Verfolgter Palästinaaktivist: »Deutschland steht vor Gericht – nicht ich!«

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Verteidigung von Leon Wystrychowski vor dem Duisburger Amtsgericht gegen die Anklage der »Billigung von Straftaten« nach §140 StGB (10. April 2024)

MagMa veröffentlicht hier die verschriftlichte Form der Verteidigungsrede und des Schlussplädoyers von Leon Wystrychowski von der Gruppe Palästina Solidarität Duisburg, die er am 10. April 2024 vor dem Amtsgericht Duisburg vorgetragen hat.1 Er wird von der Duisburger Polizei und der Duisburger Staatsanwaltschaft der »Billigung von Straftaten«, konkret der »Billigung von Morden« an »zivilen israelischen Staatsbürgern«, bezichtigt. Sie begründen dies mit der Tatsache, dass Leon Wystrychowski am 9. Oktober 20232 auf einer Demo in Duisburg die Parolen »Von Duisburg bis nach Gaza – Yalla Intifada!« und »From the River to the Sea – Palestine will be free!« angestimmt hat.3

Vorwort der Palästina Solidarität Duisburg

Vor Gericht hat Leon sich dazu bekannt, diese Parolen gerufen zu haben und er hat dies auch politisch begründet. Zugleich hat er den Vorwurf der »Billigung von Straftaten« entschieden zurückgewiesen, dargelegt, wie haltlos diese Anschuldigungen sind, und erläutert, wieso es sich bei seiner Anklage um eine Form der politischen Repression gegen ihn und letztlich die gesamte Palästinasolidaritätsbewegung in Deutschland handelt. Zudem hat er erklärt, wieso er überzeugt ist, sich dabei auf die Meinungsfreiheit, das Völkerrecht und auf moralische Grundsätze berufen zu können. Obwohl weder die Staatsanwältin noch der Polizist, der die Anzeige erstattet und als Zeuge geladen war, noch der Richter die Anklage untermauern konnten, wurde Leon in erster Instanz zu einer Geldstrafe über 900 Euro und 60 Tagessätzen verurteilt.

Er geht in Berufung und setzt damit den Kampf für die Meinungsfreiheit in Deutschland und für die legitimen Rechte der Palästinenser auf Freiheit und Widerstand vor Gericht fort. Wir unterstützen ihn dabei und rufen weiterhin zu Solidarität mit ihm auf.

Palästina Solidarität Duisburg

1. Verteidigungsrede

A) Einleitung

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ich hier nicht sitze, weil ich irgendwen angegriffen oder gar verletzt habe. Ich habe auch keine Sachbeschädigung und auch keinen Diebstahl begangen. Ich sitze hier, weil ich etwas gesagt habe. Es geht also um Begriffe; um deren Auslegung, deren Definitionen und deren Geschichte. Zufällig studiere ich Geschichte, Arabistik und Nahostwissenschaften. Und daher denke ich, dass ich zu den fraglichen Aussagen einiges an Fundiertem darlegen kann.

B) Yalla Intifada!

Zunächst zur Parole »Von Duisburg bis nach Gaza – Yalla Intifada!«: Intifada wird häufig einfach mit »Aufstand« übersetzt, was nicht ganz richtig ist. Ich zitiere hier einmal aus dem Hans Wehr, dem Standardwörterbuch der deutschen Arabistik. Hier steht, dass das zugehörige Verb folgendes bedeutet: »geschüttelt, abgestaubt werden; sich schütteln; erschauern, zittern; von sich abschütteln; wach werden, zum Bewusstsein kommen; sich erheben«, »aufspringen«, »aus seiner Lethargie erwachen; schaudernd sich seiner Lage bewußt werden«.4 Das Wort bedeutet also mehr als einfach nur »Aufstand«. Es beschreibt wie etwa die Begriffe »Renaissance« oder »Aufklärung« einen vielschichtigen gesellschaftlichen Prozess. Der Aufstand gegen Unterdrückung ist nur ein Teil davon, wenn auch ein wichtiger.

Leon Wystrychowski im Gericht

Die Realität entspricht dem: Es gab in der Geschichte Palästinas zwei Aufstände, die als Intifada bezeichnet werden. Die Erste Intifada war ein Volksaufstand von 1987 bis 1992, der sich gegen die seit 1967 anhaltende Besatzung der Westbank, Ostjerusalems und des Gazastreifens richtete. Wichtige Elemente waren dabei 1. Generalstreiks, 2. Boykotte und 3. Volkskomitees als demokratische Selbstverwaltungsorgane. Frauenorganisationen, Gewerkschaften und so weiter spielten eine wichtige Rolle. Die Form des Widerstands war primär eine nichtmilitärische. Daher wurde die Intifada auch als »Aufstand der Steine« und »Aufstand der Kinder« bezeichnet, weil die Bilder der Kinder, die Steine auf bis an die Zähne bewaffnete israelische Soldaten, auf gepanzerte Fahrzeuge und auf Panzer warfen, zum Sinnbild für diesen Aufstand wurden. Dieses Kräfteungleichgewicht spiegelte sich auch in den Zahlen der Getöteten wider: Bis zu 200 Israelis und bis zu 2.000 Palästinenser, darunter ein großer Teil Kinder und Jugendliche, wurden getötet. Der israelische Verteidigungsminister Yitzak Rabin gab damals den Befehl an die Armee aus, den Kindern Arme und Beine zu brechen, damit sie keine Steine mehr werfen könnten. Die Erste Intifada war daher eine extreme moralische Niederlage für Israel, weil der ganzen Welt vor Augen geführt wurde, was für ein brutales und unterdrückerisches Besatzungsregime in Palästina herrscht.

Die Zweite Intifada war ein Aufstand von 2000 bis 2005. Sie war eine Antwort auf das Scheitern des sogenannten Osloer Friedensprozesses, der keinerlei Frieden, keine Schritte in Richtung Eigenstaatlichkeit oder Wahlen für die Palästinenser brachte. Stattdessen aber die Zunahme des illegalen Siedlungsbaus und des Landraubs in der Westbank, in Ostjerusalem und in Gaza. Zum Verdeutlichen: 1995 lebten in der Westbank und im Gazastreifen 115.000 illegale Siedler, heute sind es fast eine Million in der Westbank und Ostjerusalem. Hinzu kam eine zunehmende Abhängigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde von Israel und ein immer stärkerer und bis heute anhaltender Rechtsruck in Israel. Dieser Aufstand war also ebenfalls eine Folge der Bewusstwerdung der Palästinenser über ihre aussichtslose Lage. Die Zweite Intifada war durchaus militanter und auch stärker militärisch als die erste. Dazu will ich aber betonen, dass nach dem Völkerrecht Widerstand gegen Besatzung auch dann legal ist, wenn er bewaffnet ist. Mögliche Kriegsverbrechen von palästinensischer Seite ändern daran gar nichts.

Aber auch der sogenannten arabische Frühling 2011 wurde als Intifada bezeichnet. Und zwar aus mehreren Gründen: Es war eine bewusste Anlehnung an die gerechte Sache der Palästinenser. Es unterstrich den Charakter der Volksrevolution gegen Unterdrückung und für Selbstbestimmung. Und bekanntlich waren diese Volksaufstände überwiegend friedlich. Da, wo es nicht friedlich blieb, in Libyen und Syrien, wurden die bewaffneten Aufständischen sogar vom Westen und auch von Deutschland mindestens politisch unterstützt. Also haben weder der Westen noch die Bundesrepublik grundsätzlich etwas gegen bewaffnete Aufstände.

Seit einigen Jahren gibt es außerdem den Aufruf zu einer »globalen Intifada«. Dabei geht es ganz offensichtlich nicht darum, sich überall auf der Welt zu bewaffnen. Sondern es geht darum, für die Rechte der Palästinenser aufzustehen.

Ich bekenne hier: Ich habe die Parole gerufen. Und ich habe sie in all den eben aufgelisteten Sinnen gerufen: 1. Als Unterstützung der gerechten Sache der Palästinenser. 2. Als Aufruf, dass die Palästinenser sich ihrer Lage bewusst werden und zum Volksaufstand übergehen sollen! 3. Als Aufruf, überall auf der Welt für Palästina aufzustehen!

Ich bin überzeugt, dass diese Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Ich bin überzeugt, dass sie vom Völkerrecht gedeckt ist. Und ich bin überzeugt, dass sie moralisch gerechtfertigt und politisch richtig ist. Die Staatsanwaltschaft hat keinerlei Beleg vorgebracht, dass diese Parole auch nur irgendwie in Verbindung zu bringen wäre mit Morden an Zivilisten.

C) From the River to the Sea

Jetzt zur Parole »From the River to the Sea – Palestine will be free!« Bekanntlich ist diese Parole im November letzten Jahres zum »Symbol« der Hamas erklärt worden, und zwar vom Bundesinnenministerium. Es handelt sich also um einen exekutiven Akt, der von den Gerichten überprüft und hoffentlich aufgehoben wird. Alle mir bekannten Gerichtsurteile stellen diese Einstufung bereits infrage. Denn bekanntlich sind sowohl der Inhalt als auch die Floskel älter als die Hamas. Zudem gibt es verschiedene Varianten im Englischen, Arabischen und Deutschen. Außerdem ist die Parole selber eher im Westen verbreitet als in Palästina oder der arabischen Welt. Die Gerichtsurteile besagen außerdem, dass sich die Hamas die Parole zwar angeeignet haben kann, sie aber dadurch nicht automatisch zu ihrem Symbol wird. Die Floskel findet sich in Erklärungen aller palästinensischen Parteien. Auf Demos wird sie von Akteuren aller möglichen politischen Ausrichtungen gerufen: islamisch, christlich, jüdisch, säkular, links, Friedensbewegung und so weiter. Außerhalb Deutschlands handelt es sich um eine völlig normale Parole, die in keiner Weise kriminalisiert wird. Aber auch im Programm der rechten israelischen Likudpartei von Premierminister Netanyahu findet sich die Floskel.5 Dabei bezieht sie sich allerdings natürlich auf ein »Großisrael«, in dem kein Platz für Palästina ist.

Die Parole wurde schon vor der Einstufung als »Symbol« der Hamas in Deutschland kriminalisiert: Anfang 2023 gab es einen Gerichtsprozess in Mannheim wegen angeblicher Volksverhetzung nach §130. Er endete mit einem Freispruch.6 Eine weitere Anzeige im Sommer 2023 wegen angeblicher Verwendung von Kennzeichen terroristischer Organisationen nach §86 wurde vom Gericht nicht einmal zugelassen.7 Auch in meinem Fall greift das Verbot der Parole noch nicht, weil die Demo vor dem Verbot stattfand. Stattdessen konstruiert die Staatsanwaltschaft, die Parole bedeute »Billigung von Morden« nach §140. Wieso, habe ich immer noch nicht verstanden. Wir sehen aber, dass von den Behörden eine bunte Palette an Paragrafen bemüht wird, um die Parole zu kriminalisieren: Man versucht es nach Lust und Laune mit §86, §130 und §140.8 Bisher zum Glück ohne Erfolg, weil die Gerichte sich ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung offenbar bewusst waren.

Was bedeutet diese Parole nun? Es gibt verschiedene Interpretationsspielräume: »Freiheit« ist hier abstrakt gehalten und bedeutet wohl in erster Linie: Freiheit von Unterdrückung, Besatzung, Apartheid, Kolonialismus, Rassismus und so weiter. Theoretisch kann sie auch Freiheit von Kapitalismus, Patriarchat et cetera bedeuten. Die Form für die Freiheit von Besatzung und Kolonialismus kann bedeuten: Ein Staat Palästina im ganzen historischen Palästina. Oder auch eine Zweistaatenlösung, die mit Überwindung der Apartheid in Israel einhergeht. Dass es diese Apartheid gibt, halte ich für hinreichend bewiesen. Man muss sich nur die Berichte von Amnesty International, B’Tselem, Human Rights Watch oder der UN-​Sonderberichterstatter anschauen.

Wie diese Befreiung erreicht wird, wird nicht gesagt. Es handelt sich schließlich nur um eine Parole, einen Satz. Möglich ist: durch bewaffneten Kampf, durch Verträge, durch Druck von außen, durch Druck von innen et cetera. All dem haben Gerichtsurteile in Vergangenheit Rechnung getragen, all das haben sie diskutiert.9

Ich bekenne hier: Ich habe die Parole angestimmt. Ich verstehe sie so: Überwindung von Kolonialismus, Besatzung und Apartheid sowie Verwirklichung des von der UNO garantierten Rückkehrrechts für alle vertrieben Palästinenser, und zwar in einem demokratischen und säkularen Staat für all seine Bewohner, unabhängig ihrer religiösen Zugehörigkeit.

Wie das zustande kommt, weiß ich nicht. Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Meine Meinung zur Strategie und Taktik ist auch unerheblich. Ich bin kein Palästinenser, nur solidarisch. Klar ist aber: Die Palästinenser haben das Recht, dieses politische Ziel zu verfolgen. Und zwar mit allen Mitteln, inklusive des bewaffneten Kampfs. Ich weiß, dass diese Meinung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und dem Völkerrecht entspricht. Die Staatsanwaltschaft versucht mir für meine Unterstützung dieses völkerrechtlich gedeckten Grundsatzes zu unterstellen, dass ich Kriegsverbrechen billige. Das ist absurd.

Ich will hier außerdem darauf hinweisen, dass auch Abwandlungen der Parole kriminalisiert werden. Zum Beispiel »From the River to the Sea – we demand Equality!«10 oder »From the Sea to the River – Palestine will live forever!« Dagegen werden Parolen wie »From the River to the Sea – Palestine will never be!«11 oder »From the River to the Sea – that’s the only Flag you gonna see«, während dabei auf die israelische Flagge gezeigt wird, meines Wissens weder von der Polizei noch der Staatsanwaltschaft strafrechtlich verfolgt.12 Und auch die deutschen Medien skandalisieren diese Parolen nicht. Vielmehr haben Sprecher des Bundesinnenministeriums und des Bundesjustizministeriums erklärt, dass »From the River to the Sea« nur verfolgt wird, wenn es in einem propalästinensischen Sinn geäußert wird.13 Das widerspricht meinem Verständnis nach – ich bin ja kein Jurist – GG Artikel 19 Abs. 1.

D) »Zeitlicher Zusammenhang«

Dass kein Zusammenhang zwischen den Parolen und dem gegen mich erhobenen Vorwurf besteht, sollte klar geworden sein. Das einzige »Argument« der Staatsanwaltschaft ist der »zeitliche Zusammenhang«. Aber auch hier argumentiert die Staatsanwaltschaft auf falscher Grundlage:

1. Am 7. Oktober fand kein »Terroranschlag« statt, sondern eine Militäroperation palästinensischer Widerstandsorganisationen. Erklärtes Ziel war nicht die Tötung von Zivilisten wie etwa bei 9/​11. Vielmehr ging es darum, die illegale Militärblockade gegen Gaza zu durchbrechen, primär militärische Ziele anzugreifen und offenbar auch Kriegsgefangene zu nehmen. Bis heute sind die Geschehnisse nicht aufgeklärt. Israel lehnt eine internationale Untersuchung ab. Außerdem wissen wir, dass es zahlreiche Falschberichte gab, gerade noch am 9. Oktober: Es gab aber keine geköpften Babies, keine Babies, die in Backöfen getötet wurden, keine Babies, die aus Bäuchen herausgeschnitten wurden und keine Massenvergewaltigungen. Auch wenn deutsche Medien diese Fakenews bis heute verbreiten. Israelische, arabische, US-​amerikanische und britische Medien haben diese Lügen längst widerlegt. Und wenn ich »längst« sage, dann heißt das »längst«, denn die meisten wurden schon im Oktober aufgedeckt. Auch ist bekannt, dass eine unbekannte Zahl israelischer Staatsbürger von den IDF, also der israelischen Armee, getötet wurde.

Ich bezweifle gar nicht, dass es Kriegsverbrechen an diesem Tag auch von palästinensischer Seite gab. Aber weder weiß irgendwer heute mit Bestimmtheit, wie viele oder welche konkret von den Palästinensern begangen wurden. Noch habe ich mich dazu irgendwie billigend geäußert, und erst recht nicht durch die genannten Parolen.

2. Die Militäroffensive am 7. Oktober wurde nicht nur von der Hamas durchgeführt. Dabei handelt es sich um ein falsches Narrativ, das zeigt, dass man sich nicht mit der Realität beschäftigt. Es waren islamische, säkularnationalistische und linke Organisationen an der Offensive beteiligt. Außerdem wohl auch Personen, die keiner Organisation angehörten. Wer die möglichen Kriegsverbrechen begangen hat – ob Hamas oder andere –, ist bis heute nicht aufgeklärt. Trotzdem spricht die Staatsanwaltschaft darüber, als wäre alles bereits völlig klar.

3. Dieses Framing ist Ausdruck von Unwissenheit der Staatsanwaltschaft. Aber nicht nur: Seit Jahren und vor allem seit Oktober wird alles Propalästinensische auf die Hamas reduziert. Egal ob muslimisch oder christlich oder selbst jüdisch; egal ob religiös oder säkular; egal ob konservativ oder links. Meine Gruppe zum Beispiel wurde vom WDR – nicht von BILD, sondern vom WDR – am 9. Oktober wiederholt als »ProHamasVerein« bezeichnet. Dabei hat man noch nicht einmal bei uns angefragt. Die einzige »Quelle«, von der sie diese »Info« haben konnten, ist ein rechtsradikaler und rassistischer OnlineBlog namens »Ruhrbarone«.14 Die Parole »From the River to the Sea« wurde wie schon gesagt vom Bundesinnenministerium als »Symbol« der Hamas kriminalisiert. Jeder muss sich erst von der Hamas distanzieren, bevor er etwas Kritisches zu Israel sagen darf.

Dabei handelt es sich aus meiner Sicht ganz klar um eine Kriminalisierungsstrategie durch Innenministerium, Polizei und Staatsanwaltschaft. Dabei werden sie leider von den allermeisten deutschen Leitmedien unterstützt. Es geht um Diffamierung und Einschüchterung. Die gesellschaftlichen Auswirkungen sehen wir:

a) 70 Prozent der Deutschen sind gegen das israelische Vorgehen in Gaza.15 Diese Meinung findet sich im öffentlichen Diskurs aber überhaupt nicht wieder.

b) Vor wenigen Tagen haben zahlreiche Beamte von Bundesministerien einen Protestbrief gegen die deutsche Israelpolitik veröffentlicht. Die Unterschreiber blieben aber anonym, weil sie Repression befürchten.16

c) Seit Oktober sind Tausende Anzeigen gegen Palästinaaktive erstattet worden, unter anderem wegen Parolen wie »Free Palestine« – nicht »From the River to the Sea«, nur »Free Palestine« – oder weil man es gewagt hat, den Begriff »Genozid« zu benutzen.17 Ich selbst warte noch auf eine Anzeige aus Dortmund: Dort habe ich in einer Rede das Wort »Völkermord« benutzt, was die Polizei an diesem Tag per Auflage verboten hat.18 Ich hatte sie darauf hingewiesen, dass kurz zuvor, noch am selben Tag, eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster eingegangen war, die besagte, dass der Begriff natürlich von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.19 Das war der Polizei egal, sie hat sich also über die Gerichtsentscheidung einfach hinweggesetzt. Umso absurder ist das ganze, weil Israel und Deutschland gerade in Den Haag auf der Anklagebank sitzen, und zwar wegen Völkermord beziehungsweise Beihilfe.

d) Aber auch dieses Verfahren heute ist Teil dieser Entwicklung: Ich verstehe es als haltlosen Einschüchterungs- und Kriminalisierungsversuch durch Polizei und Staatsanwaltschaft.

Ich bin überzeugt: Selbst wer anders denkt als ich – wer gegen eine Einstaatenlösung in Palästina ist, wer bewaffneten Widerstand moralisch kategorisch ablehnt, weil er zum Beispiel Pazifist ist und so weiter – muss erkennen: Meine Äußerungen sind trotzdem von der Meinungsfreiheit und vom Völkerrecht gedeckt. Und ich hoffe und vertraue darauf, dass auch dieses Gericht das erkennt.

2. Schlussplädoyer

Ich möchte hier sowohl zum Plädoyer der Staatsanwaltschaft als auch zu Ihren Ausführungen, Herr Richter, etwas sagen. Und zunächst ein paar Dinge korrigieren beziehungsweise klarstellen:

1. Sie, Herr Richter, haben von »Mord und Totschlag« am 7. Oktober gesprochen und die Staatsanwältin hat betont, wie grausam dieser Tag gewesen sei. Was in Ihren Ausführungen überhaupt keine Erwähnung gefunden hat, ist der Kontext: 75 Jahre ethnische Säuberung, Kolonialismus, Apartheid, Massaker, tausendfacher Mord und Totschlag durch Israel. Ihre Ausführungen zeigen, dass Sie sich dieser Tatsachen entweder nicht bewusst sind oder dass sie Ihnen einfach egal sind.

2. Die Staatsanwaltschaft hat behauptet, mir sei das öffentliche Interesse an der Demo am 9. Oktober bewusst gewesen. Das war es tatsächlich nicht. Wir waren knapp 100 Leute, die Medien waren fast mehr als wir. Ich habe nicht damit gerechnet, dass an diesem Abend zig Kamerateams von ZDF bis Al Jazeera vor Ort sein werden. Was mir aber sehr wohl bewusst ist, ist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des öffentliches Interesses Druck verspürt, repressiv vorzugehen, Anzeige zu erstatten und ein Urteil in ihrem Sinne zu erreichen.

3. Sie, Herr Richter, haben Juden und Israelis beziehungsweise proisraelische Personen gleichgesetzt. Diese Auffassung ist aus meiner Sicht ein wichtiger Teil des Problems. Ich lehne diese Gleichsetzung entschieden ab: Es gibt genug Juden in Deutschland und auf der ganzen Welt, die Israel kritisieren oder es sogar ganz ablehnen.

4. Sie haben unter anderem von den möglichen Kriegsverbrechen gesprochen und haben dabei angemerkt, dass ich gar nicht auf das berühmte Festival eingegangen bin. Aber gerade bei diesem Festival ist bekannt geworden, dass die israelische Armee aus Kampfhubschraubern auf Besucher und Autos gefeuert hat. Das israelische Militär folgt der sogenannten Hannibal-​Doktrin, der zufolge ein toter israelischer Soldat besser ist als ein gefangener. Diese Doktrin wurde an diesem Tag offenbar auch auf die eigene Bevölkerung ausgeweitet.20 Außerdem haben Sie über Angriffe auf »eindeutig zivile Wohngebiete« gesprochen. Die Kibbuzim sind aber gerade keine normalen Dörfer, sondern wurden sowohl vor als auch nach der Gründung Israels als Wehrdörfer und Festungen errichtet; alle Israelis müssen in der Armee dienen und sehr viele Siedler sind bewaffnet.

5. Sie haben mich mit den Worten zitiert, dass ich Widerstand »mit allen Mitteln« unterstütze. Diese Aussage stammt nicht vom fraglichen Tag, sondern von heute, aus meiner Verteidigung. Dabei haben Sie zudem den folgenden Teil weggelassen: »auch bewaffnet«. Das bedeutet, wenn ich sage »mit allen Mitteln«, heißt das: politisch, militärisch, juristisch und so weiter. Ich wüsste nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Wir haben auch mal den Einschub »mit allen legitimen Mitteln« benutzt; der bringt aber nicht viel, denn was legitim ist, bewertet jeder anders und auch das kann gegen uns gewendet werden.

6. Sie sagen, es sei unerheblich, was die Parolen allgemein bedeuten. Es gehe einzig um den zeitlichen Zusammenhang. Dieser Logik nach wäre an diesem Tag aber auch die Parole »Free Palestine!« als »Billigung« zu verstehen gewesen [Richter nickt]. Dafür gab es aber keine Anzeigen. Es wäre auch völlig absurd.

7. Ich habe zwei Slogans gerufen: der eine ein Satz, der andere eher ein Halbsatz. Was hier versucht wurde, ist eine Art »Exegese«, also der Versuch aus einzelnen, kleinen Aussagen möglichst viel herauszuholen. Das kannte ich bisher nur aus der Religion. Nun passiert es offenbar aber auch in der Juristik. Dabei gibt es aber zwei Möglichkeit: Die eine, die richtige, ist das Herauslesen des eigentlichen Sinnes eines Satzes. Die andere, die in der Religion wie im Recht falsch ist, ist das Hineinlesen eines Sinns, der nicht im Satz steckt, sondern nur im Kopf des Exegeten. Die Staatsanwaltschaft tut Letzteres. Auch der hier gehörte Zeuge [Polizeibeamter] konnte sich nicht erinnern, dass ich mich in irgendeiner Weise »billigend« zu Kriegsverbrechen oder gewaltverherrlichend geäußert hätte.

8. Was hier passiert, ist die Uminterpretation und Reduzierung sowohl der Parolen selbst als auch des 7. Oktobers auf mögliche Kriegsverbrechen. Derselben Logik nach könnte man mich auch anzeigen, wenn ich sage, dass der 8. Mai der Tag der Befreiung von Krieg und Faschismus ist. Denn ich könnte damit ja die Vergewaltigungen deutscher Frauen und die Bombardierung deutscher ziviler Städte billigen. Auch das wäre absurd.

9. Sie, Herr Richter, sagen selbst, es geht um Auslegung. Und Sie legen diese Parolen in einer Weise aus, die ich hier zurückgewiesen habe. Und Sie liefern dafür nicht einmal Belege, dass ich es anders gemeint haben könnte. Ich bin nur Laie, aber wie mir das Strafrecht erklärt wurde, folgt es dem sogenannten Bestimmtheitsgrundsatz, der besagt, dass es klare Regeln braucht: Man darf niemanden angreifen und verletzen. Man darf nicht klauen und so weiter. Ich soll wegen einer Interpretation verurteilt werden, die nicht meine ist. Das widerspricht nach meinem Verständnis diesem Grundsatz sehr eindeutig!

10. Sie, Herr Richter, haben die politische Seite dieses Verfahren, die ich und mein Anwalt hier hinlänglich dargelegt haben, einfach negiert. Ich möchte nochmal betonen: Es laufen seit Monaten tausende Anzeigen. Es wird zensiert und die Polizei setzt sich offen über Gerichtsurteile hinweg. Und dieses Verfahren wäre die erste Verurteilung wegen »From the River to the Sea« und hat damit natürlich sehr wohl eine Signalwirkung und politische Bedeutung.

11. Abschließend will ich nochmal auf den Umstand verweisen, dass während dieser Prozess hier stattfindet Deutschland in Den Haag auf der Anklagebank sitzt. Und zwar zu Recht: Die Bundesrepublik und die Bundesregierung gehören vor Gericht. Ich aber nicht!

Verweise

1 Leon Wystrychowski hat beides frei vorgetragen, die Verschriftlichung stützt sich auf seine Notizen und Erinnerungen. Sie kann also im Wortlaut leicht von den vor Gericht gehaltenen Reden abweichen. Inzwischen hat die Palästina Solidarität Duisburg einen weiteren Prozessbericht veröffentlicht: https://t.me/PalaestinaSolidaritaetDuisburg/1189

2 Siehe den Bericht zur Demonstration der Palästina Solidarität Duisburg: https://t.me/PalaestinaSolidaritaetDuisburg/216

3 Siehe den Bericht der Palästina Solidarität Duisburg zur Anzeige: https://t.me/PalaestinaSolidaritaetDuisburg/500

4 Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. 5. Auflage.

7 Anzeige und Abweisung durch das Gericht liegen mir vor.

8 Hinzu kommt noch die Möglichkeit der Nutzung des §20 VereinsG, der die Nutzung von Kennzeichen verbotener Organisation verbietet.

20 Zum 7. Oktober und die um ihn kreisenden Mythen siehe beispielsweise: https://​occupiednews​.com/​7​o​k​t​o​b​e​r​h​a​m​a​s​a​n​g​r​i​ff/

Übernommen aus der Linken Zeitung, hier leicht überarbeitet und angepasst (Abkürzungen ausgeschrieben, Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert, Absätze teils neu zusammengefasst)

Bild: Leon Wystrychowski

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