren schon seit Jahrzehnten. Dem steht aber die Krise des subjektiven Faktors, die Formierung der Arbeiterbewegung und der Linken, gegenüber. Im Kern handelt es sich um die Krise des Marxismus, der seit Marx und Engels (die auch nur Materialien zu einem Theorie‐​Rohbau bereitgestellt haben) immer weiter hinter den Anforderungen der Realität zurückgefallen ist. Hier ist grundsätzliche Aufbauarbeit nötig. Leider ist sich das Gros der Linken dessen nicht bewusst und leistet dafür (fast) nichts.

  2. Danke für den Kommentar. Inhaltlich muss ich dir widersprechen. Das von Marx entdeckte Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate bezieht sich nur auf den Profit im Verhältnis zum angelegten Kapital als dem Kern der KPW. Bildung, Wissenschaft, Kultur, Werbung, Verwaltung kommen in diesem Zusammenhang nur in Betracht, wenn sie privat, kapitalförmig betrieben wurden. Das aber ist in größerem Umfang erst im Neoliberalismus der Fall.
    Dass es noch nicht zu einem Zusammenbruch des Kapitalismus gekommen ist, wird durch die langen Wellen hinreichend erklärt.

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