Kleine linke Klimaserie (IV): Geschwindigkeit, Gleichzeitigkeit und Mitteltemperatur

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»Die Zahl 2, an die ein Mensch denkt, kann nicht zu der Zahl 2 addiert werden, an die ein anderer Mensch denkt, so dass wir die Zahl 4 erhielten.«
Simone Weil, Philosophin (1958)

In den letzten beiden Folgen dieser Serie waren Unklarheiten darüber aufgefallen, ob heutige Temperaturhöhen im Vergleich zu den vorangegangenen 2000 Jahren außergewöhnlich sind oder nicht. Neben Temperaturhöhen gibt es noch mindestens zwei weitere Merkmale, die den heutigen Temperaturanstieg außergewöhnlich machen könnten:

  • seine Geschwindigkeit, die es eventuell noch nie gegeben hat, und

  • seine Gleichzeitigkeit in der gesamten Welt, die es eventuell noch nie gegeben hat.

Weder eine Außergewöhnlichkeit von Temperaturhöhen noch eine Außergewöhnlichkeit von Geschwindigkeiten und Gleichzeitigkeiten und auch nicht alles zusammen genügt, um auf menschliches Zutun schließen zu können. »Die Natur« kann alles Mögliche anstellen, von dem Menschen (noch) nichts wissen. Treffen eine oder mehrere der genannten Außergewöhnlichkeiten zu, wird menschliches Zutun aber immerhin wahrscheinlicher – wenn nicht in der messbaren Realität, so doch in Gedanken.

Geschwindigkeit

Bei der Suche danach, was es mit dem Geschwindigkeitsmerkmal auf sich haben könnte, stolperte ich über eine Studie von Wissenschaftlerinnen der Friedrich‐​Alexander Universität Erlangen‐​Nürnberg (FAU) und der britischen Universität von Aberdeen von 2015. Nach dieser Studie beruht der Eindruck, frühere Klimaänderungen seien langsamer verlaufen, auf einem Fehlschluss. In einer Presseerklärung der FAU zu dieser Studie heißt es:

Zusammen mit einem britischen Kollegen haben der Paläobiologe Prof. Dr. Wolfgang Kießling und Kilian Eichenseer, Student der Geowissenschaften, beide von der FAU, nun eine wegweisende Studie in Nature Communications veröffentlicht: Demnach ist das Bild von langsamen Umweltveränderungen in der Erdgeschichte im Gegensatz zum heutigen, rasanten Klimawandel falsch. […] Für ihre Studie haben die Forscher rund zweihundert Analysen von Klimaveränderungen aus verschiedensten Abschnitten der Erdgeschichte zusammengetragen. Dabei wurde deutlich, dass die scheinbare Geschwindigkeit des Klimawandels umso geringer ausfällt, je länger die Zeiträume sind, über die man Erwärmungs‐ oder Abkühlungsphasen betrachtet. Der Grund dafür: Rapide Klimaänderungen gehen nicht über längere Zeiträume monoton in eine Richtung. Es gibt immer wieder Phasen, in denen die Temperaturen stagnieren oder sogar sinken – das ist auch in der aktuellen globalen Erwärmung zu beobachten. »Solche schnellen Schwankungen können wir mit den verfügbaren Untersuchungsmethoden bei vergangenen Klimaänderungen jedoch nicht nachweisen. Als Folge davon gaukeln uns die Daten vor, dass der Klimawandel selbst bei den großen Katastrophen der Erdgeschichte immer viel langsamer als heute war. Das war er aber nicht«, sagt Kießling. Berücksichtigt man diesen sogenannten Skalierungseffekt, steht die Erwärmung an der Perm‐​Trias‐​Grenze dem heutigen Klimawandel in Sachen Geschwindigkeit in nichts nach. Damals war mit der Erwärmung ein gewaltiges Artensterben von über 90 Prozent der Meerestiere verbunden.1

Studien, die deutliche Klimaveränderungen in Zeiträumen von etwa 200 Jahren ähnlich den gegenwärtigen aufzeigen, sammeln sich nach und nach durch verbesserte Proxy‐​Rekonstruktionsmethoden an … sofern jemand (weiterhin) Geld dafür springen lässt. Zwei Beispiele:

Der Klimawandel förderte die landwirtschaftliche Innovation und den Austausch in ganz Asien
[…] Genau zwischen 1659 und 1590 BP [before present /​vor heute] (291 bis 360 AD) berichten historische Aufzeichnungen über mehrere Jahrzehnte mit besonders katastrophalen Ernten. Die schwankenden Ernteerträge nach diesem Zeitpunkt könnten die Abwanderung der landwirtschaftlichen Kernzone Chinas aus dem Tal des Gelben Flusses in Richtung Süden gefördert haben. Der Bau des Großen Kanals während der Sui‐​Dynastie ([…] 581 bis 618 AD) diente dem Zweck, das in Südchina produzierte Getreide von Hangzhou im südlichen Zentralchina nach Luoyang, Chang’an und zur nördlichen Grenze in der Nähe von Peking zu transportieren.2

Schnelle Temperaturschwankungen in der Tiefsee im Holozän entdeckt
[Holozän: jetziges Erdzeitalter, seit etwa 12.000 Jahren im Gange…] Hier testen wir einen neuen Proxy – die Sauerstoffisotopensignatur einzelner benthischer Foraminiferen [Mini‐​Meeresschnecken] – um schnelle (das heißt monatliche bis dekadische) Schwankungen der Temperatur und des Salzgehalts des tiefen Ozeans in den Sedimentaufzeichnungen zu erkennen. Wir wenden diese Technik in 1000 m Wassertiefe im östlichen Äquatorialpazifik während sieben Intervallen von 200 Jahren Holozän an. Die Variabilität von δ18O in Foraminiferen während der letzten 200 Jahre liegt unterhalb der Nachweisgrenze, aber δ18O‑Signaturen aus zwei Intervallen des mittleren Holozäns deuten auf Temperaturschwankungen von mehr als 2 °C innerhalb von 200 Jahren hin.3

Gleichzeitigkeit

Folgende Grafik, gezeichnet nach Angaben im neuesten IPCC‐​Bericht 4 von 2021, zeigt eindeutig, dass seit einigen Jahrzehnten die Temperaturen über allen Land‐ beziehungsweise Eisflächen der Welt gleichzeitig steigen:

Da sie auf Thermometerdaten beruhen, reichen die Kurven in der Grafik maximal bis 1850 zurück.

Wer nichts über Temperaturentwicklungen vor 1850 weiß, würde wahrscheinlich die Kurven unwillkürlich nach links verlängern und annehmen: Vor 1850 gab es Temperaturschwankungen um ein »normales« niedriges Niveau herum. Auch eine Verlängerung der Kurven nach rechts liegt nahe oder wird sogar wahrnehmungsphysiologisch angestoßen: Wenn wir nichts unternehmen, werden die Temperaturen weiter und weiter steigen!

Visualisierungen wissenschaftlicher Aussagen wirken emotional. Die Achterbahndarstellungen vergangener Temperaturentwicklungen, die in der 2. Folge vorgestellt wurden, veranlassen eine Emotion: Was bergauf geht, wird auch wieder bergab gehen. Die Hockeyschläger der 2. und 3. Folge, zu denen die Kurven oben passen, wirken dagegen beängstigend.

Um zu bemerken, wie sehr Emotionen im Spiel sind, ist es nützlich, sowohl Achterbahnen als auch Hockeyschläger auf sich wirken zu lassen. Manche Menschen können sich – lebensgeschichtlich bedingt – nicht testweise auf die jeweils andere Emotion einlassen, ohne auf den Böden ihrer Realitäten ins Wanken zu geraten. Sehen sie Grafiken, die zur jeweils anderen Emotion veranlassen, entwickeln sie psychophysische Energien, um den Veranlassungseffekt abzuwehren. Ähnlich emotional wie Visualisierungen, nur nicht so anschaulich, wirken sprachliche Äußerungen. Entsprechend vorsichtig sei mit dem Thema weitergemacht.

Nach einer Studie, die in der 3. Folge vorgestellt wurde, waren die Temperaturen in Asien in den vergangenen 2000 Jahren noch nie so hoch wie am Ende des 20. Jahrhunderts. Zugleich ergab eine andere Studie, dass diese Aussage auf China nicht zutrifft. Beides kann stimmen. Die Temperaturentwicklung in China, ein kleiner Teil Asiens, könnte in der Mittelwertbildung der Temperaturen für Gesamtasien untergehen.

Längerfristige Temperaturtrends können auch innerhalb von Nationen gebietsweise steigen oder fallen oder konstant bleiben. Hier zwei – wegen Urheberrechtskram beziehungsweise mangels Geld für Anwaltsbefragungen – vergröbert gezeichnete Beispiele für Indien und die USA5:

Im Zeitraum zwischen 1941 und 1999 wurde es im Nordosten Indiens teilweise kälter (blaue Punkte) und im Rest Indiens wärmer (rote Punkte). Im Zeitraum zwischen 1961 und 2015 wurde es im Osten des Inlands der USA kälter und im Westen sowie an Teilen der Ostküste wärmer.

Wären solche Unterschiede nicht irgendwie zu berücksichtigen, wenn es zum Beispiel um Erklärungen von Waldbränden durch die globale Erwärmung geht?

Mitteltemperatur

Was bedeutet eigentlich »globale Erwärmung« beziehungsweise eine gestiegene globale Mitteltemperatur? Bedeutet sie: Gebiete, in denen die Temperaturen stiegen, waren insgesamt größer als Gebiete mit Temperatursenkungen? Oder bedeutet sie: Sämtliche Temperaturunterschiede zusammengenommen und gemittelt wurden größer als Null? Was bedeutet dabei »sämtliche«? Was bedeutet »Temperaturunterschiede«? Unterschiede zwischen Temperaturen am jeweiligen Temperaturmessort oder zwischen Zusammenfassungen von Temperaturen an unterschiedlichen Temperaturmessorten? Was bedeutet es, sich vom Ansteigen hingezeichneter Kurven beeindrucken zu lassen, ohne zu wissen, was ihr Ansteigen eigentlich besagt?

Auf der Suche nach Antwort zu all diesen Fragen begegne ich ungeahnten Komplexitäten. 

Zu deren Vereinfachung nützt ein Modell. Das Modell besteht aus zwei gleich großen Räumen, die eine Wand trennt:

Die Innentemperaturen der beiden Räume A und B seien von Außentemperaturen unbeeinflussbar. Die Räume seien so beschaffen, dass sie keine Wärme beziehungsweise Kälte nach außen abgeben können. Die Trennwand zwischen den Räumen lasse keine Wärme beziehungsweise Kälte durch. In Raum A herrsche eine Temperatur von 10 °C und in Raum B eine Temperatur von 30 °C:

Was passiert beim Entfernen der Trennwand?

Nach einem kurzen Anpassungsprozess herrscht in beiden Räumen eine Temperatur von (10 + 30) / 2 = 20 °C.

Was bedeutet es, wenn gesagt wird: Die Mitteltemperatur steigt um 2 °C?

Es bedeutet, dass eine »globale Erwärmung« stattfindet.
In beiden Räumen steigt die Temperatur auf 20 + 2 = 22 °C.6

Nun wird das Modell etwas verändert. Die Trennwand ist wieder da. In beiden Räumen herrscht bittere Kälte. Aber dann bekommt Raum A eine Klimaanlage, die für eine Raumtemperatur von 10 °C sorgt. Raum B bekommt eine Klimaanlage, die für eine Raumtemperatur von 30 °C sorgt.

Was passiert beim Entfernen der Trennwand?

Es bildet sich ein Temperaturgefälle. Ein Mittelwert von (10 + 30) / 2 = 20 °C herrscht in einem Übergangsbereich in der Mitte der Räume, der schmäler als jedes noch so kleine Thermometer ist.

Veränderungen der Klimaanlagen sollen nun Temperaturänderungen erzeugen.

Was bedeutet es, wenn gesagt wird: Die Mitteltemperatur steigt um 2 °C?

Alles Mögliche!

[1] beide Räume wurden um 2 °C wärmer
[2] Raum A wurde kälter, doch Raum B dafür sehr warm
[3] in Raum A blieb es gleich warm und Raum B wurde wärmer
[4] Raum A wurde sehr viel wärmer, während es in Raum B gleich warm blieb
[5] beide Räume nahmen eine Temperatur von 22 °C an …

In allen Fällen ergibt sich dieselbe Mitteltemperatur:
[1] (12 + 32)/2 = 22 °C
[2] (5 + 39)/2 = 22 °C
[3] (10 + 34)/2 = 22 °C usw.

In der zweiten Modellvariante ist die Mitteltemperatur eine Zahl, die sich auf kein Gebiet bezieht, in dem sie herrschen könnte oder nachmessbar wäre. Geht es um die Frage, ob und wie es sich in den beiden Räumen nach einer Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um 2 °C leben lässt, kommt man nicht darum herum, die Temperaturregionen der Räume im Einzelnen zu betrachten und dort die Temperaturen zu messen.

Umgekehrt sagt eine gleich bleibende globale Mitteltemperatur in der zweiten Modellvariante nicht aus, dass kein Klimawandel stattfinden würde. In Raum A könnte die Temperatur dramatisch von 10 °C auf 5 °C fallen und in Raum B von 30 °C auf 35 °C steigen. Der Mittelwert wäre unverändert: (5 + 35)/2 = 20 °C.

Die wirkliche Welt besteht aus unzähligen Räumen, deren durchlässige Begrenzungen in veränderlichen Ausmaßen und Abständen zueinander herumschwabbeln, zwischen denen nichtlineare Temperaturgefälle bestehen und deren regionale Klimaanlagen – Meeresströmungen, Städte, Inlandsgewässer, Wälder, Berge, Wolken und anderes mehr in Kombination mit der Sonneneinstrahlung – ihre Heiz‐ beziehungsweise Kühlleistungen permanent in jeder Sekunde verändern. Was bedeutet in einer solchen Welt das Steigen oder Fallen einer Mitteltemperatur?

2007 erschien in einer Fachzeitschrift für Nichtgleichgewichtsthermodynamik eine Abhandlung. Darin schrieben Christopher Essex (Mathematiker), Ross McKitrick (Ökonom/​Statistiker) und Bjarne Andresen (Physiker):

Es wird allgemein angenommen, dass sich die Atmosphäre und die Ozeane im letzten halben Jahrhundert erwärmt haben. Die Grundlage dieser Ansicht ist, dass es einen Aufwärtstrend in der Grafik einer […] Statistik gibt, die als ›globale Temperatur‹ bezeichnet wird […] Befürworter [der physikalischen Existenz einer Globaltemperatur] behaupten, dass diese […] Statistik eine Messung der jährlichen globalen Temperatur mit einer Genauigkeit von ± 0,05 °C darstellt. Darüber hinaus nehmen sie an, dass kleine Veränderungen in ihr, nach oben oder unten, eine direkte und eindeutige physikalische Bedeutung haben. […] Aber ein Mittelwert von Temperaturdaten, die aus einem Nichtgleichgewichtsfeld ermittelt wurden, ist keine Temperatur.7

Aus dem Rechenwert »globale Mitteltemperatur« eine physikalische Größe zu machen, die physikalische Wirkungen hat, halten die Autoren für unwissenschaftlich. Damit stellen sie die Wissenschaftlichkeit unzähliger Klimaforschungen in Frage, die der steigenden globalen Mitteltemperatur Wirkungen auf alles Mögliche zuschreiben.

Zusätzlich behauptet die Abhandlung, dass es von der Methode der Mittelwertbildung abhängen kann, ob ein thermodynamisches Nichtgleichgewichtsfeld als wärmer oder kälter werdend erscheint. Um das vorzuführen, rechnen die Autoren an einem Beispiel verschiedene Methoden der Mittelwertbildung durch. Welche davon am geeignetsten sei, schreiben sie, lasse sich nur ungenügend oder gar nicht aus den physikalischen Zusammenhängen ableiten. In den Klimawissenschaften wird traditionell das oben am Zweiraummodell vorgeführte arithmetische Mittel verwendet: alle Werte addieren und durch ihre Anzahl teilen.

Nicht in Frage stellt die Abhandlung, was ihr vorgeworfen wurde: Dass es keine globale Erwärmung geben könnte, bloß weil sie mit der Methode der arithmetischen Mittelung von Temperaturdaten irdischer Messungen nicht nachweisbar ist.

Um zu entscheiden, ob ich die Abhandlung von Essex, McKitrick und Andresen, von der ich an vielen Stellen nur »Bahnhof« verstehe, nicht lieber als wissenschaftlich zu extremistisch links liegen lassen sollte, surfe ich nach wissenschaftlichen Arbeiten, die sie erwähnen.

In einer Studie von 2017 wird die Abhandlung in folgendem Zusammenhang erwähnt:

[Z]ur Mittelung der Mikroskalentemperatur kann eine Reihe von Verfahren angewandt werden, die zu unterschiedlichen Makroskalenwerten führen, sofern die Mikroskalentemperatur über die Mittelungsregion nicht konstant ist. Die bloße Vermutung, dass es einen Makrowert gibt, sagt also nichts darüber aus, ob und wie dieser Wert mit einzelnen Mikrovariablen zusammenhängt, und sie stellt ganz sicher keine Beziehung zwischen der Makrovariablen und den Mikrogrößen her. Das Fehlen eines theoretischen Zusammenhangs macht es unmöglich, mikroskalige Messungen zuverlässig mit großskaligen Darstellungen zu verknüpfen (Essex et al., 2007; Maugin, 1999). 8

Etwas einfacher drückt sich ein zur Diskussion gestellter, aber zur Zeit des Schreibens dieses Textes in keiner Fachzeitschrift erschienener Aufsatz von 2022 aus, der eine Danksagung an Bjarne Andresen enthält:

Der Begriff der Mitteltemperatur ist für eine Reihe von Bereichen, einschließlich der Klimawissenschaften, von entscheidender Bedeutung. Bislang fehlt jedoch eine korrekte thermodynamische Grundlegung oder es wird sogar angenommen, diese sei unmöglich. 9

Soweit ich verstehe, versucht der Aufsatz, einen thermodynamisch fundierten Zusammenhang zwischen Makro‐ und Mikroskalenwerten herzustellen – auf das Zweiraummodell, zweite Variante, übertragen: einen fundierten Zusammenhang zwischen den messbaren Temperaturen innerhalb der Räume und einer berechneten Mitteltemperatur beider Räume insgesamt gesehen.

CO2

Mit ihrer Infragestellung klimawissenschaftlicher Bemühungen hatten sich Essex, McKitrick und Andresen in manchen Kreisen unbeliebt gemacht. Rasmus Benestad, ein Klimawissenschaftler und ehemaliger Autor beim IPCC, schrieb kurz nach Erscheinen der Abhandlung:

Das ganze Papier ist im Zusammenhang mit dem Klimawandel irrelevant, weil es einen sehr zentralen Punkt außer Acht lässt. CO2 wirkt auf sämtliche Oberflächentemperaturen der Erde, und um das Signal‐​Rausch‐​Verhältnis zu verbessern, wird ein gewöhnliches arithmetisches Mittel das gemeinsame Signal in allen Messungen verstärken und die internen Schwankungen unterdrücken, die räumlich inkohärent sind (zum Beispiel nicht durch CO2 oder andere externe Einflüsse verursacht). Die Wahl muss also nicht unbedingt physikalisch begründet werden, sondern ist Teil eines wissenschaftlichen Tests, der es uns ermöglicht, ein eindeutiges ›Ja‹ oder ›Nein‹ zu erhalten.10

Zur Vorstellung, interne Schwankungen würden sich innerhalb der interessierenden Zeitspannen herausmitteln, passen Hockeyschläger besser als Achterbahnen mit ihren sich nicht herausmittelnden Temperaturbergen und ‑tälern. Aber wohl noch wichtiger: Was bei Essex, McKitrick und Andresen durch die Mittelung verloren geht, die »räumlich inkohärente« Körperlichkeit, in der Temperaturen messbar sind, ist für Benestad »Rauschen«, das man möglichst vollständig loswerden muss, damit die Wirkung von CO2 auf das Klima zutage tritt.

Benestads Erklärung spiegelt ein Grundverständnis der klimawissenschaftlichen Kreise wider, denen er angehört. Zwölf Jahre nach Benestad erklärte es zum Beispiel Tim Palmer, ein Physiker und Meteorologe mit vielen Wissenschaftsmedaillen, in einem Interview ähnlich:

Aus wissenschaftlicher Sicht liegt der Hauptschwerpunkt der Voraussagen der [Klima‐] Modelle auf der globalen Mitteltemperatur, […] weil dies die wesentliche Sache ist, die steigendes Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre bewirkt: sie erhöht die Temperatur der Erdoberfläche. Durch Messung des globalen Mittels […] wird eine Quantität abgeschätzt, bei der das Verhältnis zwischen Signal und Rauschen maximal ist. Das Signal ist der Effekt des […] Kohlenstoffdioxids, das wir in die Atmosphäre tun; das Rauschen ist die interne Variabilität des Klimas, die Fluktuationen, die wirklich nichts mit dem steigenden Anteil des CO2 zu tun haben. […] Also, wenn wir auf die globale Ebene gehen, befindet sich die chaotische Variablitität praktisch auf einem Minimum und der Einfluss des CO2-Antriebs auf einem Maximum. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das ein praktisch sehr robuster Indikator dafür, wie Kohlenstoffdioxid das Klima verändert: es erwärmt die globale Temperatur.11

Palmer versucht, sich für Laien verständlich auszudrücken. Er sagt: die globale Mitteltemperatur wird gemessen. Er sagt nicht: die globale Mitteltemperatur wird berechnet. Er sagt: ein steigender Kohlenstoffdioxidgehalt in der Atmosphäre bewirkt eine steigende Mitteltemperatur. Er sagt nicht: ein steigender Kohlenstoffdioxidgehalt in der Atmosphäre geht mit einer steigenden Mitteltemperatur einher. In beiden Fällen werden statistische Gebilde und physikalische Gebilde in dieselbe Realitätsebene gestellt.

Wohl alle, die Statistik lernen, werden gleich zu Beginn gewarnt: Verwechsle niemals statistische Entsprechungen mit Ursache/​Wirkungsbeziehungen! Berühmt ist der Storchenfall: Je mehr Störche in einem Gebiet leben, desto mehr Kinder pro Frau kommen zur Welt. Störche bringen wahrscheinlich trotzdem keine Menschenkinder. Wahrscheinlicher entsteht der statistische Zusammenhang dadurch, dass sowohl das Aufkommen von Störchen als auch die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in ländlichen Gebieten höher liegen als in städtischen.12

Wissenschaftler wie Benestad und Palmer werden wohl kaum in die Storchenfalle tappen. CO2, ein physikalisches Gebilde, kann nur auf andere physikalische Gebilde eine physikalische Wirkung ausüben. Auf statistische Zahlen kann CO2 keine physikalische Wirkung ausüben. Benestad und Palmer gehen davon aus, dass sich die physikalische Wirkung des atmosphärischen Anstiegs von CO2 statistisch in einer erhöhten, nach arihtmetischem Verfahren berechneten globalen Mitteltemperatur ausdrückt. Habe ich ihre Argumentation richtig verstanden? Da sich die physikalische Welt durch eine »chaotische Variabilität« auszeichnet, die die physikalische Wirkung des CO2 auf das Klima verdeckt, ist es zur Untersuchung der physikalischen Wirkung des atmosphärischen CO2-Anstiegs auf das Klima nötig, von den physikalisch messbaren Temperaturen der Erde zu abstrahieren? Bedeutet das nicht, dass sich die Aussage, ein steigender CO2-Gehalt in der Atmosphäre verursache Temperaturerhöhungen, die das Klima verändern, im Wesentlichen auf eine statistische Entsprechung stützt wie sie zwischen Störchen und Geburtenraten besteht?

Über CO2 und Laborexperimente, die vielleicht eine klimatische Wirkung in Richtung Temperaturerhöhung vermuten lassen, und auch über Klimamodelle wird noch einiges herauszufinden sein. Doch ist bezüglich Temperaturen und Mittelwerten noch sehr viel offen, so dass die nächste Folgen noch etwas an ihnen rütteln werden.

Damit zwischenzeitlich nichts verharmlost wird: Im Jahr 2021 waren die arithmetischen Jahresmittelwerte von Temperaturdaten fast überall auf der Welt höher als die über den Zeitraum von 1981 bis 2010 arithmetisch gemittelten Temperaturdaten!13

Die grauen Bereiche in der Grafik bedeuten: fehlende Werte. Das blasseste Rosa bedeutet eine Erhöhung zwischen 0 und 0,5 °C und das hellste Blau eine Verringerung zwischen 0 und 0,5 °C. Das dunkle Rot oben links in Ost‐​Kanada bedeutet eine Erhöhung von über 2,5 °C!

Verweise

Alle Zitate aus englischsprachigen Quellen sind unautorisiert übersetzt. Text in eckigen Klammern wurde zu Erklärungszwecken hinzugefügt.

1 Presseerklärung der FAU 10.11.2015: FAU‐​Wissenschaftler zeigen, dass Erderwärmung in der Vergangenheit genauso schnell voranschritt wie heute. Studie: DB Kemp, K Eichenseer, W Kiessling: Maximum rates of climate change are systematically underestimated in the geological record. Nature Communications 6, Article number: 8890 (2015), DOI: 10.1038/ncomms9890.

2 J d’Alpoim Guedes, RK Bocinsky: Climate change stimulated agricultural innovation and exchange across Asia. Science Advances, 31.10.2018, Vol 4, Issue 10, DOI: 10.1126/sciadv.aar4491

3 SC Bova, TD Herbert, B Fox‐​Kemper: Rapid variations in deep ocean temperature detected in the Holocene. AGU Volume 43, Issue23, 16.12.2016, Pages 12190 – 12198, DOI 10.1002/2016GL071450

4 Grafik nach Angaben in IPCC: Climate Change 2021 – The Physical Science Basis | Technical Summary, S. 64. Die Daten hören leider schon 2014 auf. Laut HadCRUT4 ist die globale Temperatur zwischen 2014 und 2022 um rund 0,01 °C gestiegen (WoodForTrees).

5 Grafiken erstellt anhand von M Arora et al.: Evaluation of temperature trends over India. Hydrological Sciences Journal, 50:1, ‑93, DOI 10.1623/hysj.50.1.81.56330, IAHS Press 2005, S. 88, und T F Partridge et al.: Spatially Distinct Seasonal Patterns and Forcings of the U.S. Warming Hole. AGU Geophysical Research Letters,45, 2055 – 2063. DOI 10.1002/2017GL07646, S. 2058
mit Landkarten aus Wikipedia (Indien, USA).

6 Mit der Addition von Temperaturen sind Probleme verbunden, die Diskussionen wie beim Physics Stack Exchange anregen, aber hier ignoriert werden.

7 C Essex, R McKitrick, B Andresen: Does a Global Temperature Exist? Journal of Non‐​Equilibrium Thermodynamics, vol. 32, no. 1, 2007, pp. 1 – 27. DOI 10.1515/JNETDY.2007.001, Abstract

Tipp für Interessierte: Österreichischsprachige Vorlesungsreihe zur Thermodynamik an der Universität Wien

8 J E McClure, A L Dye, C T Miller, W Gray: On the consistency of scale among experiments, theory, and simulation. Hydrol. Earth Syst. Sci., 21, 1063 – 1076, 2017, DOI 10.5194/hess-21 – 1063‐​2017, S. 1066

9 A E Allahverdyan, S G Gevorkian et al.: Thermodynamical definition of mean temperature. DOI 10.48550/arXiv.2207.02343, 5. Juli 2022

10 Rasmus Benestad: Does a Global Temperature Exist? RealClimate 25.3.2007

11 Interview von Sabine Hossenfelder mit Tim Palmer: Did scientists get climate change wrong? 15.11.2019. Diese Art Zahlenfetisch ist ein Reflex oder eine Ausstülpung des Geldfetischs.

12 Wikimedia Taz666 CC BY‐​SA 3.0

13 Grafik von NOAA: GHCN Gridded Products (gesehen 18.8.2022)

Bild: Sergej Borissowitsch Krasnow »Über der Arktis« 1981 (https://t.me/SocialRealm)

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