Ant­wort auf T. Mohrs Ultra­im­pe­ria­lis­mus­the­se und sei­ne Kri­tik am Multipolarismus

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1. Zusam­men­fas­sung der Ansich­ten von T. Mohr

T. Mohr möch­te mit sei­nen Arti­kel »Mul­ti­po­la­ris­mus ist Neo-Kaut­sky­is­mus. Über ech­te Ent­na­zi­fi­zie­rung und ihre Fein­de« erneut sei­ne The­se bele­gen, dass die herr­schen­den Klas­sen aller Län­der im Wirk­lich­keit eng zusam­men­ar­bei­ten und die hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen etwa in der Ukrai­ne nur zu dem Zweck geführt wer­den, die Arbei­ter zu ver­wir­ren und sie dar­an zu hin­dern, die ver­schwin­dend klei­ne Cli­que von super­rei­chen Kapi­ta­lis­ten zu stür­zen.1 Zu die­ser Ver­wir­rung trägt nach T. Mohr vor allem die Ideo­lo­gie des Mul­ti­po­la­ris­mus bei. Auf sie stüt­ze sich das impe­ria­le Klein­bür­ger­tum und die Arbeiteraristokratie.

Mohr glaubt, dass es Natio­nen nicht län­ger geben kann, da sie die Kri­te­ri­en der natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät nicht mehr erfül­len. Die glo­ba­le herr­schen­de Klas­se sei aus der US-ame­ri­ka­ni­schen herr­schen­den Klas­se her­vor­ge­gan­gen in einer Zeit, in der die Tei­lung der Welt in ein sozia­lis­ti­sches und kapi­ta­lis­ti­sches Lager (1945 – 89) eine töd­li­che Bedro­hung für den Kapi­ta­lis­mus und die Kapi­ta­lis­ten schuf. Unter die­sen Umstän­den konn­te tat­säch­lich eine ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche Ein­heit der Kapi­ta­lis­ten aus aller Welt geschmie­det wer­den. Wobei der Kern die­ser Klas­se in den USA behei­ma­tet war, ihr aber auch Kapi­ta­lis­ten aus ande­ren Welt­re­gio­nen wie West­eu­ro­pa und Japan angehören.

Nach dem Sieg des Wes­tens im Kal­ten Krieg sei in Russ­land ein »wlas­so­wis­ti­sches« Regime instal­liert wor­den, um sicher­zu­stel­len, dass sich kei­ne auto­no­me natio­na­le Füh­rung her­aus­bil­den konn­te. In Chi­na sei bereits Mit­te der 1970er-Jah­re mit Hil­fe von Nixon und Kis­sin­ger ein Regime instal­liert wor­den, das die Kul­tur­re­vo­lu­ti­on been­de­te, die Arbei­ter ent­waff­ne­te und kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Kräf­te im Aus­land unterstützte.

Irgend­wann Ende der 1960er, Anfang der 1970er-Jah­re scheint die­se ult­ra­rei­che Kapi­ta­lis­ten­cli­que einen bedeu­ten­den Macht­zu­wachs erfah­ren zu haben. Mohr macht dies an meh­re­ren Fak­to­ren fest:

  1. Auf­he­bung der Gold­de­ckung des Dol­lars 1972
  2. Der Pro­zess gegen die Vie­rer­ban­de 1980
  3. Die Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy 1963
  4. Die Ver­öf­fent­li­chung des Berichts Gren­zen des Wachs­tums 1972

Hin­ter­grund war sei­ner Mei­nung nach die Gefahr einer »glo­ba­len Revo­lu­ti­on« in den 1970er-Jah­ren – oder soll­te man bes­ser sagen Welt­re­vo­lu­ti­on? Die­se soll sich zusam­men­set­zen aus der Ent­ko­lo­ni­sie­rung der Drit­ten Welt, der Kul­tur­evo­lu­ti­on in der Zwei­ten Welt und den radi­ka­len Pro­test­be­we­gun­gen in der Ers­ten Welt.

Die glo­bal herr­schen­de Cli­que, die sich aus den reichs­ten Män­nern der USA, Euro­pas, Russ­lands und Chi­nas zusam­men­set­ze, habe unter ande­rem in den 90er-Jah­ren beschlos­sen sich von den Ver­pflich­tun­gen und Ver­bind­lich­kei­ten zu tren­nen, die mit der Exis­tenz der USA selbst ver­bun­den waren. Ins­be­son­de­re soll­te die gro­ße und poten­ti­ell wider­spens­ti­ge ein­hei­mi­sche »Arbei­ter­aris­to­kra­tie« – gemeint ist die US-Arbei­ter­klas­se – besei­tigt werden.

Der Auf­stieg des Südens sei eben­falls bewusst von der glo­ba­len herr­schen­den Cli­que insze­niert wor­den. Ost­asi­en sei durch die Nie­der­la­ge der glo­ba­len Vor­hut des Sozia­lis­mus, wel­che die Zer­schla­gung der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on und die Wie­der­ver­skla­vung Chi­nas ermög­lich­te, zu einer siche­ren und lebens­fä­hi­gen Ope­ra­ti­ons­ba­sis für ein gestraff­tes und ver­klei­ner­tes Sys­tem gewor­den. Der Impe­ria­lis­mus macht inso­fern eine Rück­ent­wick­lung durch. Sei­ne Akti­vi­tä­ten wer­den auf bestimm­te Regio­nen in Asi­en kon­zen­triert, in allen ande­ren Län­dern wird die Indus­trie stillgelegt.

Par­al­lel dazu habe die herr­schen­de Klas­se mit der Kli­ma- und der Coro­na-Hys­te­rie eine Ideo­lo­gie ent­wi­ckelt, die eine bru­ta­le Real­lohn­ab­sen­kung der west­li­chen Arbei­ter unab­ding­bar erschei­nen lässt. Die west­li­che »Arbei­ter­aris­to­kra­tie« – gemeint ist die west­li­che Arbei­ter­klas­se –, das Klein­bür­ger­tum und sogar die unte­ren Rän­ge der Bour­geoi­sie sind für die der­zei­ti­ge herr­schen­de Klas­se offen­sicht­lich über­flüs­sig. Sie sol­len degra­diert, aus­ge­plün­dert und zu einem gro­ßen Teil aus­ge­rot­tet wer­den. T. Mohr glaubt, dass die Res­sour­cen Russ­lands und Chi­nas gegen­wär­tig auf poli­tisch ver­tret­ba­re Wei­se opti­mal aus­ge­beu­tet wer­den. Denn wenn die glo­ba­len Kapi­ta­lis­ten aggres­si­ver vor­ge­hen wür­den, bestün­de dort die Gefahr einer sozia­len Revo­lu­ti­on und der Wie­der­kehr des Sozialismus.

Die Ideo­lo­gie des Mul­ti­po­la­ris­mus die­ne dazu, »die Elen­des­ten und Unter­drück­tes­ten des Kerns der Ers­ten Welt und folg­lich die poten­ti­ell Revo­lu­tio­närs­ten« einer klein­bür­ger­li­chen Poli­tik der Putin, Xi und Lula unter­zu­ord­nen und sie damit von einer Revo­lu­ti­on abzuhalten.

2. Zur Fra­ge des Ultraimperialismus

Man muss T. Mohr dank­bar sein, dass er sei­ne Theo­rie aus­führ­li­cher begrün­det hat, so dass sich Ansatz­punk­te für eine Dis­kus­si­on erge­ben. Am Beginn des Arti­kels zitiert er Mao Tse-Tung mit der For­de­rung, die öko­no­mi­sche Lage der ver­schie­de­nen Klas­sen zu ana­ly­sie­ren. Lei­der kommt Mohr die­ser For­de­rung selbst nicht nach. Denn mit öko­no­mi­schen Fra­gen im enge­ren Sin­ne beschäf­tigt er sich über­haupt nicht, was bei sol­chen weit­rei­chen­den Schluss­fol­ge­run­gen, pro­ble­ma­tisch ist. Des Wei­te­ren setzt er bestimm­te Fak­ten und Wer­tun­gen zum Bei­spiel zur chi­ne­si­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on oder zur Revo­lu­ti­ons­theo­rie – also dem Wis­sen­schaft­li­chen Kom­mu­nis­mus – als selbst­ver­ständ­lich vor­aus, die dies kei­nes­falls sind. Auch hier­aus resul­tie­ren Fehlschlüsse.

Zunächst ein­mal ist T. Mohr zuzu­stim­men, wenn er schreibt, dass es dem US-Impe­ria­lis­mus im Kal­ten Krieg in der Tat gelun­gen ist, eine »ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche« Ein­heit aller Kapi­ta­lis­ten der Welt unter sei­ner Füh­rung zustan­de zu brin­gen. Man muss aller­dings fra­gen, wie genau die­se Ein­heit aus­sah. Sie hat­te damals tat­säch­lich eher den Cha­rak­ter eines Bünd­nis­ses unter­schied­li­cher natio­na­ler Kapi­ta­li­en, die durch ein gemein­sa­mes Inter­es­se zusam­men­ge­schweißt wur­den. Dabei han­del­te es sich um das Inter­es­se, ihre archai­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se zu erhal­ten. Das bedeu­te­te damals gera­de noch kei­ne Ver­schmel­zung der Kapi­ta­li­en. Viel­mehr exis­tier­ten in jedem west­eu­ro­päi­schem Land und in Japan gro­ße, eng mit­ein­an­der ver­floch­te­ne natio­na­le Kapi­tal­kom­ple­xe mit den gro­ßen Geschäfts­ban­ken als Zen­trum. In der BRD wur­de die­ser Kom­plex als »Deutsch­land AG« bezeich­net. Die­se Kon­zer­ne gehör­ten weit über­wie­gend ein­hei­mi­schen Kapi­ta­lis­ten und gera­de nicht US-Kapi­ta­lis­ten. Zwar gab es durch­aus eini­ge Fir­men wie Opel im US-Besitz, aber die­se bestimm­ten nicht wesent­lich die Kapi­tal­zu­sam­men­set­zung. Die ein­hei­mi­schen Kapi­ta­lis­ten ord­ne­ten sich den USA unter, weil das in ihrem Inter­es­se lag. Ande­rer­seits betrieb die BRD bei Respek­tie­rung der Grund­li­ni­en der US-Poli­tik, die vor allem in der Nie­d­er­rin­gung des Sozia­lis­mus bestand, durch­aus noch eine eigen­stän­di­ge Poli­tik auf ver­schie­de­nen Fel­dern, die heu­te völ­lig undenk­bar wäre. Es gab vor allem im Bereich der Wirt­schafts­po­li­tik eini­ge Rei­bun­gen und Kon­flik­te mit den USA. Die­se wur­de frei­lich durch zahl­rei­che Orga­ni­sa­tio­nen wie die Euro­päi­sche Gemein­schaft, die NATO und die G7 bear­bei­tet und schließ­lich bei­gelegt. Dabei muss­ten bei­de Sei­ten Kom­pro­mis­se ein­ge­hen.2 Mit infor­mel­len Tref­fen wie den Bil­der­ber­gern, der Tri­la­te­ra­len Kom­mis­si­on und schließ­lich – ab 1970 – dem Welt­wirt­schafts­fo­rum ver­such­ten die US-Kapi­ta­lis­ten immer erfolg­rei­cher, gemein­sa­me Grund­li­ni­en der Poli­tik mit ihren euro­päi­schen und japa­ni­schen Klas­sen­brü­dern zu erarbeiten.

Natür­lich waren die USA als Super­macht der weit­aus stär­ke­re Teil, nicht nur auf­grund ihrer in der Nach­kriegs­zeit über­ra­gen­den Wirt­schafts­macht, son­dern auch wegen ihrer über­wäl­ti­gen­den mili­tä­ri­schen Stär­ke (Nukle­ar­waf­fen, Flug­zeug­trä­ger, Atom-U-Boo­te) und ihres kul­tu­rel­len Ein­flus­ses. Den­noch waren die reichs­ten Män­ner der Welt zur Zeit des Kal­ten Krie­ges (1945 – 89) weit­aus weni­ger mäch­tig, als es die heu­ti­gen Mil­li­ar­dä­re sind. Sie kon­trol­lier­ten damals im Wesent­li­chen nur die eige­ne Indus­trie und ihre Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen in Län­dern der Drit­ten Welt, nicht aber die Indus­trie­kom­ple­xe der ande­ren wich­ti­gen Indus­trie­län­der und deren Auslandsinvestitionen.

An die­sen Eigen­tums­ver­hält­nis­sen hat sich in den 70er-Jah­ren nichts geän­dert. Es gibt also kei­nen Grund, anzu­neh­men, dass US-Mil­li­ar­dä­re gera­de in die­sem Jahr­zehnt einen bedeu­ten­den Macht­zu­wachs erlangt haben. Dafür gibt es kei­ne Anhalts­punk­te. Kei­ner der von Mohr genann­ten Punk­te (Ende der Kon­ver­tier­bar­keit des US-Dol­lars in Gold 1973, Pro­zess gegen die Vie­rer­ban­de in Chi­na 1980, Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy 1963 und Ver­öf­fent­li­chung des Berichts Die Gren­zen des Wachs­tums 1972 kann die­se Annah­me begründen.

Ganz im Gegen­teil befan­den sich das inter­na­tio­na­le Anse­hen und die Macht der USA in den 70er-Jah­ren auf sei­nem bis­he­ri­gen Tief­punkt. Haupt­ur­sa­che waren die Erfol­ge der Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on und der ver­lo­re­ne Viet­nam­krieg. Das Ende der Kon­ver­tier­bar­keit des Dol­lars war ein Resul­tat der Geld­men­gen­ex­pan­si­on, die zur Finan­zie­rung die­ses Krie­ges erfor­der­lich war. Sie deu­te­te zunächst eher auf eine Schwä­che als auf eine Stär­ke der US-Wirt­schaft. Die Auf­he­bung der Kon­ver­tier­bar­keit des Dol­lars hat­te nicht die Fol­gen, die ihm häu­fig zuge­schrie­ben wur­den. Der Volcker-Schock von 1979 war viel bedeu­ten­der. Erst mit ihm war es den USA mög­lich, die gan­ze Welt in ihren finan­zi­el­len Wür­ge­griff zu neh­men. Die Indus­trie­ali­sie­rung der Drit­ten Welt wur­de bru­tal been­det, eben­so das Wirt­schafts­wachs­tum der Indus­trie­län­der und rie­si­ge Men­gen an Kapi­tal ström­ten bei Zin­sen von 20 Pro­zent und mehr in die USA, so dass sie die Sowjet­uni­on pro­blem­los tot­rüs­ten konn­ten (600-Schif­fe-Navy, MX-Atom­ra­ke­ten, SDI-Pro­gramm einer laser­ge­stütz­ten Rake­ten­ab­wehr im Welt­all etc.).

Der Bericht Die Gren­zen des Wachs­tums war zunächst ein Pro­gramm, das von einer bestimm­ten Kapi­tal­frak­ti­on vor­ge­schla­gen wur­de. Er mar­kiert die Wie­der­kehr von Euge­nik und Mal­thu­sia­nis­mus, die nach dem Zwei­ten Welt­krieg schein­bar für immer dis­kre­di­tiert waren. Aller­dings bewirk­te er nicht sofort eine Ände­rung der Wirt­schafts­po­li­tik. Viel­mehr war er eine Pro­gramm­schrift, die genau­so wie Karl Pop­pers Die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de (1945) und Mil­ton Fried­manns Kapi­ta­lis­mus und Frei­heit (1962) erst lang­fris­tig Wir­kung entfaltete.

Rich­tig ist aber, dass die Herr­schen­den in den 1970er-Jah­ren den his­to­ri­schen Kom­pro­miss mit der Arbei­ter­klas­se auf­kün­dig­ten und Kurs auf eine Zer­schla­gung ihrer Orga­ni­sa­tio­nen nah­men, was dann in den 1980er-Jah­ren im Wesent­li­chen auch erfolg­te. Das lag wohl einer­seits dar­an, dass der Sozia­lis­mus nicht mehr als gro­ße Gefahr gese­hen wur­de. Denn gera­de in die­ser Zeit trat die Sowjet­uni­on in eine Sta­gna­ti­ons­pe­ri­ode ein. Ande­rer­seits kam es im Wes­ten zu einem Umschlag in eine lan­ge Wel­le mit depres­si­vem Grund­ton, so dass der Anreiz für eine Erhö­hung der Pro­fi­tra­te gera­de­zu explo­siv wur­de.3

Wenn die US-Kapi­ta­lis­ten, die reichs­ten Män­ner der Welt, vor 1989 noch nicht ein­mal die west­li­chen Indus­trie­kom­ple­xe kon­trol­lier­ten, dann erst recht nicht die rus­si­sche und chi­ne­si­sche Indus­trie. In Russ­land ris­sen sich nach 1991 ein­hei­mi­sche Olig­ar­chen die Filet­stü­cke des Volks­ver­mö­gens unter den Nagel. Der Rest wur­de still­ge­legt. US-Kapi­ta­lis­ten kamen zunächst nicht zum Zuge. Erst in den 00er-Jah­ren woll­ten eini­ge die­ser Olig­ar­chen ihren Besitz an US-Kon­zer­ne ver­kau­fen, so Michail Cho­dor­kow­ski, der mit sei­ner Fir­ma Jukos einen gro­ßen Teil der rus­si­schen Ölför­de­rung kon­trol­lier­te. Genau die­se Ent­wick­lung ver­hin­der­te aber Putin, so dass sich nach wie vor gro­ße Tei­le der rus­si­schen Wirt­schaft im Besitz von ein­hei­mi­schen Kapi­ta­lis­ten befin­den. Dane­ben exis­tiert ein beträcht­li­cher Staatssektor.

Ähn­lich ver­lief die Ent­wick­lung in Chi­na. Eine ein­hei­mi­sche Kapi­ta­lis­ten­klas­se ent­stand über­haupt erst in den 1990er-Jah­ren. Trotz beträcht­li­cher Aus­lands­in­ves­ti­tio­nen gehört nach wie vor der Löwen­an­teil der chi­ne­si­schen Indus­trie ein­hei­mi­schen Kapi­ta­lis­ten. Dane­ben gibt es auch in Chi­na einen gro­ßen Staats­sek­tor und – im Unter­schied zu Russ­land – sind zudem alle gro­ßen Geschäfts­ban­ken staatlich.

Völ­lig anders ver­lief die Ent­wick­lung in Euro­pa: Dort wur­den die gro­ßen natio­na­len Mono­pol­kom­ple­xe in den frü­hen 00er-Jah­ren auf­ge­löst und ihre Akti­en an den Finanz­märk­ten ver­scher­belt. Die gelang­ten nach und nach in den Besitz gro­ßer Schat­ten­ban­ken wie Black­rock. Erst in den 2010er-Jah­ren kam es zu einem beträcht­li­chen Mach­zu­wachs der US-Mil­li­ar­dä­re wie Gates und Bezos. So ver­hal­ten sie sich inzwi­schen auch. Die Län­der West­eu­ro­pas dage­gen sind von Ver­bün­de­ten auf den Sta­tus von Vasal­len her­ab­ge­sun­ken, die man belie­big her­um­kom­man­die­ren und demü­ti­gen kann.

T. Mohr behaup­tet, dass alle Län­der mit Aus­nah­me der USA auf­grund der star­ken öko­no­mi­schen Ver­flech­tung nicht mehr sou­ve­rän sei­en und kei­ne von den USA unab­hän­gi­ge Poli­tik mehr betrei­ben könn­ten. Ein sol­cher Ver­lust der Sou­ve­rä­ni­tät zeich­net sich seit dem Beginn des Zeit­al­ters des Impe­ria­lis­mus 1895 tat­säch­lich für die meis­ten Län­der der Welt ab. Im Grun­de genom­men konn­te man ab die­ser Zeit nur noch die Groß­mäch­te Russ­land, Deutsch­land, Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich, die USA und Japan, ab 1945 nur noch die bei­den Super­mäch­te USA und Sowjet­uni­on als im eigent­li­chen Sin­ne sou­ve­rän bezeichnen.

Nach 1989 schien es in der Tat eine Zeit­lang so, als wären die USA als ein­zi­ge sou­ve­rä­ne Macht übrig geblie­ben und als hät­ten sie sich von einem Natio­nal­staat in ein Empire (so der Titel eines Buches von Hardt und Negri) verwandelt.

Aller­dings gelang es Russ­land und Chi­na, ihre ver­lo­ren gegan­ge­ne Sou­ve­rä­ni­tät in den letz­ten Jah­ren zumin­dest teil­wei­se wie­der­her­zu­stel­len. Sie bil­den zusam­men­ge­nom­men einen rie­si­gen inne­ren Markt, der grö­ßer ist als der des Wes­tens. Zudem wer­den dort um Grö­ßen­ord­nun­gen mehr Natur­wis­sen­schaft­ler aus­ge­bil­det. Es ist aus die­sem Grund nicht ein­zu­se­hen, war­um in die­sen bei­den Län­dern nicht alle Indus­trie­pro­duk­tio­nen ange­sie­delt sein soll­ten, die der Wes­ten auch besitzt.

In Chi­na und Russ­land existieren:

  1. Eine ein­hei­mi­sche, nicht vom Wes­ten abhän­gi­ge Kapi­ta­lis­ten­klas­se und ein gro­ßer Staatssektor
  2. Eine Bevöl­ke­rung mit wach­sen­dem Wohl­stand und dem­nach ein gro­ßer Absatz­markt, der es ermög­licht, alle Pro­duk­ti­ons­li­ni­en im Inland zu betreiben
  3. Kapi­tal­ex­port in gro­ßen Maß­stab, beson­ders nach Asi­en und Afri­ka (nur China)
  4. Ein her­vor­ra­gen­des Bil­dungs­sys­tem, das sich an der Welt­spit­ze befindet
  5. Zusam­men­ge­nom­men gro­ße Streit­kräf­te, die man nicht so ein­fach über­win­den kann

Das sind alles Anzei­chen einer tat­säch­li­chen staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät. Damit haben wir in der Tat eine Kon­stel­la­ti­on, wo sich erneut meh­re­re gro­ße kapi­ta­lis­ti­sche Blö­cke gegen­über­ste­hen. Da der Sozia­lis­mus gegen­wär­tig kei­ne Gefahr bedeu­tet, gibt es auch für die chi­ne­si­schen und rus­si­schen Kapi­ta­lis­ten kei­nen Grund, sich einer Macht unter­zu­ord­nen, die in ihrem Han­deln immer erra­ti­scher und ego­is­ti­scher wird. Wie stark die Wirt­schaft von Russ­land und Chi­na inzwi­schen ist, zeigt sich unter ande­rem dar­an, dass Russ­land die bru­ta­len Sank­tio­nen des Wes­tens 2022 pro­blem­los weg­ste­cken konn­te. Sie wirk­ten statt­des­sen als Anreiz für einen Wie­der­auf­bau der 1991 in gro­ßen Tei­len still­ge­leg­ten Industrie.

Der Ukrai­ne­krieg und der kom­men­de Wirt­schafts­krieg gegen Chi­na pas­sen eben­falls in die­ses Bild. Wer eine Stra­te­gie des Wan­delns am Abgrund (Brink­man­ship) fährt, wie es die USA gegen­wär­tig prak­ti­zie­ren, um auf die­se Wei­se Russ­land zu besie­gen, meint es todernst.

Tho­mas Röper hat zudem her­aus­ge­fun­den, dass Staats­an­ge­hö­ri­ge von Russ­land und Chi­na an der Vor­be­rei­tung der Coro­na-Pan­de­mie nicht betei­ligt waren. Weder gab es von dort aus­ge­hen­de Geld­flüs­se, noch waren Rus­sen oder Chi­ne­sen im Vor­feld der Pan­de­mie in irgend­wel­chen west­li­chen NGOs an ver­däch­ti­gen Akti­vi­tä­ten betei­ligt. Das kann man natür­lich bestrei­ten, dann aber bit­te mit Fak­ten und nicht mit wei­te­ren apo­dik­ti­schen Behaup­tun­gen.4

Auch kann über­haupt nicht die Rede davon sein, dass die US-Kapi­ta­lis­ten beschlos­sen haben, die USA als Land auf­zu­ge­ben. Es ist zwar zutref­fend, dass die Ver­la­ge­rung der Indus­trie in Ent­wick­lungs­län­der und vor allem nach Chi­na in den 1990er-Jah­ren dem Zweck dien­te, die noch vor­han­de­ne Macht der US-Arbei­ter­klas­se zu bre­chen. Aller­dings gin­gen die US-Kapi­ta­lis­ten davon aus, dass es ihnen gelin­gen wür­de, die­se Ent­wick­lungs­län­der wei­ter­hin wie in den Jah­ren 1989 bis 2007 unter ihrer Kon­trol­le zu hal­ten und ins­be­son­de­re in Chi­na den Kapi­ta­lis­mus voll­stän­dig wie­der­her­zu­stel­len. Erst die gro­ße Welt­wirt­schafts­kri­se im Wes­ten in den Jah­ren 2007 bis 09 und der gleich­zei­ti­ge Auf­stieg Chi­nas zeig­ten, dass die­se Plä­ne geschei­tert sind. Damit hat­ten die Kapi­ta­lis­ten natür­lich nicht gerechnet.

Die Reindus­tria­li­sie­rung der USA ist seit Trump offi­zi­el­le Poli­tik der US-Regie­run­gen. Dafür wer­den seit 2021 beträcht­li­che Geld­be­trä­ge zur Ver­fü­gung gestellt: So durch den Infla­ti­on Reduc­tion Act 369 Mil­li­ar­den US-Dol­lar, durch den Infra­struc­tu­re Invest­ment and Jobs Act 1,2 Bil­lio­nen und den Chips and Sci­ence Act wei­te­re 52 Mil­li­ar­den. Han­delt so eine Regie­rung, die von den Kapi­ta­lis­ten den Auf­trag bekom­men hat, das eige­ne Land auf­zu­ge­ben? Nicht die USA, son­dern Euro­pa soll nach den Pla­nun­gen der US-Eli­ten in ein ent­in­dus­tria­li­sier­tes Ödland ver­wan­delt wer­den. Die dor­ti­ge Indus­trie soll nach Ame­ri­ka ver­la­gert wer­den, eben­so die zu ihrem Betrieb benö­tig­ten Facharbeiter.

T. Mohr hat also irri­ger­wei­se den erst in den 00er-Jah­ren erfolg­ten beträcht­li­chen Macht­zu­wachs der US-Kapi­ta­lis­ten bereits auf die 70er Jah­re zurückprojiziert.

3. Chi­na und die Kulturrevolution

Die­ser Feh­ler ist mei­ner Mei­nung nach nicht zufäl­lig, son­dern sym­pto­ma­tisch für den Mao­is­mus. Vie­le sei­ner Autoren haben sich schon seit lan­gem ange­wöhnt, Gesell­schaf­ten und Staa­ten auf­grund von poli­ti­schen und mora­li­schen, nicht aber von öko­no­mi­schen Kri­te­ri­en zu cha­rak­te­ri­sie­ren. So schreibt T. Mohr davon, dass in Chi­na nach dem Tode von Mao ein Regime mit Hil­fe von Nixon und Kis­sin­ger instal­liert wur­de, um die Arbei­ter zu ent­waff­nen etc. Da fragt man sich natür­lich, wie so etwas mög­lich sein konnte. Das wird nicht erklärt. Es wird der Ein­druck erzeugt, als wäre Mao mora­lisch gut und das Land damit sozia­lis­tisch, Deng dage­gen mora­lisch schlecht und das Land damit kapi­ta­lis­tisch. Das glei­che Sche­ma wird auf die Sowjet­uni­on ange­wen­det: Sta­lin war nach Ansicht der Mao­is­ten gut und das Land damit sozia­lis­tisch, Chruscht­schow schlecht und das Land kapi­ta­lis­tisch. Durch eine sol­che Ver­wen­dung wer­den alle Begrif­fe ihres Inhalts beraubt. Denn auch unter Deng änder­te sich an die sozio-öko­no­mi­schen Basis des Lan­des zunächst natür­lich noch nichts. Die Her­aus­bil­dung einer Kapi­ta­lis­ten­klas­se brauch­te Zeit, im Fall von Chi­na unge­fähr zwei Jahrzehnte.

Schließ­lich hat T. Mohr eine extrem posi­ti­ve Ein­schät­zung der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, die ich eben­falls für falsch hal­te. Für ihn ist sie der Höhe­punkt der revo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lung des 20. Jahr­hun­derts über­haupt. Dafür gibt es aber kei­ne Anzei­chen. Denn Aus­gangs­punkt der Ent­wick­lung war die Tat­sa­che, dass Mao im Ver­lauf der 1960er-Jah­re in Polit­bü­ro und Zen­tral­ko­mi­tee sei­ne Mehr­heit ver­lo­ren hat­te. Er stell­te fest, dass eini­ge »Macht­ha­ber in der Par­tei« wie Deng Xiao-ping »den kapi­ta­lis­ti­schen Weg gehen«, also den Kapi­ta­lis­mus in Chi­na wie­der­her­stel­len woll­ten. Die Haupt­ur­sa­che die­ser Ent­wick­lung lie­ge im ideo­lo­gi­schen Bereich. Wenn der Revi­sio­nis­mus auf wis­sen­schaft­li­chem, künst­le­ri­schem, lite­ra­ri­schen Gebiet nicht been­det wür­de, müs­se die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats zwangs­läu­fig schei­tern. Um den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lungs­weg dau­er­haft zu sichern, brau­che es eine Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, in der die klas­sisch-chi­ne­si­sche Kul­tur und die kapi­ta­lis­tisch-west­li­che Kul­tur durch eine wahr­haft sozia­lis­ti­sche Kul­tur ersetzt würden.

Es ver­steht sich von selbst, dass die­se Auf­fas­sung mit dem Mar­xis­mus nichts mehr zu tun hat, son­dern eine rein idea­lis­ti­sche Theo­rie ist. Denn das Gewicht der bür­ger­li­chen und vor­bür­ger­li­chen Kul­tur, Reli­gi­on, Kunst, Lite­ra­tur und Ideo­lo­gie bedroh­te den chi­ne­si­schen Arbei­ter­staat viel weni­ger als ein ein­zi­ges Jahr des Über­le­bens der ein­fa­chen Waren­pro­duk­ti­on. Die Revo­lu­ti­on wur­de also nicht so sehr durch Über­bleib­sel der Ver­gan­gen­heit behin­dert, son­dern durch die unzu­rei­chen­de Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te, so Ernest Man­del.5

Dar­an konn­te Mao aber kurz­fris­tig nichts ändern. Das hat­te er 1958 mit dem gro­ßen Sprung nach vor­ne ver­sucht und war kata­stro­phal geschei­tert. Das Resul­tat sei­ner Ver­su­che, in kür­zes­ter Frist zum Kom­mu­nis­mus vor­zu­sto­ßen, war eine gro­ße Hungersnot.

Mit­tels der mobi­li­sier­ten Roten Gar­den gelang es Mao zwar die Macht­ha­ber in der Par­tei, die den kapi­ta­lis­ti­schen Weg gehen woll­ten, aus­zu­schal­ten und sei­ne in den 60er-Jah­ren ver­lo­re­ne Mehr­heit in Polit­bü­ro und Zen­tral­ko­mi­tee wie­der­her­zu­stel­len. Aller­dings wuss­te er mit sei­ner Macht nichts anzu­fan­gen. Einen wei­te­ren gro­ßen Sprung anzu­ord­nen, wag­te er dann doch nicht. Der lang­wie­ri­ge und wenig heroi­sche Indus­trie­auf­bau, die sprich­wört­li­chen »Mühen der Ebe­ne« wur­de durch die Kul­tur­re­vo­lu­ti­on eher behin­dert und wei­ter chaotisiert.

Der Enthu­si­as­mus der jugend­li­chen Roten Gar­den steht außer Zwei­fel. Aller­dings hat Mao die­sen Enthu­si­as­mus rich­tig­ge­hend ver­schwen­det. Das ist viel­leicht auch ein Grund, war­um sich Deng und die ande­ren Kader, die den »kapi­ta­lis­ti­schen Weg« gehen woll­ten, nach sei­nem Tod so rei­bungs­los durch­set­zen konn­ten: Mao hat­te außer ideo­lo­gi­schen Kam­pa­gnen kei­ne gang­ba­re Stra­te­gie für die Lösung der gro­ßen gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me Chi­nas anzu­bie­ten. Außer­dem war es Mao selbst, der die Kul­tur­re­vo­lu­ti­on 1969 been­de­te und nicht etwa die »Macht­ha­ber des kapi­ta­lis­ti­schen Weges«. Deng und die ande­ren Kader waren damals von der Macht ent­fernt wor­den und hät­ten gar nicht die Mög­lich­keit gehabt, ent­spre­chen­des anzu­ord­nen. Auch das Bünd­nis mit den USA wur­de von Mao geschlos­sen und nicht etwa von Deng. Minis­ter­prä­si­dent Zhou Enlai und Maos Frau Jiang Qing führ­ten die wich­tigs­ten Ver­hand­lun­gen auf chi­ne­si­scher Seite.

T. Mohr cha­rak­te­ri­siert das Regime von Deng wie folgt: »Ein Regime, das […] die roten Bäue­rin­nen für ihre Füh­rungs­rol­le in der Gro­ßen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on mit der faschis­ti­schen Ein-Kind- Poli­tik bru­tal bestraf­te.« Zu einer sol­chen Schluss­fol­ge­rung kann man eigent­lich nur kom­men, wenn man Frau­en als Gebär­ma­schi­nen betrach­tet. Wie­so soll es eine schreck­li­che Stra­fe für eine Frau sein, wenn sie nur ein Kind gebä­ren darf? Die­se Poli­tik hat Chi­na etwa 400 bis 500 Mil­lio­nen zusätz­li­che Men­schen erspart und damit erst die mas­si­ve Armuts­re­duk­ti­on und den Auf­stieg der Arbei­ter­klas­se ermög­licht. Die Ein-Kind-Poli­tik war ange­sichts des knap­pen chi­ne­si­schen Acker­lan­des drin­gend erforderlich.

Wie das Bei­spiel Ukrai­ne zeigt, legt sich der Wes­ten bei der bru­ta­len Aus­beu­tung und Ver­ar­mung von ihm unter­wor­fe­nen Län­dern kei­ner­lei Hem­mun­gen auf. So soll­ten nach Mei­nung der west­li­chen Olig­ar­chen auch Russ­land und Chi­na zuge­rich­tet wer­den. Dass das angeb­lich nur des­we­gen nicht pas­siert, weil ansons­ten eine Revo­lu­ti­on dro­he, hal­te ich für abwe­gig. Gera­de in den am meis­ten ver­arm­ten Län­dern wie der Ukrai­ne und Syri­en ist eine sozia­le Revo­lu­ti­on nahe­zu unmög­lich (sie­he dazu Abschnitt 5).

4. Welt­re­vo­lu­ti­on nach 1968?

T. Mohr spricht von der Mög­lich­keit einer voll­stän­di­gen glo­ba­len Revo­lu­ti­on in den 1970er-Jah­ren. Die­se mani­fes­tie­re sich in der Ent­ko­lo­ni­sie­rung der Drit­ten Welt, der Kul­tur­evo­lu­ti­on in der Zwei­ten Welt und den radi­ka­len Pro­test­be­we­gun­gen in der Ers­ten Welt. Abge­se­hen von der Tat­sa­che, dass er den Begriff »Welt­re­vo­lu­ti­on« bewusst mei­det, weil er – obwohl ursprüng­lich Gemein­gut der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung – inzwi­schen nur noch mit dem Trotz­kis­mus asso­zi­iert wird, kommt Mohr mit sei­ner Ein­schät­zung dama­li­gen trotz­kis­ti­schen Vor­stel­lun­gen in der Tat recht nahe. Das gilt sowohl für die drei Sek­to­ren der Welt­re­vo­lu­ti­on in trotz­kis­ti­scher Ter­mi­no­lo­gie – sozia­le Revo­lu­ti­on in den impe­ria­lis­ti­schen Län­dern, poli­ti­sche Revo­lu­ti­on in den büro­kra­ti­sier­ten Arbei­ter­staa­ten und Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on in der Drit­ten Welt – als auch in sei­ner posi­ti­ven Ein­schät­zun­gen für die Mög­lich­keit einer Welt­re­vo­lu­ti­on in den 1970er-Jah­ren. Ernest Man­del war bekannt­lich ein noto­ri­scher Opti­mist. In sei­nen Schrif­ten aus die­ser Zeit, also Ende der 1960er, Anfang der 1970er-Jah­re hielt er eine Revo­lu­ti­on in Frank­reich zum Bei­spiel prak­tisch schon für gege­ben. Auch setz­te er gro­ße Hoff­nun­gen auf die Kul­tur­evo­lu­ti­on. Er glaub­te, dass sie der Beginn der poli­ti­schen Revo­lu­ti­on in allen Arbei­ter­staa­ten sei. Frei­lich ver­füg­te er damals nicht über die Infor­ma­tio­nen, über die wir heu­te ver­fü­gen. Spä­ter revi­dier­te Man­del sei­ne Ein­schät­zung.6

Zwar erschüt­ter­te die 68er-Bewe­gung die west­li­chen Gesell­schaf­ten in ihren Grund­fes­ten. Aber ein Über­gang zum Sozia­lis­mus kann nur bewusst erfol­gen. Vor­aus­set­zung hier­für wäre die Exis­tenz einer revo­lu­tio­nä­ren Avant­gar­de­par­tei. Wie der his­to­ri­sche Ver­rat der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Frank­reichs (PCF) gezeigt hat­te, gab es 1968 eine sol­che Par­tei in Frank­reich nicht mehr. Die »Kom­mu­nis­ten« über­nah­men viel­mehr die Rol­le der Sozi­al­de­mo­kra­tie und ret­ten das kapi­ta­lis­ti­sche Pri­vat­ei­gen­tum. Trotz­kis­ti­sche Par­tei­en wie die Ligue Com­mu­nis­te Révo­lu­ti­on­n­aire (LCR) waren vor 1968 völ­lig unbe­deu­tend. Das änder­te sich, als der Ver­rat der PCF im Nach­gang der Ereig­nis­se von 1968 für vie­le Arbei­ter offen­sicht­lich wur­de. Die LCR konn­te schließ­lich bis zu 15.000 Mit­glie­der gewin­nen. Das ist nicht wenig und wenn sie die­se Stär­ke bereits wäh­rend des Gene­ral­streiks 1968 gehabt hät­te, wäre die Geschich­te mög­li­cher­wei­se anders aus­ge­gan­gen. In den 1970er-Jah­ren gab es aber eine sol­che ein­ma­li­ge revo­lu­tio­nä­re Situa­ti­on nicht mehr und die num­me­ri­sche Stär­ke der LCR war in die­ser neu­en Situa­ti­on irrele­vant. Sie ging dann auch auf unter 2.000 Mit­glie­der im Jahr 2009 zurück, als sie sich schließ­lich auflöste.

Da es 1968 weder in Frank­reich noch in einem ande­ren west­eu­ro­päi­schen Land eine tat­säch­li­che revo­lu­tio­nä­re Avant­gar­de­par­tei gab, bestand kei­ne Mög­lich­keit für den Sturz der kapi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­ter­ord­nung und den Über­gang zum Sozialismus.

Die Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on hat­te zwar bedeu­ten­de Erfol­ge erzie­len kön­nen, so in Cuba, Alge­ri­en, Äthio­pi­en, Viet­nam, Ango­la und Mosam­bik. Dem stan­den aller­dings eini­ge kata­stro­pha­le Nie­der­la­gen gegen­über, so in Indo­ne­si­en, Chi­le und Kon­go. Ein flä­chen­de­cken­der Erfolg der Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on hät­te vor­aus­ge­setzt, dass das sozia­lis­ti­sche Lager die neu­en Arbei­ter­staa­ten sowohl mili­tä­risch als auch wirt­schaft­lich viel stär­ker unter­stützt hät­te, als es tat­säch­lich der Fall war. Nur wenn es mög­lich gewe­sen wäre, kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Söld­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen wie die UNITA zu besie­gen und gleich­zei­tig den Lebens­stan­dard der Men­schen in Län­dern wie Ango­la rasch über das Niveau der sie umge­ben­den kapi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lungs­län­der zu stei­gern, wären wei­te­re Revo­lu­tio­nen in der Drit­ten Welt zu erwar­ten gewe­sen. Da das nicht pas­sier­te und sich die­se Län­der statt­des­sen demü­ti­gen­den Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gram­men von IWF und Welt­bank unter­wer­fen muss­ten, erlahm­te der revo­lu­tio­nä­re Elan der Drit­ten Welt in den 1980er-Jahren.

Die Mög­lich­keit einer Welt­re­vo­lu­ti­on bestand also auch im Gefol­ge der 68er-Bewe­gung und der Kolo­ni­al­re­vo­lu­ti­on nicht. Das hat die Bour­geoi­sie offen­bar viel frü­her erkannt als die Füh­rer der Arbei­ter­par­tei­en und der sozia­lis­ti­schen Bewe­gung. Nur so ist es zu erklä­ren, dass sie bereits Anfang der 1970er-Jah­re den his­to­ri­schen Kom­pro­miss mit der Sozi­al­de­mo­kra­tie aufkündigte.

5. Aktua­li­tät der sozia­len Revolution?

Auch die­se Fehl­ein­schät­zung von T. Mohr, so den­ke ich, ist nicht zufäl­lig. Sie hängt offen­bar mit bestimm­ten Annah­men der Revo­lu­ti­ons­theo­rie – dem Wis­sen­schaft­li­chen Kom­mu­nis­mus – vor­aus, die nie expli­zit aus­ge­spro­chen, aber ganz offen­bar vor­aus­ge­setzt wer­den. Er schreibt unter ande­rem davon, dass der Mul­ti­po­la­ris­mus »die Elen­des­ten und Unter­drück­tes­ten des Kerns der Ers­ten Welt und folg­lich die poten­ti­ell revo­lu­tio­närs­ten« einer klein­bür­ger­li­chen Poli­tik unter­ord­nen wür­de. An ande­rer Stel­le wird behaup­tet, die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung ist eine der »poten­zi­ell rebel­lischs­ten Bevöl­ke­run­gen der Welt«. Schließ­lich hält Mohr die Ideo­lo­gie des Mul­ti­po­la­ris­mus genau des­halb für so gefähr­lich, weil er glaubt, dass die Mas­sen reif sei­en für den Kom­mu­nis­mus, wenn sie nur nicht durch die­se Ideo­lo­gie, durch Xi und Putin abge­lenkt wor­den wären. Letzt­lich ver­tritt Mohr eine Ver­elen­dungs­theo­rie: Je schlech­ter es den Men­schen geht, des­to eher rebel­lie­ren sie und sind bereit, den Kapi­ta­lis­mus zu stür­zen. Man braucht kaum zu beto­nen, dass die­se Aus­sa­gen mit dem Mar­xis­mus-Leni­nis­mus nichts mehr zu tun haben.

Die mar­xis­ti­sche Leh­re von der Revo­lu­ti­on geht davon aus, dass nur die Arbei­ter­klas­se in der Lage ist, den Kapi­ta­lis­mus zu stür­zen und den Kom­mu­nis­mus auf­zu­bau­en. Dar­in besteht auch ihre his­to­ri­sche Mis­si­on. Ande­re Klas­sen und Schich­ten mögen eben­falls ein Inter­es­se am Sturz des Kapi­ta­lis­mus haben, aber sie sind dazu nicht in der Lage. Nur die Arbei­ter kön­nen zum Bei­spiel als unmit­tel­ba­ren Pro­du­zen­ten den gan­zen Pro­duk­ti­ons­or­ga­nis­mus durch einen Gene­ral­streik still­le­gen und damit die Kapi­ta­lis­ten in die Knie zwin­gen. Wie zahl­rei­che Bei­spie­le aus der Geschich­te zei­gen, hängt in die­sem Fall selbst der hoch­ge­rüs­te­te Repres­si­ons­ap­pa­rat des bür­ger­li­chen Staa­tes in der Luft. Dies pas­sier­te zum Bei­spiel wäh­rend der Febru­ar­re­vo­lu­ti­on 1917 in Russ­land, beim Kapp-Putsch 1920 in Deutsch­land und beim Mili­tär­putsch in Spa­ni­en 1936.

Auch inner­halb der Arbei­ter­klas­se sind es nicht die am meis­ten ver­elen­de­ten und ärms­ten Tei­le, die beson­ders revo­lu­tio­när sind. Wie bereits Rosa Luxem­burg erkann­te, sind die­se Schich­ten noch nicht ein­mal für die Gewerk­schaf­ten orga­ni­sier­bar. Dar­an hat sich lei­der bis heu­te nichts geän­dert. His­to­ri­sche Revo­lu­tio­nen – zum Bei­spiel die Rus­si­sche Revo­lu­ti­on 1917, die Deut­sche Revo­lu­ti­on 1918 – 23 und der fran­zö­si­sche Gene­ral­streik im Mai und Juni 1968 – zei­gen, dass die Arbei­ter der Groß­be­trie­be in den zen­tra­len Indus­trie­bran­chen die wich­tigs­te Rol­le spiel­ten. Bekannt­lich waren das in Russ­land die Arbei­ter der Puti­low-Wer­ke, des damals größ­ten Maschi­nen­bau­un­ter­neh­mens des Lan­des. In Deutsch­land spiel­ten die revo­lu­tio­nä­ren Obleu­te der Ber­li­ner Metall­be­trie­be eine ähn­li­che Rolle.

Wei­te­re Vor­aus­set­zun­gen für eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on sind unter ande­rem die Exis­tenz von ele­men­ta­ren und höhe­ren For­me des Klas­sen­kamp­fes und einer Avant­gar­de­par­tei. In Län­dern wie der Ukrai­ne oder Syri­en, wo die Indus­trie flä­chen­de­ckend still­ge­legt wur­de, gibt es dem­nach auch kei­nen Klas­sen­kampf mehr. Die Unzu­frie­den­heit mit der elen­den Lebens­si­tua­ti­on zeigt sich in die­sem Fall viel­mehr im Auf­kom­men von faschis­to­iden Grup­pen wie dem Isla­mi­schen Staat oder den Asow-Batail­lon. Von einer sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on sind die Men­schen in der Ukrai­ne so weit ent­fernt, wie das nur mög­lich ist.

Zudem ist in der Ukrai­ne genau­so wie im Wes­ten die Repres­si­on so stark, dass an eine Revo­lu­ti­on oder selbst an den Auf­bau einer mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schen Avant­gar­de-Par­tei über­haupt nicht mehr zu den­ken ist. Folg­lich besteht auch kei­ne revo­lu­tio­nä­re Situa­ti­on, was die angeb­li­che ideo­lo­gi­sche Gefahr des Mul­ti­po­la­ris­mus natür­lich rela­ti­viert. Kern­punkt der mul­ti­po­la­ren Ideo­lo­gie ist die Nicht­ein­mi­schung in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten ande­rer Staa­ten. Von Russ­land und mehr noch von Chi­na ist dem­nach nicht zu erwar­ten, dass sie oppo­si­tio­nel­le Bestre­bun­gen in einer Welt­re­gi­on unter­stüt­zen, die von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten kon­trol­liert wird. Des­sen sind sich die Men­schen auch bewusst.

Das Medi­um Rus­sia Today ist bereits das höchs­te, was an Unter­stüt­zung denk­bar ist, und selbst die Wei­ter­füh­rung des deut­schen Diens­tes steht auf wacke­li­gen Beinen.

Der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung ist es bekannt­lich nicht gelun­gen, sich eigen­stän­dig von Faschis­mus zu befrei­en. Dazu war die Repres­si­on immer viel zu stark. Erst nach­dem er mili­tä­risch besiegt wur­de, konn­ten sie wie­der her­vor­tre­ten. Heu­te leben wir in einer Art grü­nem Mil­li­ar­därs­fa­schis­mus. Ver­mut­lich ist eine authen­ti­sche Orga­ni­sie­rung der Mas­sen nur mög­lich, wenn die­ser Mil­li­ar­därs­fa­schis­mus eine schwe­re Nie­der­la­ge erlei­det und der west­li­che Repres­si­ons­ap­pa­rat erschüt­tert wird. Das hat nichts mit Illu­sio­nen in Xi und Putin oder einer Stell­ver­tre­ter­po­li­tik zu tun, son­dern ist eine Tat­sa­che. T. Mohr sieht das selbst­ver­ständ­lich anders. Aber dann soll er bit­te erklä­ren, wie eine sozia­le Revo­lu­ti­on bei har­ter Repres­si­on ohne Avant­gar­de­par­te und ohne höhe­re For­men des Klas­sen­kamp­fes als Vor­be­rei­tung auf die­se Revo­lu­ti­on mög­lich ist.

6. Quel­len

Ernest Man­del: Revo­lu­tio­nä­re Stra­te­gien im 20. Jahr­hun­dert, Wien Mün­chen Zürich 1978

T. Mohr: Mul­ti­po­la­ris­mus ist Neo-Kaut­sky­is­mus. Über ech­te Ent­na­zi­fi­zie­rung und ihre Fein­de, Mag­ma, 25.04.2023, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2023/04/t‑mohr/multipolarismus-ist-neo-kautskyismus-ueber-echte-entnazifizierung-und-ihre-feinde/, abge­ru­fen am 12.05.2023

Vgl. Jan Mül­ler: Impe­ria­lis­mus und Gre­at Reset: Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus (Teil 3), Mag­ma 03.11.2022, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2022/11/janmueller/imperialismus-und-great-reset-der-spaetkapitalismus-teil‑3/, abge­ru­fen am 12.05.2023

Jan Mül­ler: Die Coro­na­hys­te­rie von 2020 bis 2022. Impe­ria­lis­mus und Gre­at Reset: Eine vier­te impe­ria­lis­ti­sche Epo­che? (Teil 7.3), Mag­ma, 14.03.2023, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2023/03/janmueller/die-coronahysterie-von-2020-bis-2022-imperialismus-und-great-reset-eine-vierte-imperialistische-epoche-teil‑7 – 3/, abge­ru­fen am 12.05.2023

Ver­wei­se

1 Zu der fol­gen­den Zusam­men­fas­sung sie­he: T. Mohr: Mul­ti­po­la­ris­mus ist Neo-Kaut­sky­is­mus. Über ech­te Ent­na­zi­fi­zie­rung und ihre Fein­de, Mag­ma, 25.04.2023, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2023/04/t‑mohr/multipolarismus-ist-neo-kautskyismus-ueber-echte-entnazifizierung-und-ihre-feinde/, abge­ru­fen am 12.05.2023

2 Vgl. Jan Mül­ler: Impe­ria­lis­mus und Gre­at Reset: Der Spät­ka­pi­ta­lis­mus (Teil 3), Mag­ma 03.11.2022, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2022/11/janmueller/imperialismus-und-great-reset-der-spaetkapitalismus-teil‑3/, abge­ru­fen am 12.05.2023

3 Vgl. Mül­ler 2022, a.a.O.

4 Vgl. Jan Mül­ler: Die Coro­na­hys­te­rie von 2020 bis 2022. Impe­ria­lis­mus und Gre­at Reset: Eine vier­te impe­ria­lis­ti­sche Epo­che? (Teil 7.3), Mag­ma, 14.03.2023, im Inter­net: https://magma-magazin.su/2023/03/janmueller/die-coronahysterie-von-2020-bis-2022-imperialismus-und-great-reset-eine-vierte-imperialistische-epoche-teil‑7 – 3/, abge­ru­fen am 12.05.2023

5 vgl. Ernest Man­del: Revo­lu­tio­nä­re Stra­te­gien im 20. Jahr­hun­dert, Wien Mün­chen Zürich 1978, S. 182

6 Vgl. Man­del 1978, a.a.O.

Bild: Gemäl­de »Annä­he­rung« von Juan Geno­vés, Spa­ni­en 1966

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