Gedenken und Mahnung zum Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus vor der deutschen Botschaft in Moskau

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Es ist nicht möglich, heute, hier, vor der deutschen Botschaft in Moskau, zum 8. Mai zu sprechen, ohne über Verrat zu reden. Nicht über den Verrat, den die heutige Bundesregierung begeht, indem sie sich zum Diener der Vereinigten Staaten machen lässt, der im Verlust der Souveränität resultierte, und in dem der wirtschaftlichen Perspektive. Nicht über den Verrat, den das Schweigen zur Sprengung von Nord Stream bedeutet. Nein, an diesem Tag geht es um einen tiefen, einen abscheulichen moralischen Verrat.

Vielleicht können wir erst heute wieder ermessen, wie tief er geht. Viele von uns haben all die Jahre wahrgenommen, wie die Regierung in Kiew den Donbass bombardierte; wir alle, die wir die Bevölkerung dort in dieser Zeit unterstützten, wissen um die Ernsthaftigkeit dieser Gefahr, wir haben mit ihnen gelitten, gehofft und gebangt.

Seit Russland eingegriffen hat, um diese Gefahr zu bannen, und damit eine Welle der Veränderung um die Welt jagte, hat sich all dies vervielfacht, der Schrecken, den wir wahrnehmen mussten, bis in die Ruinen von Gaza, aber auch die Hoffnung, bis ins Herz Afrikas.

Es ist wichtig, das zu erwähnen, um zu begreifen, worin die Ungeheuerlichkeit des Verrats liegt, von dem ich sprechen will. Denn all das, Zorn, Trauer, Beharren, Hoffnung, ist nötig, um zu verstehen, wofür dieser 8. Mai eigentlich steht, weil es uns, wenn auch nur ansatzweise, begreifen lässt, wie es den sowjetischen Soldaten ergangen sein muss, die damals auf den Trümmern des Nazi‐​Reiches standen, das sie bezwungen hatten.

Es sind 1.600 Kilometer von Moskau bis Berlin. In den vier Jahren, in denen die Rote Armee diese Strecke kämpfend zurücklegte, begegnete sie dem schlimmsten Grauen, das die Menschheitsgeschichte zu bieten hat. Von tausenden zerstörten Dörfern und Städten auf sowjetischem Boden, von Menschen, die lebend in Bergwerksschächte geworfen wurden, oder eingeschlossen in Kirchen oder Schulen verbrannten, über Auschwitz und Treblinka bis in die Hauptstadt der Täter, nach Berlin.

Wenn wir heute feststellen, oder auch schon vor Jahren feststellten, wie viel Kraft es erfordert, das Schreckliche auszuhalten, anzusehen, ohne die eigene Menschlichkeit zu verlieren – wie viel schwerer muss es ihnen damals gefallen sein, die unter ungeheuren Opfern diese faschistische Bestie bezwungen haben, und die dabei, jeder Einzelne, Millionen von ihnen, der Unmenschlichkeit ins Gesicht blicken mussten.

Jeder von uns dürfte diesen Moment kennen, an dem der Zorn und Wut einen zu verschlingen droht.

Ob es das Massaker von Odessa war, das sich in diesem Jahr zum zehnten Mal jährte, oder eine der unzähligen Raketen, die in all dieser Zeit im Donbass einschlugen und Freunde oder Verwandte töteten, oder die Berichte von den unzähligen Verbrechen des Kiewer Regimes, von denen wir bis heute nur die Spitze des Eisbergs gesehen haben.

Aber einer der Sätze, die im Donbass am häufigsten zu hören waren, gleich zu Beginn, lautete: »Wir sollten nicht so werden wie sie.« Das bedeutet aber, auch diesen eigenen, diesen berechtigten Zorn zu überwinden. Es gelingt; die militärische Sonderoperation Russlands kostete sehr wenigen Zivilisten das Leben.

Aber wie viel Zorn hatten die sowjetischen Soldaten zu überwinden, die damals in Berlin standen? Welch gewaltige Leistung war es, nach all dem Unbeschreiblichen, was sie gesehen hatten, nicht einem Wunsch nach Vergeltung nachzugeben und das besiegte Deutschland in die gleiche Ruinenlandschaft zu verwandeln, die sich über hunderte Kilometer sowjetischen Bodens erstreckte, nachdem die Wehrmacht auf ihrem Rückzug alles zerstörte, was sie zerstören konnte?

Das ist es, wofür der 8. Mai in Deutschland steht. Ja, für jene von uns, die sich in der Tradition der deutschen Antifaschisten sehen, unstrittig der Tag der Befreiung, und letzten Endes damals auch für jene Deutschen, die noch gar nicht begriffen, wozu man sie benutzt hatte, aber er steht auch für einen Akt der Gnade. Der desto gewaltiger ist, als sich das nicht verordnen, nicht befehlen lässt, durch keine Macht der Welt, weil jeder Einzelne der vielen Millionen diesen Kampf mit sich selbst austragen musste. Gnade, und die Chance, es besser zu machen.

Das ist der Grund, warum aus dem 8.Mai 1945 die Verpflichtung erwächst, das Übel des Faschismus nicht mehr emporkommen zu lassen.

Die Verpflichtung, anderen gegenüber nicht weniger menschlich zu handeln. Und warum es keine Floskel war, wenn in meiner Heimat DDR die Rede war von Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion, eine Dankbarkeit, die sich heute auf das russische Volk erstrecken müsste.

Nichts könnte ferner davon sein als die leidenschaftliche Feindseligkeit, mit der diese Bundesregierung Geld und Waffen nach Kiew schickt, um einen Krieg zu verlängern, der Russland schwächen soll, die Ukraine aber vernichtet.

Die blinde Arroganz, mit der selbst Auftritte von Sängerinnen sabotiert werden, weil sie Russinnen sind. Die Rachsucht, mit der deutsche Politiker von deutschen Raketen auf Moskauer Ministerien fantasieren. Die Zuneigung, mit der man ein Regime in Kiew überschüttet, dessen Bandera‐​Verehrung klar zeigt, dass man sich hier mit Faschisten einlässt.

In den letzten zwei Jahren überschlug sich all das, und zuletzt erklärten sie sogar die Republiken Donezk und Lugansk zu terroristischen Vereinigungen, was es schon unter Strafe stellt, von ihnen zu berichten, die Fahnen zu zeigen oder Hilfe zu leisten. Oder all dies getan zu haben.

Nur, wenn man bereit ist, diesen gewaltigen Akt der Gnade wahrzunehmen, versteht man wirklich, was es bedeutet, wenn in Berlin, auf dem Gelände des sowjetischen Ehrenmals in Treptow, auch dieses Jahr wieder nicht nur die russische, sondern auch alle sowjetischen Fahnen verboten sind, alle Uniformen, alle Lieder, die an den zweiten Weltkrieg erinnern.

»Druschbär« von Inga Sesganowa vor der deutschen Botschaft Moskau

Dieses Ehrenmal ist das Grab für mehr als 5.000 sowjetische Soldaten. Die Statue des Soldaten, der sein Schwert über dem zerschmetterten Hakenkreuz gesenkt hat und ein Kind im anderen Arm trägt, beendet die Linie der Denkmäler, die mit dem Schmieden dieses Schwertes in Magnitogorsk beginnt. Treptow ist der angemessene Ort, um an diesen Akt der Gnade, an die Vergeltung, die nicht geübt wurde, zu erinnern. Der achte Mai ist der angemessene Tag dafür, weil es der Tag ist, an dem dieses geschenkte neue Leben begann. Es ist dieses Geschenk, das verraten wurde.

Und das geht tiefer als das abstoßende Dienertum gegenüber Washington, als der Verstoß gegen Verträge wie den Zwei‐​Plus‐​Vier‐​Vertrag, nach dem vom vereinigten Deutschland nur Frieden ausgehen solle; es geht tiefer als Heuchelei und Lüge durch Politiker wie Angela Merkel oder Frank‐​Walter Steinmeier, oder der blinde Hass einer Annalena Baerbock.

Zwischen Deutschland und der völligen Verwüstung stand am 8. Mai 1945 nur eines: die moralische Stärke der Roten Armee.

Das Mindeste, was von Deutschland zu erwarten wäre, ist, sich so zu verhalten, dass dieser Moment der Gnade nicht wie ein historischer Fehler wirkt. Die Regierung, vor deren Botschaft wir hier stehen – und ich bestehe auf der Hoffnung, dass sie eben nicht für Deutschland spricht, sondern nur für die Regierung – sträubt sich mit allen Kräften selbst gegen dieses Mindeste.

Darum mischt sich in die freudige Erinnerung an die Befreiung und die Dankbarkeit gegenüber jenen, die diese Befreiung erkämpft haben, auch Scham. Und Zorn. Ein Zorn, der antreibt, diesen elenden Zustand zu beenden.

Aber man sollte nicht zu düster enden. Diese Gestalten, die heute die deutsche Politik prägen, können zwar alles verraten, was an Deutschland je gut und wertvoll war, und das Land in den moralischen wie wirtschaftlichen Ruin treiben, aber eines können sie noch weniger als ihre Vorläufer – sie können nicht siegen.

Im Gegenteil. Sie können ihre Niederlage bereits riechen. Nicht nur in Kiew, auch in Berlin, Brüssel und Washington. Denn es gibt noch etwas, wofür der 8. Mai 1945 steht: auch wenn es nicht immer so aussieht, am Ende ist die Menschlichkeit stärker.

Und bis zu dem Moment, an dem wir den 8. Mai unserer Generation erreichen, gilt der gleiche alte Satz:

Unsere Sache ist gerecht. Wir werden siegen!

Rede von Liane Kilinc vor der deutschen Botschaft in Moskau am 8. Mai 2024

Bild: Liane Kilinc und Mitstreiter vor der deutschen Botschaft in Moskau

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