Mul­ti­po­la­ris­mus ist Neo-Kaut­sky­is­mus. Über ech­te Ent­na­zi­fi­zie­rung und ihre Feinde

Emory Douglas (1943 - ), Get Out of the Ghetto..., 1970
Lese­zeit61 min

Wer sind unse­re Fein­de? Wer sind unse­re Freun­de? Das ist eine Fra­ge die für die Revo­lu­ti­on erst­ran­gi­ge Bedeu­tung hat. […] Um sicher zu sein, daß wir die Revo­lu­ti­on nicht auf einen fal­schen Weg füh­ren, son­dern unbe­dingt Erfolg haben wer­den, müs­sen wir dafür sor­gen, daß wir uns mit unse­ren wah­ren Freun­den zusam­men­schlie­ßen, um unse­re wah­ren Fein­de zu bekämp­fen. Um die wah­ren Freun­de von den wah­ren Fein­den zu unter­schei­den, müs­sen wir die öko­no­mi­sche Lage der ver­schie­de­nen Klas­sen […] und deren jewei­li­ge Ein­stel­lung zur Revo­lu­ti­on analysieren.

Mao Tse-Tung1

Nichts ist ver­ach­tens­wer­ter als die Annah­me, dass öffent­li­che AUF­ZEICH­NUN­GEN der Wahr­heit entsprechen.

Wil­liam Bla­ke, Anno­ta­ti­ons to An Apo­lo­gy for the Bible by R. Wat­son (1798)

Was ich damit sagen will, ist, dass die Mas­sen­me­di­en und die Ent­wick­lung des Ver­kehrs­we­sens es uns unmög­lich machen, uns als getrenn­te Ein­hei­ten, als Natio­nen, zu betrach­ten. Ist Ihnen klar, dass ich nur etwa fünf Stun­den gebraucht habe, um von San Fran­cis­co hier­her zu kom­men? Es dau­ert nur zehn Stun­den, um von hier nach Viet­nam zu gelan­gen. Die herr­schen­den Krei­se erken­nen Krie­ge nicht ein­mal mehr an; sie nen­nen sie »Poli­zei­ak­tio­nen«. Sie nen­nen die Unru­hen des viet­na­me­si­schen Vol­kes »inne­re Unru­hen«. Was ich damit sagen will, ist, dass der herr­schen­de Kreis die Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns erken­nen und akzep­tie­ren muss. Sie wis­sen, dass es nur eine Welt gibt, aber sie sind ent­schlos­sen, der Logik ihrer Aus­beu­tung zu folgen.

Huey P. New­ton, Rede am Bos­ton Col­lege, 18. Novem­ber 1970

Für Kom­mu­nis­ten gibt es heu­te kei­ne drin­gen­de­re Fra­ge2 als die Bewer­tung der rus­si­schen mili­tä­ri­schen Son­der­ope­ra­ti­on (SMO), die nun in ihr zwei­tes Jahr geht. Unse­re Ant­wort bestimmt nicht nur unse­re unmit­tel­ba­re poli­ti­sche Tätig­keit, son­dern, was noch ent­schei­den­der ist, wie wir die SMO inter­pre­tie­ren, ist unwei­ger­lich eine Fra­ge, wie wir die Struk­tur der gegen­wär­ti­gen Welt­ord­nung inter­pre­tie­ren. Denn wie das Schick­sal der Kom­mu­nis­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on (KO) gezeigt hat, ist die Fra­ge der SMO ein­fach eine zuge­spitz­te Form der Impe­ria­lis­mus­fra­ge: Das heißt, was ist das Wesen und der Cha­rak­ter der heu­ti­gen Klassengesellschaft?

Wäh­rend es inner­halb der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung natür­lich eine Viel­zahl von Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge gibt, kön­nen wir für die Zwe­cke die­ser gro­ben Skiz­ze von zwei gro­ßen Lagern spre­chen: die­je­ni­gen, die die SMO in ers­ter Linie als aggres­siv und reak­tio­när anse­hen, und jene, die sie in ers­ter Linie als defen­siv und (zumin­dest poten­zi­ell) pro­gres­siv betrach­ten. In der deut­schen kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung las­sen sich die KPD (oder zumin­dest ihre Füh­rung), die MLPD und die KO (kom​mu​nis​ti​sche​.org) dem ers­ten Lager zuord­nen, die DKP, Frei­den­ker und die KO (kom​mu​nis​ti​sche​-orga​ni​sa​ti​on​.de) – sowie wir in der Frei­en Lin­ken Zukunft (FLZ) – dem ande­ren. Auf der inter­na­tio­na­len Büh­ne ist der bedeu­tends­te Ver­tre­ter des ers­ten Lagers die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Grie­chen­lands (KKE), des zwei­ten: die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on (KPRF). Theo­re­tisch neigt das ers­te Lager dazu, den Krieg als einen zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flikt um Inter­es­sensphä­ren zu inter­pre­tie­ren (zum Bei­spiel durch die Bril­le der Theo­rie der »impe­ria­lis­ti­schen Pyra­mi­de« der KKE). Die theo­re­ti­sche Per­spek­ti­ve des zwei­ten Lagers in die­ser Fra­ge ist viel­fäl­ti­ger, aber ich wer­de hier argu­men­tie­ren, dass sie sich impli­zit oder expli­zit auf die eine oder ande­re Form des Mul­ti­po­la­ris­mus stützt. Die­ser Begriff ist inso­fern schwer zu defi­nie­ren, als es sich dabei weni­ger um eine Theo­rie als viel­mehr um etwas han­delt, das je nach Kon­text als Slo­gan, als Kon­stel­la­ti­on von Bil­dern und Sug­ges­tio­nen, als Mar­ke oder als Hal­tung fun­giert.3 Wir kön­nen jedoch sagen, dass er die Über­zeu­gung beinhal­tet, dass die Welt heu­te von einem inten­si­ven Kampf zwi­schen den alten impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten (die im All­ge­mei­nen als die rela­tiv ein­heit­li­che Tria­de aus Euro­pa und Japan unter der Füh­rung der USA und der NATO ver­stan­den wird) und dem auf­stre­ben­den Glo­ba­len Süden (ein­schließ­lich Russ­land) bestimmt wird. Der Kampf des glo­ba­len Südens, ange­führt von den BRICS, ist in die­ser Welt­sicht von Natur aus (»objek­tiv«) fort­schritt­lich, unab­hän­gig vom kapi­ta­lis­ti­schen oder sogar offen reak­tio­nä­ren Cha­rak­ter der Regie­run­gen selbst (ein­schließ­lich Modis faschis­ti­schem Hin­dut­va-Regime). In extre­me­ren For­men wird der kapi­ta­lis­ti­sche Cha­rak­ter Chi­nas und sogar der rus­si­schen Föde­ra­ti­on in Fra­ge gestellt.

Kei­nes der bei­den Lager hat bis­her eine adäqua­te theo­re­ti­sche Dar­stel­lung des moder­nen Welt­sys­tems oder folg­lich ein poli­ti­sches Pro­gramm aus­ge­ar­bei­tet, das den Erfor­der­nis­sen des gegen­wär­ti­gen Augen­blicks gerecht wird – aus Grün­den, die ich in mei­nem Auf­satz »Impe­ria­lis­mus heu­te ist Ver­schwö­rungs­pra­xis« aus­führ­li­cher erläu­te­re. Ver­ein­facht gesagt, liegt das dar­an, dass bei­de von der grund­le­gen­den, feh­ler­haf­ten Annah­me aus­ge­hen, dass das wich­tigs­te Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip des Kapi­tals bis heu­te ant­ago­nis­ti­sche natio­na­le Blö­cke sind. War­um sol­che natio­na­len Blö­cke als das ent­schei­den­de Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip des moder­nen Kapi­tals ange­nom­men wer­den soll­ten, trotz der bedeu­ten­den Ver­än­de­run­gen in der Struk­tur der glo­ba­len Wirt­schafts­be­zie­hun­gen im letz­ten Jahr­hun­dert, wird nie begrün­det, son­dern ein­fach als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­ge­setzt oder dog­ma­tisch durch die mecha­ni­sche Anwen­dung mar­xis­ti­scher Tex­te vom Anfang des letz­ten Jahr­hun­derts oder frü­her behauptet.

Der Text, der auf die­se Wei­se am meis­ten miss­braucht wur­de, ist Lenins Der Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus. In der Tat ver­ste­hen bei­de Lager die heu­ti­ge Welt nicht, weil sie den Grad der Inte­gra­ti­on und Koor­di­na­ti­on auf den höchs­ten Ebe­nen der herr­schen­den Klas­se nicht erken­nen. Die­se wur­de durch den Kampf gegen die ers­te glo­ba­le Wel­le der sozialistischen/​kommunistischen Revo­lu­ti­on und deren end­gül­ti­ge Nie­der­la­ge radi­kal ver­än­dert. Vie­le haben die­se theo­re­ti­sche Blind­heit mit fol­gen­dem Argu­ment begrün­det oder ratio­na­li­siert: Wenn man behaup­tet, dass alle kapi­ta­lis­ti­schen Mäch­te im Wesent­li­chen unter einer Art kol­lek­ti­ver Füh­rung oder auch nur einer Art Entente Cor­dia­le ver­ei­nigt sind, dann ist das ipso fac­to »Ultra-Impe­ria­lis­mus«, und Ultra-Impe­ria­lis­mus war eine Theo­rie von Kaut­sky, die von Lenin wider­legt wur­de, und des­halb ist sie falsch. Q.E.D.4

Ein sol­ches Manö­ver reißt Lenins Kri­tik aus ihrem rea­len his­to­ri­schen Kon­text, ent­leert ihren Inhalt und kehrt ihre poli­ti­schen Impli­ka­tio­nen gera­de­zu um. Der Ultra­im­pe­ria­lis­mus im Sin­ne Kaut­skys bezeich­ne­te eine posi­ti­ve Ent­wick­lung, ein Moment einer sozi­al­de­mo­kra­ti­schen refor­mis­ti­schen Fan­ta­sie der Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus zum Sozia­lis­mus. Er argu­men­tier­te, dass die Finan­zia­li­sie­rung zu einer immer stär­ke­ren Zusam­men­ar­beit zwi­schen einer gerin­ge­ren Anzahl von Kar­tel­len füh­ren wür­de, wodurch die Ungleich­mä­ßig­kei­ten und Wider­sprü­che in der Wirt­schaft ver­rin­gert wür­den – im Gegen­satz zu Lenin, der rich­tig argu­men­tier­te, dass die Finan­zia­li­sie­rung die­se sogar noch ver­stär­ken wür­de. Es ist auch her­vor­zu­he­ben, dass Kaut­skys Idee untrenn­bar mit der lau­fen­den zeit­ge­nös­si­schen Debat­te über das Kon­zept und die Losung der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa« ver­bun­den war, die als fort­schritt­li­ches Zwi­schen­er­geb­nis der anti­mon­ar­chi­schen, bür­ger­li­chen Volks­re­vo­lu­tio­nen vor allem in den regres­sivs­ten euro­päi­schen Mon­ar­chien Russ­land, Deutsch­land und Öster­reich kon­zi­piert waren.

For­mal gese­hen ist die direk­tes­te Par­al­le­le zu einer sol­chen Posi­ti­on die (neo)liberale Men­schen­rechts­in­ter­ven­tio­nis­mus-Posi­ti­on. Sie sieht die Ver­ein­ten Natio­nen oder sogar die NATO als fort­schritt­li­che Kräf­te an, die das Recht und die Pflicht hät­ten, sich über die tra­di­tio­nel­len Rechts­kon­zep­te der west­fä­li­schen Sou­ve­rä­ni­tät hin­weg­zu­set­zen. Die­se Posi­ti­on spiel­te zwar eine gewis­se nütz­li­che Rol­le bei der Ratio­na­li­sie­rung des Amok­laufs der NATO nach dem Kal­ten Krieg durch alle noch ver­blie­be­nen Res­te eines auch nur teil­wei­se befrei­ten glo­ba­len Ter­ri­to­ri­ums, doch war sie schon bei ihrer ers­ten For­mu­lie­rung so sehr mit bösem Wil­len behaf­tet und hat sich durch den Zynis­mus ihrer Anwen­dung so sehr dis­kre­di­tiert, dass sie nicht als eine Posi­ti­on betrach­tet wer­den kann, die ein ernst­haf­ter, auf­rich­ti­ger Gesprächs­part­ner ver­tre­ten könn­te. Sie fun­giert jetzt weni­ger als eine aktiv ver­tre­te­ne Ideo­lo­gie, son­dern eher als eine Art Platz­hal­ter, ein bös­ar­ti­ges Grin­sen, das auf dem NATO-Kokon zurück­ge­blie­ben ist, aus dem die welt­weit herr­schen­de Klas­se so gut wie her­aus­ge­schlüpft ist. Auf die­sen Punkt wer­den wir wei­ter unten noch näher ein­ge­hen; es genügt, an die­ser Stel­le fest­zu­hal­ten, dass dies kei­ne Posi­ti­on ist, die unter Kom­mu­nis­ten oder sogar unter der nicht-mar­xis­ti­schen Lin­ken noch irgend­ei­nen Stel­len­wert hat.

Wenn wir jedoch näher auf den poli­ti­schen Inhalt und nicht auf die ober­fläch­li­che Form des Streits zwi­schen Kaut­sky und Lenin ein­ge­hen, sehen wir, dass die Gefah­ren, die Lenin in Kaut­skys Posi­ti­on sah, heu­te am aku­tes­ten vom Mul­ti­po­la­ris­mus aus­ge­hen – und dass in der Tat bei­de auf einer bemer­kens­wert par­al­le­len Klas­sen­ba­sis beru­hen. Der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Revi­sio­nis­mus der Kaut­skya­ner ent­stand his­to­risch aus dem Inter­es­sen­kon­flikt zwi­schen dem Klein­bür­ger­tum und den obe­ren Schich­ten der Arbei­ter­klas­se bezie­hungs­wei­se der Arbei­ter­aris­to­kra­tie in den impe­ria­lis­ti­schen Län­dern. Bei­de der herr­schen­den Kapi­ta­lis­ten­klas­se unter­ge­ord­ne­te Klas­sen füh­len sich von dem revo­lu­tio­nä­ren Poten­zi­al der Arbei­ter­klas­se und der Aus­sicht auf den Kom­mu­nis­mus, die sie bie­tet, ange­zo­gen. Sie haben jedoch auch Angst vor die­ser Klas­se – Angst, ihre mage­ren Pri­vi­le­gi­en zu ver­lie­ren und selbst in die­se Klas­se abzu­rut­schen, Angst, von der herr­schen­den Klas­se dafür bestraft zu wer­den, dass sie sich mit ihr ver­bün­det, Angst, in ihrer rela­ti­ven Bequem­lich­keit, vor der Zer­rüt­tung und Unbe­stän­dig­keit der Revo­lu­ti­on selbst, selbst wenn sie lang­fris­tig von ihr pro­fi­tie­ren wür­den. Sie haben Angst, dass die Arbei­ter­klas­se letzt­end­lich nicht gewin­nen wird.

Infol­ge­des­sen nei­gen die­se Klas­sen zur Revi­si­on oder Per­ver­tie­rung des Mar­xis­mus als der schlicht­weg wis­sen­schaft­lichs­ten und klars­ten For­mu­lie­rung der Per­spek­ti­ve und des Pro­gramms der Arbei­ter­klas­se (näm­lich des revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus). Die­se Ten­denz wird natür­lich von der herr­schen­den Klas­se selbst mit gro­ßer Ener­gie und Mühe kul­ti­viert. Die beson­de­re Stär­ke die­ser Ten­denz in den impe­ria­len Kern­län­dern ergab sich aus der Fähig­keit der herr­schen­den Klas­se, die impe­ria­len Super­pro­fi­te zu die­sem Zweck ein­zu­set­zen. Die Kaut­sky­ia­ner, ges­tern wie heu­te, ver­su­chen daher natür­lich den Impe­ria­lis­mus zu beschö­ni­gen, zu ratio­na­li­sie­ren oder zumin­dest des­sen Umsturz hin­aus­zu­zö­gern. Zu die­sem Zweck leh­nen sie die von Lenin vor­ge­leg­te mate­ria­lis­ti­sche Ana­ly­se ab, die zeigt, dass der Impe­ria­lis­mus eine unver­meid­li­che und unaus­rott­ba­re Fol­ge der Finan­zia­li­sie­rung und Mono­po­li­sie­rung ist. Wie Lenin über Kaut­skys Theo­rie des Ultra­im­pe­ria­lis­mus schrieb:

Wesent­lich ist, daß Kaut­sky die Poli­tik des Impe­ria­lis­mus von sei­ner Öko­no­mik trennt, indem er von Anne­xio­nen als der vom Finanz­ka­pi­tal »bevor­zug­ten« Poli­tik spricht und ihr eine angeb­lich mög­li­che ande­re bür­ger­li­che Poli­tik auf der­sel­ben Basis des Finanz­ka­pi­tals ent­ge­gen­stellt. Es kommt so her­aus, als ob die Mono­po­le in der Wirt­schaft ver­ein­bar wären mit einem nicht mono­po­lis­ti­schen, nicht gewalt­tä­ti­gen, nicht anne­xio­nis­ti­schen Vor­ge­hen in der Poli­tik. Als ob die ter­ri­to­ria­le Auf­tei­lung der Welt, die gera­de in der Epo­che des Finanz­ka­pi­tals been­det wur­de und die die Grund­la­ge für die Eigen­art der jet­zi­gen For­men des Wett­kampfs zwi­schen den kapi­ta­lis­ti­schen Groß­staa­ten bil­det, ver­ein­bar wäre mit einer nicht impe­ria­lis­ti­schen Poli­tik. Das Resul­tat ist eine Ver­tu­schung. eine Abstump­fung der fun­da­men­tals­ten Wider­sprü­che des jüngs­ten Sta­di­ums des Kapi­ta­lis­mus statt einer Ent­hül­lung ihrer Tie­fe, das Resul­tat ist bür­ger­li­cher Refor­mis­mus statt Mar­xis­mus.5

Auf die­se Wei­se wird die Arbei­ter­klas­se von der direk­ten revo­lu­tio­nä­ren Kon­fron­ta­ti­on mit der impe­ria­lis­ti­schen Ord­nung abge­hal­ten und zu der Annah­me ver­lei­tet, dass der Impe­ria­lis­mus eine mög­li­che Poli­tik der Bour­geoi­sie neben ande­ren ist, die mit refor­mis­ti­schen Mit­teln inner­halb des Kapi­ta­lis­mus beho­ben wer­den kann. Schlim­mer noch, wie Lenin fest­stellt, ermög­lich­te dies die absur­de Vor­stel­lung, der Impe­ria­lis­mus sei fort­schritt­lich oder kön­ne es zumin­dest sein. Auf die­se Wei­se wird die Arbei­ter­klas­se dazu ver­lei­tet, sich zum Spiel­ball des Klein­bür­ger­tums in des­sen par­la­men­ta­ri­schem Kampf um mehr Pri­vi­le­gi­en zu machen und sich von ihrem eige­nen, revo­lu­tio­nä­ren und inter­na­tio­na­lis­ti­schen Pro­gramm zu ent­fer­nen. Dazu Lenin im 9. Kapi­tel sei­ner Imperialismusschrift:

[…] der objek­ti­ve, d. h. wirk­li­che sozia­le Sinn sei­ner ›Theo­rie‹ ist ein­zig und allein der: eine höchst reak­tio­nä­re Ver­trös­tung der Mas­sen auf die Mög­lich­keit eines dau­ern­den Frie­dens im Kapi­ta­lis­mus, indem man die Auf­merk­sam­keit von den aku­ten Wider­sprü­chen und aku­ten Pro­ble­men der Gegen­wart ablenkt auf die ver­lo­ge­nen Per­spek­ti­ven irgend­ei­nes angeb­lich neu­en künf­ti­gen ›Ultra­im­pe­ria­lis­mus‹. Betrug an den Mas­sen und sonst abso­lut nichts ist der Inhalt von Kaut­skys ›mar­xis­ti­scher‹ Theorie.

Man hofft, dass die Par­al­le­len zur Posi­ti­on der Mul­ti­po­la­ris­ten jetzt lang­sam klar wer­den. Wir wer­den aber ver­su­chen sie aus­drück­lich auf­zu­zei­gen. Der Mul­ti­po­la­ris­mus ent­springt und zieht vor allem zwei Klas­sen an, die sich zwar in wich­ti­gen Punk­ten unter­schei­den, sich aber objek­tiv6 annä­hern: Die eine ist die auf­stre­ben­de, kom­pra­do­ri­sche7 Mit­tel­klas­se des Südens, an die ein Teil der Pri­vi­le­gi­en, die einst an das impe­ria­le Klein­bür­ger­tum und die Arbei­ter­aris­to­kra­tie ver­ge­ben wur­den, in einer Art ratio­na­ler Umstruk­tu­rie­rung umver­teilt wird. Mit die­ser mulit­po­la­ris­ti­schen Ideo­lo­gie wird ihre Rol­le ratio­na­li­siert. Sie bie­tet ihnen ein Instru­ment, mit dem sie ihre eige­nen Arbei­ter mit natio­na­lis­ti­schen Fan­ta­sien von wie­der­ge­won­ne­ner Wür­de und der vagen Aus­sicht auf einen even­tu­el­len Sozia­lis­mus zu einem unbe­stimm­ten Zeit­punkt in der Zukunft besänf­ti­gen kön­nen. Die ande­re Klas­se, die vom Mul­ti­po­la­ris­mus ange­zo­gen wird, sind genau jene nach unten mobi­len Mit­tel­schich­ten des (bald ehe­ma­li­gen) impe­ria­len Kerns, deren Pri­vi­le­gi­en umver­teilt wer­den.8 Wie ich in »Impe­ria­lism Today is Con­spi­ra­cy Pra­xis« argu­men­tiert habe, beinhal­tet die Ent­wick­lung, die Samir Amin als Über­gang vom impe­ria­lis­ti­schen Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus zum gene­ra­li­sier­ten Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus oder Huey P. New­ton als das Auf­kom­men des reak­tio­nä­ren Inter­kom­mu­na­lis­mus bezeich­ne­te, einen Pro­zess, in des­sen Ver­lauf die herr­schen­den Klas­sen der USA (und ihrer Ver­bün­de­ten) mit der Errich­tung der abso­lu­ten Dik­ta­tur über die gesam­te kapi­ta­lis­ti­sche Welt eine radi­ka­le Umge­stal­tung erfuh­ren. Wie New­ton bereits Ende der 1960er Jah­re argumentierte:

Mit Hil­fe der dia­lek­tisch-mate­ria­lis­ti­schen Metho­de erkann­ten wir in der Black Pan­ther Par­ty, dass die Ver­ei­nig­ten Staa­ten nicht län­ger eine Nati­on waren. Sie waren etwas ande­res; sie waren mehr als eine Nati­on. Sie hat­ten nicht nur ihre ter­ri­to­ria­len Gren­zen erwei­tert, son­dern auch ihre gesam­te Kon­trol­le. Wir nann­ten sie ein Impe­ri­um. Es gab ein­mal ein Reich in der Welt, in dem die Herr­schafts­be­din­gun­gen anders waren – das Römi­sche Reich. Der Unter­schied zwi­schen dem Römi­schen Reich und dem Ame­ri­ka­ni­schen Reich besteht dar­in, dass ande­re Natio­nen außer­halb des Römi­schen Rei­ches und unab­hän­gig davon exis­tie­ren konn­ten, weil ihre Mög­lich­kei­ten zur Erfor­schung, Erobe­rung und Kon­trol­le rela­tiv begrenzt waren.

Aber wenn wir heu­te von einem Impe­ri­um spre­chen, mei­nen wir genau das, was wir sagen. Ein Impe­ri­um ist ein Natio­nal­staat, der sich in eine Macht ver­wan­delt hat, die alle Län­der und Men­schen der Welt kontrolliert.

Wir glau­ben, dass es kei­ne Kolo­nien oder Neo­ko­lo­nien mehr gibt. Wenn ein Volk kolo­ni­siert ist, muss es mög­lich sein, dass es sich deko­lo­ni­siert und wie­der zu dem wird, was es frü­her war. Aber was pas­siert, wenn die Roh­stof­fe abge­baut und die Arbeits­kräf­te in einem über den gan­zen Glo­bus ver­streu­ten Gebiet aus­ge­beu­tet wer­den? Wenn die Reich­tü­mer der gan­zen Erde aus­ge­beu­tet wer­den, um eine gigan­ti­sche Indus­trie­ma­schi­ne in der Hei­mat des Impe­ria­lis­ten zu spei­sen? Dann sind die Men­schen und die Wirt­schaft so sehr in das impe­ria­lis­ti­sche Impe­ri­um inte­griert, dass es unmög­lich ist, sich zu »ent­ko­lo­nia­li­sie­ren«, zu den frü­he­ren Exis­tenz­be­din­gun­gen zurückzukehren.

Wenn Kolo­nien sich nicht »ent­ko­lo­nia­li­sie­ren« und zu ihrer ursprüng­li­chen Exis­tenz als Natio­nen zurück­keh­ren kön­nen, dann gibt es kei­ne Natio­nen mehr. Und da es Natio­nen geben muss, damit ein revo­lu­tio­nä­rer Natio­na­lis­mus oder Inter­na­tio­na­lis­mus einen Sinn hat, haben wir beschlos­sen, dass wir uns einen neu­en Namen geben müssen.

Wir sagen, dass die Welt heu­te eine ver­streu­te Ansamm­lung von Com­mu­ni­ties ist. Eine Com­mu­ni­ty ist etwas ande­res als eine Nati­on. Eine Com­mu­ni­ty ist eine klei­ne Ein­heit mit einer umfas­sen­den Samm­lung von Insti­tu­tio­nen, die der Exis­tenz einer klei­nen Grup­pe von Men­schen die­nen. Und wir sagen wei­ter, dass der Kampf in der Welt heu­te zwi­schen dem klei­nen Kreis, der das Impe­ri­um der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­wal­tet und davon pro­fi­tiert, und den Völ­kern der Welt, die ihr eige­nes Schick­sal bestim­men wol­len, stattfindet.

Wir nen­nen die­se Situa­ti­on Inter­kom­mu­na­lis­mus. Wir befin­den uns heu­te im Zeit­al­ter des reak­tio­nä­ren Inter­kom­mu­na­lis­mus, in dem ein herr­schen­der Kreis, eine klei­ne Grup­pe von Men­schen, alle ande­ren Men­schen mit Hil­fe ihrer Tech­no­lo­gie kon­trol­liert.9

New­ton ver­trat die Ansicht, dass die USA mit ihrer Umwand­lung in ein sol­ches Impe­ri­um die Exis­tenz­be­din­gun­gen für Natio­na­li­tät auf glo­ba­ler Ebe­ne abge­schafft haben:

[…] Natio­nen nicht län­ger geben kann, da sie die Kri­te­ri­en natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät nicht erfül­len. Ihre Selbst­be­stim­mung, ihre öko­no­mi­sche wie ihre kul­tu­rel­le Selbst­be­stim­mung wur­de von den Impe­ria­lis­ten und dem herr­schen­den Kreis trans­for­miert. Sie sind nicht län­ger Natio­nen. Wir erkann­ten, dass wir, um Inter­na­tio­na­lis­ten zu sein auch Natio­na­lis­ten sein müss­ten, oder wenigs­tens die natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät aner­ken­nen. Inter­na­tio­na­lis­mus bedeu­tet, wenn ich das Wort ver­stan­den habe, die wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen zwi­schen einer Grup­pe von Natio­nen. Aber da es kei­ne Nati­on gibt, und da die Ver­ei­nig­ten Staa­ten fak­tisch ein Empire sind, ist es uns unmög­lich, Inter­na­tio­na­lis­ten zu sein. Die­se Trans­for­ma­tio­nen und Phä­no­me­ne erfor­dern, dass wir uns »Inter­kom­mu­na­lis­ten” nen­nen, denn die Natio­nen wur­den in Com­mu­ni­ties der Welt ver­wan­delt. Die Black Pan­ther Par­ty ver­wirft heu­te den Inter­na­tio­na­lis­mus und unter­stützt den Interkommunalismus.

Marx und Lenin spür­ten, auf­grund der Infor­ma­tio­nen, die sie hat­ten, dass der Nicht-Staat, soll­te er schließ­lich Rea­li­tät wer­den, vom Volk und vom Kom­mu­nis­mus ver­ur­sacht oder ein­ge­lei­tet wer­den wür­de. Eine selt­sa­me Sache geschah. Der herr­schen­de reak­tio­nä­re Kreis trans­for­mier­te die Welt, fol­ge­rich­tig als Impe­ria­lis­ten in das, was wir »Reak­tio­nä­ren Inter­kom­mu­na­lis­mus” nen­nen. Sie bela­ger­ten alle Com­mu­ni­ties der Welt, sie domi­nier­ten die Insti­tu­tio­nen in einem Aus­maß, dass die Insti­tu­tio­nen den Leu­ten in ihrem eige­nen Land nicht dien­lich waren. Die Black Pan­ther Par­ty möch­te die­se Ent­wick­lung umkeh­ren und die Völ­ker der Welt ins Zeit­al­ter des »Revo­lu­tio­nä­ren Inter­kom­mu­na­lis­mus” füh­ren. Dies wird die Zeit sein, da die Leu­te die Pro­duk­ti­ons­mit­tel an sich gebracht haben und den Reich­tum und die Tech­no­lo­gie auf ega­li­tä­re Art an die vie­len Com­mu­ni­ties der Welt verteilen.

Wir sehen sehr weni­ge Unter­schie­de zwi­schen dem, was einer Com­mu­ni­ty hier in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten zustößt und dem, was mit einer Com­mu­ni­ty in Viet­nam geschieht. Wir sehen sehr weni­ge Unter­schie­de, selbst kul­tu­rell, zwi­schen dem, was einer chi­ne­si­schen Com­mu­ni­ty in San Fran­cis­co und einer chi­ne­si­schen Com­mu­ni­ty in Hong Kong pas­siert. Wir sehen sehr weni­ge Unter­schie­de zwi­schen dem, was einer schwar­zen Com­mu­ni­ty in Har­lem und was einer schwar­zen Com­mu­ni­ty in Süd­ame­ri­ka zustößt, einer schwar­zen Com­mu­ni­ty in Ango­la und einer in Mosam­bik. Wir sehen sehr weni­ge Unterschiede.

Was also tat­säch­lich pas­sier­te, ist, dass der Nicht-Staat bereits erreicht wur­de, aber er ist reak­tio­när.10

Wie ich in »Impe­ria­lism Today is Con­spi­ra­cy Pra­xis« dar­le­ge, war die­se Ent­wick­lung – der letzt­end­li­che Auf­stieg der höchs­ten Ebe­nen der ame­ri­ka­ni­schen herr­schen­den Klas­se11 – gera­de auf­grund der Wirk­lich­keit des real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus selbst mög­lich. Dies war die von Lenin nicht in Betracht gezo­ge­ne Mög­lich­keit, als er theo­re­tisch die Mög­lich­keit12 jeg­li­cher Art von dau­er­haf­ter Ein­heit oder Frie­den zwi­schen den kapi­ta­lis­tisch-impe­ria­lis­ti­schen Natio­nen ablehn­te: dass die exis­ten­zi­el­le Bedro­hung, die von einer anhal­ten­den, teil­wei­sen Tei­lung der Welt in ein sozia­lis­ti­sches und ein kapi­ta­lis­ti­sches Lager aus­geht, die Bedin­gun­gen schaf­fen wür­de, unter denen eine ech­te »ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche« – oder, in Amins Wor­ten, »kol­lek­tiv-impe­ria­lis­ti­sche« – Ein­heit geschmie­det wer­den könn­te. Vie­le erken­nen Aspek­te die­ses Wan­dels an, über­se­hen aber sei­ne Aus­wir­kun­gen auf die Zusam­men­set­zung die­ser herr­schen­den Klas­se selbst: Obwohl sie offen­sicht­lich über­wie­gend in den USA ver­wur­zelt ist, über­steigt der Cha­rak­ter einer sol­chen die Welt beherr­schen­den Klas­se not­wen­di­ger­wei­se ihre natio­na­le Begren­zung. Die­se Vor­hut der Vor­hut der herr­schen­den Klas­se hat, wie Mol­ly Klein betont hat, nach dem Zwei­ten Welt­krieg prak­tisch alle besieg­ten faschis­ti­schen Kräf­te wie­der ein­ge­setzt, aller­dings mit neu­en, ent­schei­den­den Hebeln der Kon­trol­le über sie, z. B. die mili­tä­ri­sche Beset­zung Deutsch­lands, den M‑Fonds und die Abrüs­tung in Japan. Als die UdSSR zurück­er­obert wur­de, wur­de die neue Wlas­so­wi­ti­sche »Rus­si­sche Föde­ra­ti­on« geschaf­fen, um sicher­zu­stel­len, dass sich kei­ne wirk­lich auto­no­me natio­na­le Füh­rung her­aus­bil­den konn­te. Die stets sen­ti­men­ta­len Klein­bür­ger ver­ken­nen immer wie­der, dass die herr­schen­de Klas­se kei­ne natio­na­lis­ti­schen Gefüh­le hat. Da die herr­schen­de Klas­se der USA den gesam­ten Glo­bus kon­trol­liert, wird sie natür­lich durch das offi­zi­el­le Rechts­ge­biet ihrer nomi­nel­len Regie­rung definiert.

Auch hat­te und hat sie kei­ner­lei sen­ti­men­ta­le Bin­dun­gen an die ame­ri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung – daher New­tons klu­ger Hin­weis auf die grund­le­gen­den Par­al­le­len zwi­schen der ame­ri­ka­ni­schen Auf­stands­be­kämp­fung im In- und Aus­land. Es gibt in der Tat zwin­gen­de Bewei­se dafür, dass sich die­ser herr­schen­de Kreis spä­tes­tens in den 1990er Jah­ren dazu ent­schlos­sen hat­te, sich von den Ver­pflich­tun­gen und Ver­bind­lich­kei­ten zu tren­nen, die mit der Exis­tenz der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten« selbst ver­bun­den waren und die vor allem in einer gro­ßen und poten­zi­ell wider­spens­ti­gen Arbei­ter­aris­to­kra­tie zum Aus­druck kamen. Die poli­ti­schen, mili­tä­ri­schen und finan­zi­el­len Vor­ar­bei­ten für die­se kon­trol­lier­te Zer­stö­rung las­sen sich leicht erken­nen, bevor sie mit den Anschlä­gen vom 11. Sep­tem­ber sozu­sa­gen for­mell ange­kün­digt wurde.

Doch vie­le selbst­er­nann­te Mar­xis­ten kön­nen hier ihre natio­na­lis­ti­schen Scheu­klap­pen ein­fach nicht über­win­den. Einer­seits sehen sie, wie die impe­ria­len herr­schen­den Klas­sen bereits mit dem Pro­gramm des Neo­li­be­ra­lis­mus dar­an arbei­ten, »ihre eige­nen« Arbei­ter­aris­to­kra­tien zu degra­die­ren, zum Teil durch die selek­ti­ve Aus­brei­tung noch mar­gi­nale­rer »Pri­vi­le­gi­en« im Aus­land. Den­noch wei­gern sie sich, dar­über nach­zu­den­ken, dass die »ame­ri­ka­ni­sche« oder »deut­sche« herr­schen­de Klas­se die Ame­ri­ka­ner und Deut­schen in Wirk­lich­keit genau­so ver­ach­tet wie die Unter­drück­ten der Erde, die sie bereits gejagt, aus­ge­plün­dert und ver­sklavt haben. Mol­ly Klein hat auf­schluss­reich vor­ge­schla­gen, dass zumin­dest ein Teil der Erklä­rung eine Art tra­gi­scher, per­ver­ser Ego­is­mus ist: dass das Brust­klop­fen einer bestimm­ten Klas­se dar­über, wie furcht­bar pri­vi­le­giert sie ist, eine zutiefst nai­ve Über­schät­zung ihrer eige­nen Bedeu­tung und ihres Wer­tes in den Augen der Herr­schen­den verdeckt.

Doch die herr­schen­de Klas­se, die aus dem Kal­ten Krieg her­vor­ging, war und ist, auch wenn sie von den USA ange­führt wur­de, wahr­haft glo­bal.13 Sie putsch­te nicht ein­fach im Aus­land, son­dern ermor­de­te »ihren« Prä­si­den­ten. Sie führ­ten eine Auf­stands­be­kämp­fung gegen den ein­hei­mi­schen Wider­stand, ins­be­son­de­re gegen die Pan­ther, aber auch gegen ihre Ver­bün­de­ten, unter ande­rem gera­de die Kin­der der wei­ßen Arbei­ter­aris­to­kra­tie. Dabei gin­gen sie mit ähn­li­chen Tech­ni­ken, ja oft mit den­sel­ben Kräf­ten vor, die sie in Asi­en, Afri­ka und Süd­ame­ri­ka ein­setz­ten. Und sie haben die neo­li­be­ra­le Umstruk­tu­rie­rung sogar »ihren eige­nen«, angeb­lich so geschätz­ten wei­ßen Arbei­ter­klas­sen auf­ge­zwun­gen. Ent­schei­dend ist hier, dass »Weiß­sein« mate­ri­ell ver­stan­den wird, als eine bestimm­te Tech­no­lo­gie der Klas­sen­herr­schaft mit einer spe­zi­fi­schen Geschich­te und Gren­zen – nicht als unver­än­der­li­che Realität.

An die­ser Stel­le sei auf eine wei­te­re bemer­kens­wer­te Über­ein­stim­mung in der Pra­xis der herr­schen­den Klas­se hin­ge­wie­sen, die sich in einer beson­de­ren Dis­so­nanz im Ver­ständ­nis so vie­ler soge­nann­ter Mar­xis­ten wider­spie­gelt. Gera­de die­je­ni­gen, die sich geo­po­li­tisch oft mit dem Pro­gramm des Mul­ti­po­la­ris­mus iden­ti­fi­zie­ren, gehö­ren zu den­je­ni­gen, die innen­po­li­tisch am schnells­ten alle For­men der soge­nann­ten »Iden­ti­täts­po­li­tik« ableh­nen. Sie erken­nen leicht, wie die herr­schen­de Klas­se auf die radi­ka­len Kämp­fe für Ras­sen – , Geschlech­ter- und sexu­el­le Befrei­ung im Kern mit aus­ge­klü­gel­ten Pro­gram­men von Koopt­a­tio­nen und Zuge­ständ­nis­sen reagie­ren muss­te, indem sie Spiel­fi­gu­ren mobi­li­sier­te, wo immer es mög­lich war. Doch sie über­se­hen, dass sich genau die­sel­be Dyna­mik auf der Welt­büh­ne abspielt: Das Impe­ri­um konn­te die enor­me Ener­gie des auf­stre­ben­den Südens nicht ein­fach voll­stän­dig aus­lö­schen und bemüh­te sich daher um eine sym­bo­li­sche Auf­wer­tung, die auf einer Art ras­si­fi­zier­tem faschis­ti­schem Pseu­do­kol­lek­ti­vis­mus beruh­te. Anstel­le von Lohn­gleich­heit zwi­schen den Geschlech­tern ein paar mehr weib­li­che Vor­stands­vor­sit­zen­de; anstel­le des glo­ba­len Kom­mu­nis­mus mehr chi­ne­si­sche Unter­neh­men in den For­tu­ne 500.

Iro­ni­scher­wei­se ver­fal­len die Mul­ti­po­la­ris­ten und die libe­ra­len Weck­rufer, mit denen sie sich häu­fig zusam­men­tun, einem gemein­sa­men Feh­ler: Sie unter­schät­zen die Kom­pe­tenz und den Ver­stand der herr­schen­den Klas­se14 und fal­len auf die Sie­ge der herr­schen­den Klas­se her­ein, die ihnen als ihre eige­nen ver­kauft wer­den. Wir müs­sen uns hier kurz mit der eben­so irri­gen, gegen­sätz­li­chen Art des Irr­tums befas­sen, den Gramsci als »den Glau­ben, dass alles, was exis­tiert, eine ›Fal­le‹ ist, die von den Star­ken für die Schwa­chen, von den Geris­se­nen für die geis­tig Armen gestellt wird« beschreibt.15 Dies ist cha­rak­te­ris­tisch für die­je­ni­gen, die jede Ent­wick­lung als rei­ne Emana­ti­on des Wil­lens einer all­mäch­ti­gen herr­schen­den Klas­se, jeden Sieg als ver­kapp­te sata­ni­sche List betrach­ten. Sie­he con­tra Mul­ti­po­la­ris­mus, die­je­ni­gen, die einen Klaus-Schwab-WEF-Kli­ma­kom­mu­nis­mus sehen, der die armen edlen Füh­rer des Wes­tens kor­rum­piert; con­tra libe­ra­len Wokeism, die Ras­sen- und Gen­der-Chau­vi­nis­ten, die ver­su­chen, die enor­men Bei­trä­ge zum Mar­xis­mus, die ins­be­son­de­re durch die Gender‑, Sexu­al- und Ras­sen­kämp­fe des letz­ten Jahr­hun­derts geleis­tet wur­den, unge­sche­hen zu machen, zum Bei­spiel Jaco­bin. Dabei muss immer wie­der dar­an erin­nert wer­den, wie Marx beton­te: »Die Men­schen machen ihre eige­ne Geschich­te, aber sie machen sie nicht aus frei­en Stü­cken, nicht unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter unmit­tel­bar vor­ge­fun­de­nen, gege­be­nen und über­lie­fer­ten Umstän­den.»16 Die »wache« Aneig­nung fort­schritt­li­cher Sozi­al­po­li­tik durch die herr­schen­de Klas­se bedeu­tet nicht, dass die­se Poli­tik der wirk­li­che gehei­me Wunsch der herr­schen­den Klas­se ist – im Gegen­teil, es sind mini­ma­le Zuge­ständ­nis­se, die die herr­schen­de Klas­se an den unun­ter­drück­ba­ren revo­lu­tio­nä­ren Kampf der betref­fen­den unter­drück­ten Klas­sen machen muss­te – obwohl die herr­schen­de Klas­se natür­lich alles in ihrer Macht Ste­hen­de tut, um sol­che Zuge­ständ­nis­se zu ver­zer­ren oder sogar ihren poli­ti­schen Inhalt zu ver­keh­ren, wenn es mög­lich ist. Der gegen­wär­ti­ge spek­ta­ku­lä­re, gesteu­er­te, betrü­ge­ri­sche »Auf­stieg des Südens« ist das Bes­te, was die herr­schen­de Klas­se aus den bedeu­ten­den Kräf­ten machen konn­te, die durch den ers­ten Zyklus des revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus-Sozia­lis­mus-Anti­im­pe­ria­lis­mus-Anti­fa­schis­mus, der durch die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on aus­ge­löst wur­de, in Bewe­gung gesetzt wur­den. Die Rol­le der libe­ra­len oder sozi­al­de­mo­kra­ti­schen refor­mis­ti­schen Kräf­te im Inland und der mul­ti­po­la­ren Kräf­te in der Welt wird durch New­tons Ana­ly­se der »zuge­las­se­nen Wort­füh­rer« gut cha­rak­te­ri­siert. Die­se wer­den von der herr­schen­den Klas­se zwi­schen den unter­drück­ten Mas­sen und den revo­lu­tio­nä­ren Kräf­ten oder – in New­tons Wor­ten – den »Uner­bitt­li­chen«, die sie ansons­ten orga­ni­sie­ren könn­ten, eingesetzt:

[…] der Unter­drü­cker zieht es immer vor, sich mit den weni­ger radi­ka­len, das heißt weni­ger gefähr­li­chen Wort­füh­rern sei­ner Unter­ta­nen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Er wür­de es vor­zie­hen, wenn sei­ne Unter­ta­nen über­haupt kei­ne Wort­füh­rer hät­ten – oder bes­ser noch, wenn er selbst für sie spre­chen wür­de. Da ihm dies prak­tisch nicht mög­lich ist, tut er das Nahe­lie­gends­te und unter­stützt Spre­cher, die ihm erlau­ben, durch sie zu den Mas­sen zu spre­chen. Zu sei­nen obers­ten Gebo­ten gehört es, dafür zu sor­gen, dass unver­söhn­li­che Wort­füh­rer nie­mals ihre Bot­schaft an die Mas­sen wei­ter­ge­ben dür­fen. Es wird ihnen nie­mals erlaubt, ihre Bot­schaft an die Mas­sen zu über­mit­teln. Ihr Unter­drü­cker wird zu allen not­wen­di­gen Mit­teln grei­fen, um die Unver­söhn­li­chen zum Schwei­gen zu bringen.

Der Unter­drü­cker, die unter­stütz­ten Spre­cher und die Uner­bitt­li­chen bil­den die drei Punk­te eines Drei­ecks des Todes. Der Unter­drü­cker betrach­tet die zuge­las­se­nen Wort­füh­rer [endor­sed spo­kes­men] als ein Werk­zeug, das er gegen die Unver­söhn­li­chen ein­setzt, um sie inner­halb der akzep­ta­blen Gren­zen der Tak­tik, die er in der Lage ist, ein­zu­schrän­ken, pas­siv zu hal­ten. Die zuge­las­se­nen Spre­cher betrach­ten den Unter­drü­cker als Schutz­en­gel, auf den man sich immer ver­las­sen kann, um sie vor dem Zorn der Uner­bitt­li­chen zu schüt­zen, wäh­rend er die Uner­bitt­li­chen als gefähr­li­che und unver­ant­wort­li­che Ver­rück­te ansieht, die, wenn sie den Unter­drü­cker ver­är­gern, mit Sicher­heit ein Blut­bad aus­lö­sen wer­den, in dem sie selbst unter­ge­hen könn­ten. Der Uner­bitt­li­che sieht sowohl die Unter­drü­cker als auch die zuge­las­se­nen Wort­füh­rer als sei­ne Tod­fein­de an. Wenn über­haupt, dann hasst er die zuge­las­se­nen Füh­rer mehr als den Unter­drü­cker selbst, denn die Uner­bitt­li­chen wis­sen, dass sie erst dann mit dem Unter­drü­cker fer­tig wer­den kön­nen, wenn sie die zuge­las­se­nen Wort­füh­rer von der Bild­flä­che ver­trie­ben haben.17

Seit der tota­len Rück­erobe­rung und Ver­skla­vung der ehe­mals sozia­lis­ti­schen Welt hat die impe­ria­lis­ti­sche herr­schen­de Klas­se ein Zuge­ständ­nis nach dem ande­ren auf­ge­sam­melt, das sie unter den vom real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus-Kom­mu­nis­mus erzwun­ge­nen Bedin­gun­gen gemacht hat­te. Im Aus­land bedeu­te­te dies die Zer­schla­gung der Kon­stel­la­ti­on der natio­na­lis­ti­schen anti­ko­lo­nia­len und der damit ver­bun­de­nen Regime der Drit­ten Welt – das glo­ba­le Über­bleib­sel von Bandung. Im Inland bedeu­te­te dies die voll­stän­di­ge Zer­stö­rung des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kom­pro­mis­ses. Auch hier kann man hof­fent­lich die grund­le­gen­de Ein­heit und Wech­sel­be­zie­hung erken­nen – bei­de stell­ten ein­fach die Mög­lich­kei­ten »inner­halb« des Kapi­ta­lis­mus dar, die durch die gewal­ti­ge Ver­wer­fung in der Raum-Zeit der poli­ti­schen Rea­li­tät durch den roten Über­rie­sen des revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus-Kom­mu­nis­mus entstanden.

Bereits mit dem neo­li­be­ra­len Angriff mach­te die impe­ria­lis­ti­sche herr­schen­de Klas­se deut­lich, dass sie nicht die Absicht hat­te, die teu­re und auf­müp­fi­ge west­li­che Arbei­ter­aris­to­kra­tie auf­recht­zu­er­hal­ten. Und die­ser Angriff wur­de in der Tat teil­wei­se durch die Nie­der­la­ge der glo­ba­len Vor­hut des Sozia­lis­mus, die Zer­schla­gung der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on und die Wie­der­ver­skla­vung Chi­nas ermög­licht, wodurch Ost­asi­en zu einer siche­ren und lebens­fä­hi­gen Ope­ra­ti­ons­ba­sis für ein gestraff­tes Sys­tem wur­de. Par­al­lel zu die­sem Pro­gramm kann man bereits sehen, wie die herr­schen­de Klas­se hart dar­an arbei­tet, die Kapa­zi­tä­ten und ideo­lo­gi­schen Recht­fer­ti­gun­gen zu ent­wi­ckeln, um die extrem schwie­ri­ge poli­ti­sche, aber für sie mög­li­che und not­wen­di­ge Agen­da durch­zu­zie­hen, die sich aus ihrer Ver­fasst­heit als Klas­se ergibt. Zuerst der »Überbevölkerungs«-Diskurs des Club of Rome, gefolgt vom Kli­ma­wan­del und wohl am effek­tivs­ten unter dem Ban­ner der Pandemie.

Die­se Pra­xis unter­schei­det sich natür­lich nicht sehr von der des Nazis­mus 1.0: Plün­de­rung, Ver­skla­vung und Geno­zid. Es ist viel­leicht nicht über­ra­schend, dass New­ton die Form der gegen­wär­ti­gen Ord­nung so scharf und vor­aus­schau­end erfas­sen konn­te, denn schwar­ze Ame­ri­ka­ner stan­den am Ran­de die­ses impe­ria­len Pro­gramms. Wie er bereits in den 70er Jah­ren feststellte:

Man schätzt, dass in zehn Jah­ren nur noch ein klei­ner Pro­zent­satz der heu­ti­gen Arbeits­kräf­te für den Betrieb der Indus­trien benö­tigt wird. Was wird dann mit dem Arbei­ter gesche­hen, der heu­te vier Dol­lar pro Stun­de ver­dient? Die Arbei­ter­klas­se wird sich ver­klei­nern, die Klas­se der Beschäf­ti­gungs­lo­sen wird wach­sen, weil immer mehr Fähig­kei­ten benö­tigt wer­den, um die Maschi­nen zu bedie­nen und immer weni­ger Men­schen. Und wenn die­se Men­schen arbeits­los wer­den, wer­den sie sich immer mehr ent­frem­den; selbst sozia­lis­ti­sche Kom­pro­mis­se wer­den nicht aus­rei­chen. Es wird dann zu einer Inte­gra­ti­on zwi­schen dem schwar­zen Arbeits­lo­sen und dem wei­ßen ras­sis­ti­schen Hart­ge­sot­te­nen kom­men, der nicht regu­lär beschäf­tigt ist und wütend auf die Schwar­zen ist, von denen er glaubt, dass sie sei­nen Arbeits­platz bedro­hen.18

Die Exis­tenz der schwar­zen Bevöl­ke­rung in Ame­ri­ka nach der Abschaf­fung der Skla­ve­rei hat die herr­schen­de Klas­se eben­so wie die der Paläs­ti­nen­ser nach dem Ers­ten Welt­krieg vor ein beson­de­res Pro­blem gestellt. Sie schwank­te zwi­schen einer Poli­tik der Super­aus­beu­tung ihrer Arbeits­kraft (mit der gefähr­li­chen Kon­se­quenz, dass sie Mög­lich­kei­ten für ihre Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on als Klas­se schuf) und ihrer Behand­lung als Reser­ve­ar­mee von Arbeits­kräf­ten, die im Extrem­fall zum Völ­ker­mord ten­dier­te. Die letzt­ge­nann­te Ten­denz war in der Zeit von New­tons Ana­ly­se domi­nant gewor­den, viel­leicht gera­de weil die schwar­ze Bevöl­ke­rung Ame­ri­kas mehr als jede ande­re das dia­lek­ti­sche Gegen­stück von Ame­ri­kas glo­ba­ler Prä­senz ver­kör­pert: »Ame­ri­ka« mag über­all in der »Drit­ten Welt« sein und die Befrei­ung unter­drü­cken; aber die »Drit­te Welt« ist über­all in Ame­ri­ka, leis­tet Wider­stand und unter­gräbt die herr­schen­de Klas­se beharr­lich auf Schritt und Tritt. Im von Schwar­zen ange­führ­ten Atti­ca-Gefäng­nis­auf­stand von 1971 for­der­ten sie Mao Zedong auf, sie bei den Ver­hand­lun­gen mit den Behör­den zu ver­tre­ten.19 Selbst in der aktu­el­len Ver­all­ge­mei­ne­rung der Opio­id-Kri­se sehen wir, wie Tech­ni­ken der Bevöl­ke­rungs­kon­trol­le und des Völ­ker­mords, die von der herr­schen­den Klas­se im Labor des Ghet­tos ent­wi­ckelt wur­den, zuneh­mend gegen die einst angeb­lich Pri­vi­le­gier­ten ein­ge­setzt werden.

Das liegt dar­an, dass auf­grund der extre­men Kon­zen­tra­ti­on der der­zei­ti­gen herr­schen­den Klas­se prak­tisch die gesam­te Welt­be­völ­ke­rung für sie offen­sicht­lich ein Pro­blem dar­stellt. Es ist offen­kun­dig, dass eine der obers­ten Prio­ri­tä­ten der herr­schen­den Klas­se dar­in besteht, die ehe­ma­li­ge Arbei­ter­aris­to­kra­tie und die Mit­tel­schich­ten dra­ma­tisch zu schrump­fen und zu degra­die­ren. Auch New­ton hat die Grund­la­gen ihrer Ent­mach­tung bereits vorausgesehen:

Der Begriff der schwar­zen Bour­geoi­sie ist so etwas wie eine Illu­si­on. Es ist eine Fan­ta­sie-Bour­geoi­sie, und das gilt auch für den größ­ten Teil der wei­ßen Bour­geoi­sie. Selbst in der wei­ßen Mit­tel­schicht gibt es nur sehr weni­ge Kon­trol­leu­re. Sie kön­nen sich gera­de so über Was­ser hal­ten, sie zah­len alle Rech­nun­gen, leben von der Hand in den Mund und haben zusätz­lich den Auf­wand des sich Wei­gerns, wie die Schwar­zen zu leben. Sie kon­trol­lie­ren also nicht wirk­lich etwas, son­dern sie wer­den kon­trol­liert. Eben­so kann ich nicht erken­nen, dass sich die schwar­ze Bour­geoi­sie von ande­ren Aus­ge­beu­te­ten unter­schei­det. Sie leben in einer Fan­ta­sie­welt. Die Haupt­auf­ga­be besteht dar­in, ihnen ein Bewusst­sein zu ver­mit­teln und sie auf ihre wirk­li­chen Inter­es­sen hin­zu­wei­sen, ihre objek­ti­ven und wah­ren Inter­es­sen.20

Samir Amin merk­te irgend­wo an, dass die natio­na­lis­ti­sche, fort­schritt­li­che Bour­geoi­sie der Drit­ten Welt und die Kom­pra­doren­bour­geoi­sie nicht zwei getrenn­te Klas­sen sind, son­dern zwei Ten­den­zen inner­halb ein und der­sel­ben Klas­se. Die ers­te Ten­denz kann nur durch ein Pro­jekt ver­wirk­licht wer­den, das von den Volks­klas­sen – den Arbei­tern, Bau­ern und dem Lum­pen­pro­le­ta­ri­at – vor­an­ge­trie­ben wird.

Die west­li­che Arbei­ter­aris­to­kra­tie, das Klein­bür­ger­tum und sogar die unte­ren Rän­ge der Bour­geoi­sie selbst sind für die der­zei­ti­ge Vor­hut der herr­schen­den Klas­se offen­sicht­lich über­flüs­sig. Die­se Schich­ten soll degra­diert, aus­ge­plün­dert und zu einem gro­ßen Teil aus­ge­rot­tet wer­den. Wohin soll­te sich die impe­ria­lis­ti­sche herr­schen­de Klas­se wen­den, nach­dem sie die gesam­te drit­te und zwei­te Welt aus­ge­plün­dert und ver­sklavt hat? Die­se Fra­ge ist an und für sich eine wich­ti­ge logi­sche Über­le­gung, die von den Mul­ti­po­la­ris­ten ein­fach igno­riert wird: Was sind die lebens­fä­higs­ten Per­spek­ti­ven für die »west­li­chen« herr­schen­den Klas­sen? Wel­che poli­tisch-öko­no­misch-pro­gram­ma­ti­sche Inves­ti­ti­on ihrer Ener­gie könn­te ihnen den größ­ten Nut­zen – und zwar einen, über den sie der­zeit noch nicht ver­fü­gen – ver­schaf­fen? Und wie könn­te die größ­te Bedro­hung für ihre Macht in der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on besei­tigt wer­den? Die Idee einer »far­bi­gen Revo­lu­ti­on»21 in Chi­na oder Russ­land ist in den alter­na­ti­ven Medi­en sehr beliebt, doch die kon­kre­te Rea­li­tät, wie die­se aus­se­hen könn­te, wird nur sel­ten skiz­ziert. Das liegt mög­li­cher­wei­se dar­an, dass dies die nack­te Tat­sa­che offen­bart, dass es prak­tisch unmög­lich ist, sich unter den real exis­tie­ren­den gegen­wär­ti­gen Umstän­den ein Arran­ge­ment vor­zu­stel­len, in dem die Arbeits­kraft und die Res­sour­cen Russ­lands und Chi­nas auf poli­tisch ver­tret­ba­re Wei­se opti­ma­ler aus­ge­beu­tet wer­den könn­ten, als es der­zeit der Fall ist. Man muss sich in Erin­ne­rung rufen, dass die­se Bedin­gun­gen der poli­ti­schen Ver­tret­bar­keit durch die rea­len his­to­ri­schen Erfah­run­gen des Sozia­lis­mus begrenzt sind! In bei­den Staa­ten ist eine sub­stan­zi­el­le Legi­ti­mi­tät des Vol­kes eine poli­ti­sche Not­wen­dig­keit; in bei­den beruht ein Groß­teil davon genau auf der Fähig­keit der herr­schen­den Klas­se, sich als oppo­si­tio­nel­le Kraft zum Wes­ten zu präsentieren.

Eine kur­ze Bemer­kung zur Füh­rung der angeb­lich auf­stre­ben­den mul­ti­po­la­ren Welt ist hier ange­bracht. In den spä­ten 90er Jah­ren sahen wir, wie ein Stan­dard­re­gime vom Typ »far­bi­ge Revo­lu­ti­on« in Russ­land aus­se­hen könn­te. Aber wir soll­ten auch beach­ten, dass die­se Ord­nung unglaub­lich insta­bil war. Zwi­schen der Bei­na­he-Wahl von Sju­ga­now und der Rubel­kri­se wur­de klar, dass die welt­weit herr­schen­de Klas­se in Russ­land zu weit gegan­gen war und zu raub­gie­rig war. Sie ris­kier­te die Rück­kehr des Sozia­lis­mus. Unter die­sen Bedin­gun­gen muss­ten Zuge­ständ­nis­se gemacht und ein zuver­läs­si­ger Agent ein­ge­setzt wer­den, der die fort­ge­setz­te Unter­ord­nung der Rus­sen unter ihre fort­ge­setz­te Aus­plün­de­rung und Aus­beu­tung gewähr­leis­ten konn­te: Wla­di­mir Putin. Da die­se offen­sicht­li­che Tat­sa­che immer noch so vie­len ent­geht, sei an die­ser Stel­le erwähnt, dass Putin als Bür­ger­meis­ter von St. Peters­burg 1993 deut­schen Wirt­schafts­ver­tre­tern aus­drück­lich ver­si­cher­te, dass »poli­ti­sche« Gewalt, die die Markt­be­din­gun­gen unter­gräbt, kri­mi­nell sei, wäh­rend Gewalt, die pri­va­te Inves­ti­tio­nen schützt, »not­wen­dig« sei. Er beton­te fer­ner, dass er die Ein­füh­rung einer Dik­ta­tur ähn­lich der Pino­chets durch Jel­zin unter­stüt­ze, um die aktu­el­len poli­ti­schen Pro­ble­me Russ­lands zu lösen.22 Ist es nicht denk­bar, dass eine raf­fi­nier­te­re Lösung gefun­den wur­de, bei der Putin Teil des Pro­gramms ist? Wenn Jel­zin Clin­ton bezüg­lich sei­nes hand­ver­le­se­nen Nach­fol­gers ver­si­cher­te: »Ich bin sicher, dass Sie in ihm einen hoch­qua­li­fi­zier­ten Part­ner fin­den wer­den«, soll­ten wir dann so vor­schnell an ihm zwei­feln?23 Jen­seits des Urals muss die kapi­ta­lis­ti­sche Gut­gläu­big­keit von Xi Jing­ping, wie die sei­nes Vaters vor ihm, kaum näher erläu­tert wer­den. Erklä­rungs­be­dürf­tig ist viel­mehr die Kehrt­wen­de in Bezug auf Chi­na, die so vie­le kom­mu­nis­ti­sche Par­tei­en mit wenig oder gar kei­ner expli­zi­ten, for­mel­len Debat­te voll­zo­gen haben. Wie ein bizar­res Gedächt­nis­im­plan­tat ist die all­ge­mei­ne Aner­ken­nung der abso­lu­ten Per­fi­die des kapi­ta­lis­ti­schen Regimes irgend­wie hin­ein­ge­schmol­zen. Ein Regime, das mit der Unter­stüt­zung von Nixon und Kis­sin­ger in Chi­na instal­liert wur­de, das die Arbei­ter ent­waff­ne­te, die roten Bäue­rin­nen für ihre Füh­rungs­rol­le in der Gro­ßen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on mit der faschis­ti­schen Ein-Kind-Poli­tik bru­tal bestraf­te und die berüch­tigts­ten kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Kräf­te im Aus­land unter­stütz­te.24

Ver­las­sen wir für einen Moment die Comic­buch-Göt­ter­däm­me­rung zwi­schen Natio­nen oder natio­na­len Blö­cken und betrach­ten wir, dass wir in einer Welt mit einer herr­schen­den Klas­se leben, die so klein, inte­griert und mäch­tig ist, dass die Geschich­te nicht ein­mal die ent­fern­tes­ten Par­al­le­len oder Prä­ze­denz­fäl­le bie­tet. Es han­delt sich um eine herr­schen­de Vor­hut, die ins­be­son­de­re aus der mas­si­ven Ermäch­ti­gung der ver­deck­tes­ten, anti­de­mo­kra­ti­schen Staats­ma­schi­ne­rie des west­li­chen Kapi­ta­lis­mus als not­wen­di­ge Ant­wort auf die ech­te, exis­ten­zi­el­le Bedro­hung durch den Welt­kom­mu­nis­mus her­vor­ge­gan­gen ist. Ange­sichts der schritt­wei­sen Umset­zung des Coro­na-Pro­gramms unter dem absur­des­ten und lächer­lichs­ten Vor­wand kön­nen kei­ne Zwei­fel an ihrer unglaub­li­chen Koor­di­na­ti­on und Dis­zi­plin auf­kom­men. Ganz zu schwei­gen davon, dass der der­zei­ti­ge, angeb­lich exis­ten­zi­el­le Kon­flikt in der Ukrai­ne den Han­del zwi­schen den ver­meint­li­chen Tod­fein­den kaum beein­träch­tigt hat und es nicht ein­mal gelun­gen ist, den Fluss des rus­si­schen Gases durch die Ukrai­ne selbst zu stop­pen! An die­ser Stel­le sei dar­an erin­nert, dass Lenin nicht die Mög­lich­keit eines »inter­im­pe­ria­lis­ti­schen « Abkom­mens an sich ablehn­te, son­dern nur die Vor­stel­lung, dass es die Grund­la­ge für einen dau­er­haf­ten Frie­den bil­den könnte:

›Inter­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ oder ›ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ Bünd­nis­se sind daher in der kapi­ta­lis­ti­schen Wirk­lich­keit, und nicht in der bana­len Spie­ßer­phan­ta­sie eng­li­scher Pfaf­fen oder des deut­schen ›Mar­xis­ten‹ Kaut­sky, not­wen­di­ger­wei­se nur ›Atem­pau­sen‹ zwi­schen Krie­gen – gleich­viel, in wel­cher Form die­se Bünd­nis­se geschlos­sen wer­den, ob in der Form einer impe­ria­lis­ti­schen Koali­ti­on gegen eine ande­re impe­ria­lis­ti­sche Koali­ti­on oder in der Form eines all­ge­mei­nen Bünd­nis­ses aller impe­ria­lis­ti­schen Mäch­te. Fried­li­che Bünd­nis­se berei­ten Krie­ge vor und wach­sen ihrer­seits aus Krie­gen her­vor, bedin­gen sich gegen­sei­tig, erzeu­gen einen Wech­sel der For­men fried­li­chen und nicht fried­li­chen Kamp­fes auf ein und dem­sel­ben Boden impe­ria­lis­ti­scher Zusam­men­hän­ge und Wech­sel­be­zie­hun­gen der Welt­wirt­schaft und der Welt­po­li­tik. Der neun­mal­wei­se Kaut­sky aber trennt, um die Arbei­ter zu beschwich­ti­gen und sie mit den zur Bour­geoi­sie über­ge­gan­ge­nen Sozi­al­chau­vi­nis­ten aus­zu­söh­nen, ein Glied der ein­heit­li­chen Ket­te von dem ande­ren, trennt das heu­ti­ge fried­li­che (und ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche, ja sogar ultra-ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche) Bünd­nis aller Mäch­te zur ›Befrie­dung‹ Chi­nas (man den­ke an die Nie­der­wer­fung des Boxer­auf­stands) von dem mor­gi­gen nicht fried­li­chen Kon­flikt, der über­mor­gen wie­der­um ein ›fried­li­ches‹ all­ge­mei­nes Bünd­nis zur Auf­tei­lung, sagen wir, der Tür­kei vor­be­rei­tet, usw. usf. Statt des leben­di­gen Zusam­men­hangs zwi­schen den Peri­oden des impe­ria­lis­ti­schen Frie­dens und den Peri­oden impe­ria­lis­ti­scher Krie­ge prä­sen­tiert Kaut­sky den Arbei­tern eine tote Abs­trak­ti­on, um sie mit ihren töten Füh­rern aus­zu­söh­nen.25

Natür­lich ist die­se Kri­tik eben­so direkt auf den Mul­ti­po­la­ris­mus wie auf den Kautsky’schen Ultra­im­pe­ria­lis­mus anwend­bar: Selbst wenn man der Mei­nung ist, dass die BRICS in ihrem Auf­stieg über den Wes­ten nun »objek­tiv« anti­im­pe­ria­lis­tisch sind, muss man aner­ken­nen, dass ihre mono­pol­ka­pi­ta­lis­ti­sche Basis unver­ein­bar ist mit der rosi­gen Visi­on eines (wie soll man es sonst nen­nen?) ultra­im­pe­ria­lis­ti­schen Frie­dens, den die Volks­re­pu­blik Chi­na als ihre Belt-and-Road-Initia­ti­ve ver­mark­tet. Aber es gibt eine viel tief­grei­fen­de­re Fra­ge, die hier gestellt wer­den muss: Selbst wenn man zuge­steht, dass jede Art von »ultra-impe­ria­lis­ti­schem« Frie­den die inne­ren Wider­sprü­che des impe­ria­lis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus nicht wirk­lich lösen, son­dern nur unter­drü­cken oder auf­schie­ben könn­te – war­um muss man davon aus­ge­hen, dass die­se Wider­sprü­che, wenn sie zum Vor­schein kom­men, die Form von Wider­sprü­chen zwi­schen Natio­nen anneh­men müs­sen, vor allem, wenn Natio­nen in der rea­len mate­ri­el­len Zusam­men­set­zung der Welt­wirt­schaft zu so irrele­van­ten Hül­sen gewor­den sind? War­um wei­gern sich so vie­le Mar­xis­ten, auch nur dar­über nach­zu­den­ken, wel­che ande­ren For­men die­se Wider­sprü­che anneh­men könn­ten? Eine win­zi­ge Klas­se sitzt jetzt an der Spit­ze der rie­si­gen, unbe­stän­di­gen, wider­sprüch­li­chen kapi­ta­lis­ti­schen Welt, in der jeder zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­sche Kon­flikt die Herr­schaft jedes Mit­glieds die­ser äußerst klei­nen und inte­grier­ten Cli­que ernst­haft gefähr­den könn­te: Ist es unmög­lich, dass sie kei­ne ande­re Über­ein­kunft fin­den könn­ten? Etwa, dass sie den zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flikt gegen die sich gegen­sei­tig ver­stär­ken­de, koor­di­nier­te gemein­sa­me interimpe­ria­lis­ti­sche Aus­beu­tung und den Krieg als not­wen­di­ge Kon­se­quenz zu deren Errei­chung gegen die »eige­ne« Bevöl­ke­rung aus­tau­schen könn­ten? Die dazu not­wen­di­ge Pra­xis wür­de natür­lich auf die Selb­st­ab­schaf­fung des Kapi­ta­lis­mus durch das impe­ria­lis­ti­sche Finanz­ka­pi­tal selbst hin­aus­lau­fen.26

Als Mate­ria­lis­ten und Mar­xis­ten27 wür­den wir dann natür­lich fra­gen, wel­che poli­ti­sche Pra­xis dies nach sich zie­hen wür­de, wel­che rea­len poli­ti­schen Hin­der­nis­se, Mög­lich­kei­ten und Aus­sich­ten sich hier erge­ben? Als Weg­wei­ser, von wo aus das gegen­wär­ti­ge Pro­gramm wirk­lich in Gang gekom­men zu sein scheint, lohnt es sich, hier aus­führ­lich aus einem bemer­kens­wert vor­aus­schau­en­den Arti­kel zu zitie­ren, der 1975 in der Zeit­schrift Sci­ence for the Peo­p­le erschien und in dem die poli­ti­schen Impli­ka­tio­nen der Über­be­völ­ke­rungs­hys­te­rie des Club of Rome ana­ly­siert wurden:

Die sich ver­schär­fen­den Kon­flik­te zwi­schen den ver­schie­de­nen kapi­ta­lis­ti­schen Inter­es­sen machen daher ein Ver­mitt­lungs­in­stru­ment erfor­der­lich, das sicher­stellt, dass die Gesamt­in­ter­es­sen des kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems gewahrt blei­ben. Inner­halb des ›inter­na­tio­na­len Rah­mens‹ des Club of Rome kön­nen ›Staats­män­ner, Poli­ti­ker und Wis­sen­schaft­ler‹ die all­ge­mei­nen Ent­schei­dun­gen erör­tern und for­mu­lie­ren, die ›für die Kapi­ta­lis­ten zu einer Not­wen­dig­keit wer­den und nicht dem guten Wil­len und den Vor­lie­ben‹ der ›engen natio­na­len Inter­es­sen‹ über­las­sen wer­den sol­len. Wäh­rend jedes gro­ße Unter­neh­men und jede Regie­rung damit beschäf­tigt ist, die Poli­tik zu for­mu­lie­ren, die ihren eige­nen Inter­es­sen am bes­ten dient, muss sich jedes Unter­neh­men auch bewusst wer­den, dass eine sol­che Poli­tik nicht umge­setzt wer­den kann, wenn sie von den ande­ren abge­lehnt wird. Der Club of Rome scheint sich selbst, zumin­dest für den Augen­blick, zur Vor­aus­pla­nungs­agen­tur für das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem als Gan­zes ernannt zu haben.

In den fort­ge­schrit­te­nen kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern, ins­be­son­de­re in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, ist der Mythos einer offe­nen Gesell­schaft mit glei­chen Auf­stiegs­chan­cen in einer stän­dig expan­die­ren­den Wirt­schaft – mit ›pie in the sky‹ – ein wich­ti­ger Bestand­teil einer Ideo­lo­gie gewe­sen, die die bestehen­den Macht­ver­hält­nis­se legi­ti­miert. Ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gungs­ar­beit, die sich in geeig­ne­ter Wei­se mit wirt­schaft­li­cher Zusam­men­ar­beit und gewalt­sa­mer Unter­drü­ckung abwech­selt, hat die Akzep­tanz des ›ame­ri­ka­ni­schen Sys­tems‹ durch eine gro­ße Mehr­heit der Men­schen in die­sem Land gesi­chert. Der Erfolg ähn­li­cher Maß­nah­men in ande­ren Län­dern ist trotz kul­tu­rel­ler Unter­schie­de weit­ge­hend durch den Grad ihrer wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung bedingt. So wur­de das Auf­tre­ten der Demo­kra­tie im Kapi­ta­lis­mus durch die Ver­spre­chun­gen ermög­licht, die sich aus einer boo­men­den, auf dem Impe­ria­lis­mus basie­ren­den Wirt­schaft erga­ben (mit dem dar­aus resul­tie­ren­den Man­gel an kapi­ta­lis­ti­scher Ent­wick­lung und Demo­kra­tie in gro­ßen Tei­len der Welt). Die Annah­me, dass die Pro­duk­ti­ons­stei­ge­rung durch tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt die Ver­tei­lungs­un­gleich­hei­ten im Kapi­ta­lis­mus – die eigent­li­che Grund­la­ge der kapi­ta­lis­ti­schen Demo­kra­tie – lösen wür­de, hat sich als falsch und irre­füh­rend erwie­sen. Die Ungleich­hei­ten sind nie ver­schwun­den, auch nicht in den ent­wi­ckel­ten Län­dern. In die­sen Län­dern ist das Wirt­schafts­wachs­tum zum Still­stand gekom­men, mit der Fol­ge, dass die Arbeits­lo­sig­keit in die Höhe schießt und die Real­löh­ne sin­ken. Eine Ver­schlech­te­rung des Lebens­stan­dards der meis­ten Erwerbs­tä­ti­gen scheint unver­meid­lich, was die der­zei­ti­ge Ideo­lo­gie immer unglaub­wür­di­ger macht. Da die Argu­men­te für die Gren­zen des Wachs­tums als unab­hän­gig von den sozia­len und poli­ti­schen Sys­te­men dar­ge­stellt wer­den, wird zuneh­mend ver­sucht, die Men­schen davon zu über­zeu­gen, einen nied­ri­ge­ren Lebens­stan­dard zu akzep­tie­ren und sie gleich­zei­tig davon zu über­zeu­gen, dass die Pro­ble­me des Kapi­ta­lis­mus das unver­meid­li­che Ergeb­nis einer jeden Indus­trie­ge­sell­schaft sind. Es scheint jedoch unwahr­schein­lich, dass sich die meis­ten Erwerbs­tä­ti­gen durch sol­che Argu­men­te dazu bewe­gen las­sen, eine kon­ti­nu­ier­li­che Ver­schlech­te­rung ihres Lebens­stan­dards zu akzep­tie­ren und ihre Hoff­nun­gen auf einen Auf­stieg in einer offe­nen Gesell­schaft auf­zu­ge­ben. Die wirt­schaft­li­che Fle­xi­bi­li­tät des Sys­tems und die sozia­le Unter­stüt­zung für die­ses Sys­tem könn­ten also durch­aus schwin­den. Dar­aus ergibt sich die Not­wen­dig­keit von mehr Auto­ri­tät und Zwang, um eine zuneh­mend star­re und hier­ar­chi­sche Gesell­schafts­ord­nung auf­recht­zu­er­hal­ten. Die Sta­bi­li­tät der neu­en Gesell­schafts­ord­nung wird dann davon abhän­gen, ob es gelingt, zumin­dest die pri­vi­le­gier­te­ren Tei­le der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung – die Mit­tel­schich­ten – davon zu über­zeu­gen, dass poli­zei­li­che Repres­si­on und ande­re auto­ri­tä­re Maß­nah­men unver­meid­lich sind, um das Sys­tem zu ret­ten. Obwohl die Argu­men­te der ›Model­le des Unter­gangs‹ die Armen nicht davon über­zeu­gen wer­den, die­se neue Poli­tik des Kapi­ta­lis­mus zu akzep­tie­ren, kön­nen die apo­ka­lyp­ti­schen Pro­jek­tio­nen des Club of Rome nütz­lich sein, um die ent­schei­den­de Unter­stüt­zung der Mit­tel­schich­ten in den ent­wi­ckel­ten Län­dern für ein auto­ri­tä­res Regime zu sichern. Dies wird für das Über­le­ben des Kapi­ta­lis­mus – und nicht der Welt – not­wen­dig sein. Natür­lich wer­den bei dem Ver­such, die kapi­ta­lis­ti­sche Auto­ri­tät zu stär­ken, die Argu­men­te für die Gren­zen des Wachs­tums durch vie­le ande­re ideo­lo­gi­sche und prak­ti­sche Zuta­ten ergänzt. Sexis­mus, Ras­sis­mus und ande­re tief sit­zen­de und weit ver­brei­te­te sozia­le (und reli­giö­se) Vor­ur­tei­le und Ängs­te wer­den auch wei­ter­hin von vor­ka­pi­ta­lis­ti­schen und kapi­ta­lis­ti­schen herr­schen­den Grup­pen benutzt wer­den, um ihre Fein­de zu spal­ten und die Unter­stüt­zung der­je­ni­gen zu gewin­nen, die in der Mit­te gefan­gen sind, mit ambi­va­len­ten Inter­es­sen und Zuge­hö­rig­kei­ten. Die gegen­wär­ti­gen wirt­schaft­li­chen, sozia­len und poli­ti­schen Unter­schie­de zwi­schen und inner­halb der Natio­nen sind zwar weit­ge­hend das Ergeb­nis des Impe­ria­lis­mus und der unglei­chen kapi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lung, aber es gibt auch ande­re wich­ti­ge kul­tu­rel­le Unter­schie­de. Die Vor­schlä­ge für eine Tria­ge kön­nen als beson­ders abscheu­li­che Ver­su­che ange­se­hen wer­den, all die­se Unter­schie­de zu nut­zen, um die Men­schen dar­an zu hin­dern, ein­an­der und ihre wirk­li­chen Pro­ble­me zu ver­ste­hen.28

Die quan­ti­ta­ti­ve Kon­zen­tra­ti­on der gegen­wär­tig herr­schen­den Klas­se scheint irgend­wann in den spä­ten 1960er oder frü­hen 1970er Jah­ren in einen ent­schei­den­den qua­li­ta­ti­ven Wan­del über­ge­gan­gen zu sein. Es kam zum abso­lu­ten Auf­stieg einer Cli­que aus den höchs­ten Krei­sen der Indus­trie, des Mili­tärs, des Geheim­diens­tes, der Finanz­welt und des orga­ni­sier­ten Ver­bre­chens. Die­se Cli­que war durch den Zwei­ten Welt­krieg und dann durch den Kal­ten Krieg zusam­men­ge­schweißt wor­den und wur­de durch die not­stands­be­ding­te Aus­set­zung der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen ermäch­tigt, die mit den genann­ten Krie­gen gerecht­fer­tigt wur­de. Es gibt eine Rei­he auf­schluss­rei­cher Momen­te, die sich als wich­ti­ge Weg­wei­ser für die­sen Wan­del anbieten:

  1. Die Auf­he­bung der Kon­ver­tier­bar­keit des US-Dol­lars in Gold, was die abso­lu­te Unter­ord­nung von Ame­ri­kas tria­di­schen Ver­bün­de­ten (Euro­pa und Japan) unter die will­kür­li­che Dol­lar-Dik­ta­tur und in der Tat den gan­zen Glo­bus unter die zu ihrer Unter­stüt­zung not­wen­di­ge Mili­tär­dik­ta­tur bedeutete;
  1. der Pro­zess gegen die Vie­rer­ban­de, der das Ende der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on und den Höhe­punkt der ers­ten his­to­ri­schen Wel­le des Sozia­lis­mus-Kom­mu­nis­mus bedeutete;
  1. man ist sogar ver­sucht, bis ins Jahr 1963 zurück­zu­ge­hen, bis zur Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy, die den Unwil­len der herr­schen­den Klas­se der USA und der gan­zen Welt signa­li­siert, auch nur ein Mini­mum an demo­kra­ti­schem Ein­fluss der reak­tio­närs­ten, chau­vi­nis­tischs­ten und will­fäh­rigs­ten Arbei­ter­aris­to­kra­tie der Welt zu dulden.
  1. Am bedeu­tends­ten ist aber wohl die Ver­öf­fent­li­chung der Gren­zen des Wachs­tums im Jahr 1972.

Die ers­ten drei Momen­te waren sowohl not­wen­dig als auch mög­lich auf­grund der rea­len und gegen­wär­ti­gen Gefahr einer voll­stän­di­gen glo­ba­len Revo­lu­ti­on. Die­se mani­fes­tier­te sich am deut­lichs­ten in der Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung der Drit­ten Welt, der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on in der Zwei­ten Welt und den radi­ka­len Pro­test­be­we­gun­gen in der Ers­ten Welt. Ange­sichts die­ser über­wäl­ti­gen­den Bedro­hung muss­ten alle Tei­le der pri­vi­le­gier­ten Klas­sen der Welt den Schutz der herr­schen­den US-Cli­que zu deren Bedin­gun­gen akzep­tie­ren. In die­sem Sin­ne lässt sich eine direk­te Ana­lo­gie zur Dyna­mik der faschis­ti­schen Dik­ta­tu­ren der Zwi­schen­kriegs­zeit her­stel­len. Es wäre daher nicht ver­fehlt die­se Ent­wick­lung im Wesent­li­chen als Wie­der­auf­le­ben des Faschis­mus im glo­ba­len Maß­stab zu bezeich­nen. Es ist daher nur fol­ge­rich­tig, dass auch die alte Hand­lan­ge­rin der rechts­extre­men Reak­ti­on, die Euge­nik, wie­der auf­tauch­te. In der Tat liegt die Bedeu­tung des Buches Gren­zen des Wachs­tums für unse­re heu­ti­ge Argu­men­ta­ti­on dar­in, dass es uns einen Ein­druck von den lang­fris­ti­gen, umfas­sen­den Plä­nen die­ser Klas­se ver­mit­telt, die sich hier als Fol­ge ihres gefähr­li­chen Auf­stiegs herauskristallisierten.

Mit der Nie­der­la­ge des Sozia­lis­mus-Kom­mu­nis­mus begann die herr­schen­de Klas­se mit der end­gül­ti­gen Demon­ta­ge der fort­schritt­li­chen natio­na­lis­ti­schen Regime der Drit­ten Welt und der Sozi­al­de­mo­kra­tie der Ers­ten Welt. Bei­de wur­den zuvor als stra­te­gi­sche Not­wen­dig­kei­ten hin­ge­nom­men. Dies hat­te den iro­ni­schen Effekt, dass prak­tisch die gesam­te glo­ba­le Lin­ke seit den 90er Jah­ren in eine objek­tiv kon­ser­va­ti­ve Posi­ti­on gebracht wur­de. Ange­sichts des welt­wei­ten Blitz­kriegs der herr­schen­den Klas­se konn­ten die geschock­ten fort­schritt­li­chen Kräf­te der Erde kaum mehr tun, als Ad-hoc-Über­le­bens­stra­te­gien zu ent­wi­ckeln und alles zu tun, um sich an die­se letz­ten Refu­gi­en zu klam­mern – sei es geo­gra­fisch, poli­tisch, sprach­lich oder kul­tu­rell. Die­se Reak­ti­on war natür­lich und sie war auch gerecht­fer­tigt, auch wenn sie letzt­lich schei­ter­te. Schlim­mer noch, als die­se Bas­tio­nen schrumpf­ten, als ein Kom­pro­miss nach dem ande­ren geschlos­sen wur­de, als nur noch die schmut­zigs­ten libe­ra­len Scha­len auf dem ansons­ten voll­stän­dig (re)nazifizierten glo­ba­len Ter­rain ver­streut blie­ben, wur­de der poli­ti­sche Inhalt zum Spie­gel der objek­ti­ven Form. Die­se funk­tio­nell kon­ser­va­ti­ve Lin­ke wird durch Marx‹ Beschrei­bung des feu­da­len Sozia­lis­mus im Mani­fest vor fast zwei Jahr­hun­der­ten sehr gut charakterisiert:

[…] halb Kla­ge­lied, halb Pas­quill, halb Rück­hall der Ver­gan­gen­heit, halb Dräu­en der Zukunft, mit­un­ter die Bour­geoi­sie ins Herz tref­fend durch bit­te­res, geist­reich zer­rei­ßen­des Urteil, stets komisch wir­kend durch gänz­li­che Unfä­hig­keit, den Gang der moder­nen Geschich­te zu begrei­fen.29

Man kann sich hier die­je­ni­gen vor­stel­len, deren ein­zi­ge Ver­tei­di­gung ihres »poli­ti­schen Pro­gramms« (das immer dar­auf hin­aus­läuft, den einen oder ande­ren Ava­tar des Spek­ta­kels der herr­schen­den Klas­se zu beju­beln, sei es Xi, Putin, Lula usw.) dar­in besteht, die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten auf­zu­zäh­len, in denen die herr­schen­de Klas­se der USA sogar noch räu­be­ri­scher oder ver­kom­me­ner ist als ihr der­zei­ti­ger Ret­ter. Der gute Bul­le, den chi­ne­si­sche Inves­to­ren oder rus­si­sche Söld­ner im Gegen­satz zu ihren bösen NATO-Kol­le­gen spie­len kön­nen, wird von eini­gen so genann­ten Kom­mu­nis­ten gera­de­zu lächer­lich gefei­ert, als ob die­se Rol­le nicht Teil eines inte­grier­ten und koor­di­nier­ten Sys­tems wäre. Es ist wich­tig, sich klar­zu­ma­chen, dass die »US-geführ­te« herr­schen­de Klas­se allem Anschein nach seit den 90er Jah­ren geplant hat, das Gebil­de namens USA abzu­schaf­fen (viel­leicht gab es dies­be­züg­lich Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten auf hoher Ebe­ne). Mol­ly Klein hat beob­ach­tet, dass die Trump-Show beson­ders deut­lich macht, wie ernst die­se Opti­on ist. Das liegt zumin­dest teil­wei­se dar­an, dass die herr­schen­de Klas­se innen­po­li­tisch nicht die Absicht hat­te, die sich auf­blä­hen­de Arbei­ter­aris­to­kra­tie zu hal­ten, die als unver­meid­li­che Fol­ge der poli­ti­schen Not­wen­dig­kei­ten des Kal­ten Krie­ges ent­stan­den war. Und inter­na­tio­nal war sie bereit, alle unbe­que­men rhe­to­ri­schen Ver­pflich­tun­gen gegen­über Libe­ra­lis­mus, Bür­ger­rech­ten oder Demo­kra­tie, die mit ihrer Geschich­te ver­bun­den sind, über Bord zu wer­fen. Hier sind wir wie­der bei den bemer­kens­wer­ten natio­na­lis­ti­schen Scheu­klap­pen so vie­ler Men­schen, die unmög­lich in Betracht zie­hen kön­nen, dass die­sel­be herr­schen­de Klas­se, die bei­spiels­wei­se »ihr eige­nes« Unter­neh­men in den Abgrund reißt, um ihre wirk­li­chen per­sön­li­chen Inter­es­sen durch­zu­set­zen, das glei­che mit einem Land tun könn­te. Auch nicht, dass ein schein­ba­rer Miss­erfolg ein Erfolg sein kann. Sie­he zum Bei­spiel den Irak, wo die ach so schlau­en geo­po­li­ti­schen Exper­ten im offen­sicht­li­chen Schei­tern der USA schwel­gen – als ob die der­zei­ti­ge Anar­chie in West­asi­en nicht das Ziel des ame­ri­ka­ni­schen Angriffs gewe­sen wäre, als ob »Schei­tern« nicht der poli­tisch prak­ti­ka­bels­te Rah­men wäre, in dem die Kern­zie­le der impe­ria­len herr­schen­den Klas­se vor­an­ge­bracht wer­den könn­ten.30 Was genau hät­te ein ech­ter ame­ri­ka­ni­scher Sieg nach Ansicht die­ser mul­ti­po­la­ren Exper­ten bedeu­ten sol­len? Sind sie wirk­lich so naiv zu glau­ben, dass Ame­ri­ka in der Regi­on eine Mus­ter­de­mo­kra­tie instal­lie­ren woll­te? Aber glau­ben sie auch, dass es poli­tisch mach­bar gewe­sen wäre, eine offe­ne Dik­ta­tur zu errich­ten, zumal ange­sichts der Ver­mark­tung des Krie­ges? Im Grun­de genom­men fal­len die­se Klug­schei­ßer auf die glei­che lächer­li­che »stüm­per­haf­te Imperiums«-Masche der schlimms­ten Libe­ra­len und Trot­tel der ers­ten Welt her­ein. Tritt man einen Schritt zurück und betrach­tet die objek­ti­ven Inter­es­sen der herr­schen­den Klas­se, die poli­ti­schen Zwän­ge, unter denen sie agiert, und ihre tat­säch­li­chen Fähig­kei­ten, zu pla­nen, zu stra­te­gi­sie­ren und ihre Zie­le zu ver­fol­gen, muss man in der Tat zu dem Schluss kom­men, dass die der­zei­ti­ge Lage im Irak wahr­schein­lich sehr nahe an das her­an­kommt, was von den Pla­nern beab­sich­tigt war.

Da die herr­schen­de Klas­se win­zig klein ist, kann sie ihren Wil­len gegen­über den Mas­sen kaum offen aus­spre­chen. Viel­mehr muss sie unauf­hör­lich die Rea­li­tät ver­dre­hen, ihre eige­nen Inter­es­sen als unse­re aus­ge­ben und unse­re als Feind. Sie ist nicht, was sie ist, denn das moder­ne Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­netz ermög­licht es ihr, wie ein glo­ba­ler Iago zu agie­ren und uns end­los in Rauch und Spie­geln zu ver­stri­cken. Sie lässt die wirk­li­chen Figu­ren und Kräf­te der Geschich­te gleich­zei­tig in zahl­lo­sen Rol­len in den ver­schie­de­nen Gen­res ihrer unauf­hör­li­chen ver­wir­ren­den Erzäh­lung auf­tre­ten. Und offen­sicht­lich hat sich die­ser glo­ba­le Iago dar­auf ein­ge­stellt, die USA als eine Art glo­ba­le ISIS (Daesh) dar­zu­stel­len. Wie ISIS spie­len die USA nun (immer noch) die Rol­le einer rea­len, kon­kre­ten impe­ria­len Kriegs­ma­schi­ne, die direkt die Inter­es­sen der herr­schen­den Klas­se vor­an­treibt UND die Rol­le eines Comic-Super­schur­ken im mul­ti­po­la­ren Spek­ta­kel (dies ist natür­lich eine Ver­ein­fa­chung – dies ist nur ein Gen­re in dem Spek­ta­kel, das zu viel­schich­tig und kom­plex ist, um es hier umfas­send zu cha­rak­te­ri­sie­ren). Durch die­se Dar­bie­tung wer­den Kräf­te, die sonst sofort als Ver­rä­ter, Ver­sklav­te und Fein­de des »eige­nen« Vol­kes erkannt wür­den – wie die herr­schen­de Klas­se in Russ­land und Chi­na – zu edlen und fort­schritt­li­chen mul­ti­po­la­ren Patrio­ten verklärt.

War­um dies alles? Das dia­lek­ti­sche Gegen­stück zur extre­men Kon­zen­tra­ti­on und Ein­heit der gegen­wär­tig herr­schen­den Klas­se ist die ent­spre­chen­de poten­zi­el­le Ein­heit prak­tisch der gesam­ten Welt­be­völ­ke­rung in ihrem objek­ti­ven Wider­stand gegen die­se Klas­se. Wir leben wirk­lich in einer uni­po­la­ren Welt, geeint unter der Dik­ta­tur einer klei­nen Koali­ti­on der herr­schen­den Klas­se, die durch ihr gemein­sa­mes Inter­es­se an unse­rer Aus­beu­tung – und dar­an, nicht gestürzt zu wer­den – geeint ist. Die wah­re Nega­ti­on die­ser Uni­po­la­ri­tät ist die wirk­li­che Ein­heit der arbei­ten­den Mas­sen um UNSER gemein­sa­mes Inter­es­se, sie zu stürzen.

Als der Kom­mu­nis­mus zum ers­ten Mal als ech­te Mög­lich­keit am Hori­zont auf­tauch­te, gelang es der herr­schen­den Klas­se, ihn durch die Neue­rung, die wir Impe­ria­lis­mus, Mono­po­li­sie­rung und Finan­zia­li­sie­rung nen­nen, gleich­zei­tig »inner­halb« und, wie Marx und Lenin deut­lich mach­ten, jenseits/​außerhalb des Kapi­ta­lis­mus erfolg­reich zu ver­hin­dern. Ein Kern­ele­ment die­ser Pra­xis war die Mobi­li­sie­rung von klein­bür­ger­li­chen, sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Refor­mis­ten wie Kaut­sky. Wie wir oben erör­tert haben, ist Kaut­skys Theo­rie des Ultra­im­pe­ria­lis­mus ein klas­si­sches Bei­spiel dafür, wie die Arbei­ter­klas­se vom Revi­sio­nis­mus in die Irre geführt wer­den kann.

Anstatt ihre eige­ne herr­schen­de Klas­se zu bekämp­fen, wur­den vie­le Arbei­ter dazu ver­lei­tet, sie (oder Tei­le von ihnen) als mög­li­che Akteu­re des Fort­schritts zu betrach­ten.31 In die­ser Hin­sicht trug sie auch dazu bei, den natio­na­len Chau­vi­nis­mus zu för­dern. Außer­dem lie­fer­te sie jenen obe­ren Seg­men­ten der Arbei­ter­klas­se, die mit impe­ria­len Super­pro­fi­ten besto­chen wer­den konn­ten, eine bereit­wil­lig ange­nom­me­ne Recht­fer­ti­gung. Sie dien­te auch dazu, die grund­le­gen­de Ver­bin­dung zwi­schen Impe­ria­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus zu ver­schlei­ern, indem sie die Not­wen­dig­keit leug­ne­te, dass sich letz­te­rer in einem bestimm­ten Sta­di­um der Finan­zia­li­sie­rung in ers­te­ren ver­wan­deln muss. Sie ver­lei­te­te die Arbei­ter­klas­se dazu, sich der zahn­lo­sen, »from­men« Oppo­si­ti­on klein­bür­ger­li­cher Mora­lis­ten gegen bestimm­te »For­men« des Impe­ria­lis­mus oder sei­ne »Aus­wüch­se« unter­zu­ord­nen und die fal­schen, nicht-mar­xis­ti­schen Vor­stel­lun­gen von nicht-impe­ria­lis­ti­schem Finanz- oder Mono­pol­ka­pi­tal zu pro­pa­gie­ren. Für die Arbei­ter­klas­se bedeu­te­ten die­se Vor­stel­lun­gen eine pas­si­ve Unter­ord­nung unter das Klein­bür­ger­tum, das ledig­lich ver­such­te, die Arbei­ter­klas­se als Druck­mit­tel ein­zu­set­zen, um eini­ge weni­ge Pri­vi­le­gi­en von der Bour­geoi­sie zu erhal­ten oder zu erhal­ten. Die unver­meid­li­chen Fol­gen: Ver­rat, gefolgt von Des­il­lu­sio­nie­rung und der (zeit­wei­li­gen) Unfä­hig­keit der Arbei­ter­klas­se zur Erfül­lung ihres Schicksals.

Heu­te hat der Impe­ria­lis­mus sei­ne Gren­ze erreicht und sogar über­schrit­ten und macht eine Art Rück­ent­wick­lung durch. In sei­nen Grund­zü­gen erscheint dies fast wie eine Art ratio­na­le Umstruk­tu­rie­rung des Glo­bus. Die herr­schen­de Klas­se macht kaum noch einen Hehl aus ihren Plä­nen, gro­ße Tei­le der Welt­be­völ­ke­rung aus­zu­rot­ten, fast den gesam­ten Rest aus­zu­plün­dern und zu ver­skla­ven und zu die­sem Zweck ein dün­ne­res Paket von Pri­vi­le­gi­en an eine ver­klei­ner­te Klas­se oder Kas­te von Auf­se­hern zu ver­tei­len, die sich ver­mut­lich größ­ten­teils aus der abwärts bewe­gen­den Bour­geoi­sie und Klein­bour­geoi­sie des Kerns und der Bour­geoi­sie und Klein­bour­geoi­sie des »auf­stre­ben­den« Südens zusam­men­setzt (wie­der­um eine Ent­wick­lung, die zwar for­mal real ist, aber inhalt­lich eine Fäl­schung dar­stellt, das heißt das fort­schritt­li­che wirt­schafts­po­li­ti­sche Pro­gramm, mit dem dies immer ver­bun­den war). Hin­ter die­ser Kon­ver­genz ver­birgt sich eine noch gewal­ti­ge­re, epo­cha­le Kon­ver­genz: die der gro­ßen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung, die bis­her durch die natio­na­le Auf­tei­lung der Welt und die impe­ria­le Arbeits­tei­lung geschich­tet und gegen­ein­an­der aus­ge­spielt wurde.

Dies ist die größ­te Gefahr für die herr­schen­de Klas­se, die größ­te Her­aus­for­de­rung, die vor ihr liegt: das auto­ri­tä­re Kon­troll­git­ter zu ver­an­kern, bevor die­se Schich­ten ihre objek­ti­ve Ein­heit unter kom­mu­nis­ti­scher Füh­rung erken­nen und danach han­deln. Das viel­leicht größ­te Werk­zeug der herr­schen­den Klas­se, um die­ses Manö­ver durch­zu­zie­hen, ist der Multipolarismus.

In der »unter­ge­hen­den« Ers­ten Welt, in der sich jeden Tag völ­lig neue Per­spek­ti­ven für die Orga­ni­sie­rung eröff­nen, span­nen klein­bür­ger­li­che intel­lek­tu­el­le Möch­te­gern-Radi­ka­le rei­hen ihre Wägen im faden­schei­nigs­ten »kom­mu­nis­ti­schen« Schlepp­tau der Lulas, Xis oder Putins in die Kara­wa­ne der Agen­ten der herr­schen­den Klas­se ein, anstatt das revo­lu­tio­nä­re Poten­zi­al der ihnen am nächs­ten ste­hen­den arbei­ten­den Bevöl­ke­rung mit Wahr­heit und Klar­heit zu orga­ni­sie­ren. Das hat fol­gen­de Konsequenzen:

  1. Sie ver­schwen­den ihre eige­ne poten­zi­el­le Ener­gie, die sie in den Auf­bau revo­lu­tio­nä­rer Kräf­te ste­cken könn­ten – und len­ken die­se Ener­gie sogar in die Unter­stüt­zung der Reak­ti­on um;
  2. sie ent­frem­den die Mehr­heit der poten­zi­ell orga­ni­sier­ba­ren arbei­ten­den Bevöl­ke­rung, die sicher­lich kein Inter­es­se dar­an hat, wei­ter zu den erbärm­li­chen Bedin­gun­gen degra­diert zu wer­den, die ein sol­cher »Kom­mu­nis­mus« bie­tet (tat­säch­lich ver­spricht der Kom­mu­nis­mus sowohl MEHR poli­ti­sche Frei­heit als auch einen BES­SE­REN Lebens­stan­dard, als ihn die west­li­chen Arbei­ter­aris­to­kra­tien auf dem Höhe­punkt der Sozi­al­de­mo­kra­tie genos­sen! ), was ihre Aner­ken­nung des Kom­mu­nis­mus als ihr Pro­gramm wei­ter ver­zö­gert, und
  3. die Elen­des­ten und Unter­drück­tes­ten des Kerns der Ers­ten Welt und folg­lich die poten­ti­ell Revo­lu­tio­närs­ten wer­den effek­tiv der klein­bür­ger­li­chen Poli­tik der Pas­si­vi­tät im Inland und der Unter­stüt­zung der Reak­ti­on im Aus­land unter­ge­ord­net (die für sie im Spek­ta­kel als Fort­schritt ver­klei­det wird).

Anstatt ihre eige­ne herr­schen­de Klas­se zu bekämp­fen, wird ihnen gesagt, Putin oder Xi wür­den das für sie tun. Schließ­lich, und das ist viel­leicht das Wich­tigs­te, wird ihr Poten­zi­al, sich mit den revo­lu­tio­nä­ren Kräf­ten im Aus­land zu ver­bin­den und zu ver­ei­nen, völ­lig unter­gra­ben, da sie sich in Wirk­lich­keit mit den Mäch­ten ver­bün­den, die fort­schritt­li­che und/​oder revo­lu­tio­nä­re Kräf­te (wie die Kräf­te, die im Don­bass kämp­fen) in der ehe­ma­li­gen Zwei­ten und Drit­ten Welt dis­zi­pli­nie­ren und unter­drü­cken. Der Mul­ti­po­la­ris­mus spie­gelt somit direkt den Kautsky’schen Ultra­im­pe­ria­lis­mus wider: ein Mit­tel, mit dem die herr­schen­de Klas­se durch ihre klein­bür­ger­li­chen Agen­ten die Arbei­ter­klas­se zu Pas­si­vi­tät, natio­na­lem Chau­vi­nis­mus und refor­mis­ti­schen Fan­ta­sien über eine Ent­wick­lung zum Sozia­lis­mus ohne aku­ten und kon­zer­tier­ten Klas­sen­kampf verleitet.

In der Impe­ria­lis­mus­de­bat­te in Deutsch­land hat Karl Lieb­knechts berühm­te Paro­le »Der Haupt­feind steht im eige­nen Land« viel Kon­ster­na­ti­on aus­ge­löst. Denn einer­seits erken­nen alle guten Kom­mu­nis­ten an, dass sie die grund­sätz­lich rich­ti­ge Posi­ti­on gegen­über dem inter­im­pe­ria­lis­ti­schen Ers­ten Welt­krieg ver­trat, gegen den fata­len Natio­nal­chau­vi­nis­mus der Sozi­al­de­mo­kra­ten. Im Kon­text des gegen­wär­ti­gen Krie­ges wird er jedoch von den pseu­do­lin­ken Agen­ten der NATO oder den Recht­fer­ti­gern des west­li­chen Impe­ria­lis­mus ein­ge­setzt, um Russ­land und den Wes­ten (oder die Ukrai­ne) gleich­zu­set­zen und kate­go­risch zu leug­nen, dass es irgend­ei­nen fort­schritt­li­chen Inhalt oder eine Legi­ti­ma­ti­on für die Ent­na­zi­fi­zie­rung der Ukrai­ne oder sogar für den all­ge­mei­ne­ren Kampf des Südens gegen die andau­ern­de impe­ria­lis­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on des Glo­bus gibt. Die­ser schein­ba­re Wider­spruch löst sich auf, wenn man ernst nimmt, dass die Nati­on im Sin­ne des­sen, was die­ser Begriff zu Lieb­knechts Zei­ten bedeu­te­te, als poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Rea­li­tät auf­ge­hört hat zu exis­tie­ren. Die Funk­ti­on der schein­bar wider­strei­ten­den Natio­nen ist heu­te viel näher an der Rol­le der Par­tei­en in den tra­di­tio­nel­len par­la­men­ta­ri­schen bür­ger­li­chen Demo­kra­tien. Sol­che Par­tei­en sind real, sie reprä­sen­tie­ren rea­le diver­gie­ren­de Inter­es­sen, finan­zi­el­le Mit­tel und ande­re Pri­vi­le­gi­en, um sich zu aus­zu­brei­ten usw. Die Feind­se­lig­kei­ten zwi­schen ihnen kön­nen unglaub­lich inten­siv sein, sogar töd­lich für die Betei­lig­ten. In der mar­xis­ti­schen Tra­di­ti­on haben wir die­sen Kon­flikt jedoch immer so ver­stan­den, dass er durch die von der herr­schen­den Klas­se auf­er­leg­ten Gren­zen völ­lig begrenzt ist – und dass der illu­so­ri­sche Glau­be an die Mög­lich­keit, über den par­la­men­ta­ri­schen Kampf einen grund­le­gen­den Wan­del her­bei­zu­füh­ren, eines der wich­tigs­ten Mit­tel ist, mit dem die Mas­sen befrie­det werden.

In die­sem Moment der Auf­lö­sung des Kapi­ta­lis­mus, in der Ein­set­zung eines tota­len, radi­ka­len glo­ba­len Des­po­tis­mus, des­sen Umris­se wir im absur­den und ter­ro­ris­ti­schen Covid-Pro­gramm erah­nen kön­nen, wird ein Sys­tem mit einer ähn­li­chen Logik und Struk­tur wie die bür­ger­li­che Demo­kra­tie auf den gesam­ten Glo­bus ver­all­ge­mei­nert: Wäh­rend die Nati­on in Wirk­lich­keit aus­ge­rot­tet wird, wird ihr Simu­lak­rum durch das Spek­ta­kel zur idée fixe aller Poli­tik erho­ben. So wird das revo­lu­tio­nä­re Poten­zi­al der Mas­sen durch Chau­vi­nis­mus und natio­na­lis­ti­sche poli­ti­sche Sack­gas­sen unter­gra­ben. Es ist bezeich­nend für unse­re der­zei­ti­ge Malai­se, dass quer durch das poli­ti­sche Spek­trum immer deut­li­cher wird, dass die natio­na­len Poli­ti­ker dem Wil­len der Bevöl­ke­rung, dem sie angeb­lich Rechen­schaft able­gen müs­sen, immer mehr und immer dreis­ter gleich­gül­tig gegen­über­ste­hen. Inner­halb weni­ger Mona­te haben sowohl der grü­ne Faschis­mus der Anna­le­na Baer­bock als auch der tra­di­tio­nel­le rechts­po­pu­lis­ti­sche Faschis­mus der Gior­gia Melo­ni erklärt, dass sie den Krieg in der Ukrai­ne trotz der Ableh­nung durch ihre Wäh­ler unter­stüt­zen wer­den. Den­noch kann prak­tisch nie­mand eine brauch­ba­re Alter­na­ti­ve zum hoff­nungs­lo­sen Kampf um die leb­lo­sen Hül­sen der natio­na­len poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen anbieten.

Man muss noch ein­mal beto­nen, dass es hier nicht um einen ver­ein­fa­chen­den und ange­be­ri­schen Reduk­tio­nis­mus geht. So wie die Kri­tik am Par­la­men­ta­ris­mus nicht auf »bei­de Par­tei­en sind gleich« redu­ziert wer­den kann, so kann auch die hier vor­ge­brach­te Kri­tik am vor­herr­schen­den natio­na­lis­ti­schen Rah­men nicht auf »alle Regie­run­gen sind gleich« redu­ziert wer­den. Die ver­schie­de­nen natio­na­len Pro­gram­me haben genau­so viel rea­len poli­ti­schen Inhalt wie die Pro­gram­me ech­ter par­la­men­ta­ri­scher Par­tei­en. Sie dür­fen nicht alle in einen Topf gewor­fen wer­den. Inner­halb der natio­na­len bür­ger­li­chen Poli­tik gibt es typi­scher­wei­se eine Rech­te, die auf den Sieg aus ist sowie eine Lin­ke, deren Auf­ga­be es ist, zu schei­tern, zu betrü­gen und die natür­li­che Basis ihrer Poli­tik – die arbei­ten­den Mas­sen – zu des­il­lu­sio­nie­ren. Nichts­des­to­trotz üben die­se AUCH ihren wirk­li­chen Wil­len durch sie aus und errin­gen tat­säch­lich bestimm­te Siege.

Eine ver­gleich­ba­re Auf­ga­be ist heu­te den Füh­rern des Südens gestellt wor­den. Wel­cher Mensch mit gesun­den Instink­ten kann nicht mit der Rhe­to­rik und der Hal­tung der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on gegen die immer dreis­te­re Rück­kehr zum offe­nen Nazis­mus im Wes­ten sym­pa­thi­sie­ren? Den­noch kann man kei­nem ernst­haf­ten Mar­xis­ten ver­zei­hen, wenn er glaubt, dass die rus­si­sche herr­schen­de Klas­se die Absicht hat die­se Rhe­to­rik in die Tat umzu­set­zen. Die Ent­na­zi­fi­zie­rung ist die revo­lu­tio­nä­re For­de­rung der post­so­wje­ti­schen Mas­sen, die die herr­schen­de Klas­se nicht ein­fach aus der Welt schaf­fen kann. Des­halb muss sie ver­su­chen, sie zu koop­tie­ren, zu ver­zer­ren, zu ver­keh­ren, so wie ande­re fort­schritt­li­che For­de­run­gen in der Ver­gan­gen­heit von der Lin­ken in par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien auf­ge­grif­fen wur­den. Die sys­tem­treue lin­ke Poli­tik der bür­ger­li­chen Par­tei­en zu kri­ti­sie­ren, heißt nicht, den Sozia­lis­mus oder lin­ke Poli­tik zu kri­ti­sie­ren, son­dern ihre Ver­ein­nah­mung und Ver­derb­nis. Genau­so ver­hält es sich auch mit den fort­schritt­li­chen Inhal­te, für die der Mul­ti­po­la­ris­mus das refor­mis­ti­sche Sub­sti­tut abgibt: voll­stän­di­ge Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung, voll­stän­di­ge Ent­na­zi­fi­zie­rung, voll­stän­di­ger glo­ba­ler Kommunismus.

Die Auf­ga­be der Kom­mu­nis­ten besteht dar­in, die Mas­sen in die Lage zu ver­set­zen, ihre revo­lu­tio­nä­ren For­de­run­gen zu klä­ren und sie selbst mit ihren eige­nen revo­lu­tio­nä­ren Mit­teln durch­zu­set­zen. Es ist NICHT die Auf­ga­be der Kom­mu­nis­ten, die Mas­sen zurück in die Fal­len der herr­schen­den Klas­se zu trei­ben – sei­en es nun inner­staat­li­che Par­tei­en oder inter­na­tio­na­le Blö­cke. Die eigent­li­che Auf­ga­be Putins und sei­ner Cli­que hät­te nicht deut­li­cher gemacht wer­den kön­nen als sei­ne Erklä­rung zu Beginn der spe­zi­el­len mili­tä­ri­schen Ope­ra­ti­on, dass es dar­um gehe, die Ukrai­ne zu ent­na­zi­fi­zie­ren UND zu ent­kom­mu­ni­sie­ren. Jeder, der mit dem uner­bitt­li­chen Anti­kom­mu­nis­mus sei­ner Innen­po­li­tik ver­traut ist, hät­te wis­sen müs­sen, was sei­ne wirk­li­che Prio­ri­tät ist. Aber es ist wich­tig zu beto­nen, umso mehr ange­sichts der tota­len Nazi­fi­zie­rung des Glo­bus, die seit der Nie­der­la­ge des Kom­mu­nis­mus statt­ge­fun­den hat, dass die­se bei­den Begrif­fe ein­fa­che, direk­te Gegen­sät­ze dar­stel­len, nicht radi­ka­ler, dia­me­tra­ler ent­ge­gen­ge­setzt als oben und unten, links und rechts, Nord und Süd. Ech­te Ent­kom­mu­ni­sie­rung IST NAT­Ofi­zie­rung, IST Nazi­fi­zie­rung. Ech­te Ent­na­zi­fi­zie­rung und Ent­NA­T­Ofi­zie­rung muss und wird heu­te Kom­mu­ni­sie­rung sein und nichts weni­ger. Die radi­ka­le Kon­zen­tra­ti­on der gegen­wär­tig herr­schen­den Klas­se und ihr küh­nes Pro­gramm einer glo­ba­len faschis­ti­schen Dik­ta­tur haben die­se Bezie­hung auf einen rei­nen, rei­bungs­lo­sen Vek­tor reduziert.

Das ursprüng­li­che Nazi­pro­gramm zur Ent­völ­ke­rung und Aus­plün­de­rung Russ­lands und der Ukrai­ne wur­de bereits mit nur gering­fü­gi­gen Ände­run­gen wie­der auf­ge­nom­men. Doch es fin­det auch inner­halb und außer­halb einer spek­ta­ku­lä­ren oder far­cen­haf­ten Neu­in­sze­nie­rung des­sel­ben statt. Es ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung, die ver­schie­de­nen Funk­tio­nen zu ana­ly­sie­ren und zu wür­di­gen, die sich hier über­la­gern, die vie­len Schich­ten des Spek­ta­kels. Der 11. Sep­tem­ber wur­de unter dem Deck­man­tel meh­re­rer ech­ter, vor­ge­täusch­ter und rea­ler Mili­tär­übun­gen oder »Kriegs­spie­le« im ame­ri­ka­ni­schen Luft­raum aus­ge­tra­gen. Die meis­ten Teil­neh­mer erfüll­ten rea­le Zie­le für die rea­le Ope­ra­ti­on, wäh­rend sie glaub­ten, die fal­sche oder simu­lier­te Rol­le in den Übun­gen zu spie­len. Wich­ti­ge Aspek­te des Covid-Pro­gramms schei­nen in zahl­rei­chen Elite-»Pandemie-Übungen« wie das Event 201 an der Johns Hop­kins Uni­ver­si­ty erprobt wor­den zu sein. In Syri­en war der Kon­flikt zwi­schen den USA und Syri­en »unecht« und »echt«. Fake inso­fern, als die US-Armee und ISIS zwei Arme der exakt glei­chen herr­schen­den Klas­se waren. Real inso­fern, als das rea­le Ter­ri­to­ri­um und die rea­le Bevöl­ke­rung Syri­ens mit ech­ten Waf­fen, Bom­ben und Söld­nern geplün­dert, abge­schlach­tet und gebrand­schatzt wur­den. In der Ukrai­ne wer­den die Pri­vi­le­gier­ten, Ver­netz­ten oder Nütz­li­chen aus dem Land geschleust oder geschützt, wäh­rend die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung – eine der poten­zi­ell rebel­lischs­ten Bevöl­ke­run­gen der Welt, die wie fast die gesam­te post­so­wje­ti­sche Bevöl­ke­rung dem Covid-Pro­gramm äußerst kri­tisch gegen­über­steht – im Kampf gegen ihre rus­si­schen Brü­der in den sinn­lo­ses­ten, gro­tes­kes­ten Tod geschickt. Die rus­si­sche Füh­rung ihrer­seits hat offen­sicht­lich alles in ihrer Macht Ste­hen­de getan, um eine wirk­li­che Ent­na­zi­fi­zie­rung oder auch nur das Errei­chen von mini­mal nach­voll­zieh­ba­ren Kriegs­zie­len zu ver­hin­dern.32 Wenn die Illu­sio­nen über eine »objek­tiv« fort­schritt­li­che Hal­tung, die der rus­si­schen herr­schen­den Klas­se durch die Umstän­de auf­ge­zwun­gen wird, wahr wären, hät­ten wir als abso­lu­tes Mini­mum eine all­ge­mei­ne Mobi­li­sie­rung und das dazu not­wen­di­ge innen­po­li­ti­sche Sozi­al­pro­gramm (das auch den befrei­ten Gebie­ten in der Ukrai­ne ange­bo­ten wird). Wir haben nichts der­glei­chen gese­hen, denn nichts erschreckt die herr­schen­de Klas­se – in Russ­land, in Chi­na, in Euro­pa, in Ame­ri­ka oder sonst­wo – mehr als die post­so­wje­ti­schen Mas­sen, die wie­der bewaff­net, mobi­li­siert und wirk­lich gegen den Nazis­mus mar­schie­ren – was sie wohl auch tun sollten!

Wie Hol­der­lin bekann­ter­ma­ßen bemerk­te, wächst dort, wo die Gefahr ist, auch die ret­ten­de Kraft. Die Abscheu­lich­keit unse­res gegen­wär­ti­gen Augen­blicks ist auch die Fül­le sei­nes Poten­zi­als, wenn wir nur bereit wären, es zu erken­nen. Eine kürz­li­che Bemer­kung eines Genos­sen hat mir gezeigt, wie sehr wir unse­ren Weit­blick ver­lo­ren haben: Er sag­te etwas in der Art von: »Nach Nord Stream 2 kann jeder Idi­ot sehen, dass es für Deutsch­land kei­nen Nut­zen in der NATO gibt.« Die völ­li­ge Inko­hä­renz einer sol­chen Aus­sa­ge für einen Kom­mu­nis­ten lässt sich viel­leicht am bes­ten zei­gen, indem man eine eben­so (un)kohärente Aus­sa­ge gegen­über­stellt, die in Wirk­lich­keit nicht weni­ger absurd ist: »Nach dem 11. Sep­tem­ber kann jeder Idi­ot sehen, dass es für die USA kei­nen Nut­zen in der NATO gibt.« Man sieht hier hof­fent­lich, wie sol­che Sät­ze in gewis­ser Wei­se wahr, aber auch poli­tisch bedeu­tungs­los sind. Sie ver­ra­ten einen Rück­fall in den völ­lig ver­blen­de­ten natio­na­len Rah­men des Klein­bür­ger­tums. Und die ver­rot­te­te Hoff­nungs­lo­sig­keit die­ser Poli­tik könn­te nicht deut­li­cher sein als in den lah­men, absur­den For­de­run­gen im Stil der Larou­chies, die irgend­wie die kom­mu­nis­ti­sche Poli­tik infi­ziert haben und for­dern, dass Deutsch­land (oder sogar die USA!) sei­ne impe­ria­lis­ti­sche Poli­tik auf­gibt und sich sogar fried­lich mit dem auf­stre­ben­den Süden ver­bin­det, viel­leicht sogar mit der Belt and Road Initia­ti­ve! Das ist wirk­lich der reins­te, übels­te Kaut­sky­is­mus, dem man nur inso­fern ver­zei­hen kann, dass er die Mas­sen nicht in Pas­si­vi­tät ein­lullt, als er so lächer­lich und schwach­sin­nig ist, dass er nie­man­den außer die poli­tisch völ­lig nutz­lo­sen klein­bür­ger­li­chen Nar­ren anzieht. In dem Maße, in dem die Mit­tel­schich­ten in die Rei­hen der Mas­sen ein­drin­gen, dür­fen wir den Kom­mu­nis­mus nicht ver­fäl­schen, um ihn ihrem lau­war­men revi­sio­nis­ti­schen Geschmack anzu­pas­sen: Wir müs­sen jene Schich­ten dem vol­len, ein­deu­ti­gen revo­lu­tio­nä­ren Pro­gramm der Mas­sen unterordnen.

Das kapi­ta­lis­ti­sche impe­ria­lis­ti­sche Deutsch­land (oder die USA) wer­den nie­mals ech­te fried­li­che und freund­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu irgend­ei­ner Nati­on ein­ge­hen, außer zu vor­über­ge­hen­den Bünd­nis­sen mit ande­ren Räu­bern – das ist das Ein­mal­eins des Mar­xis­mus-Leni­nis­mus. Rhe­to­ri­sche Auf­ru­fe dazu belei­di­gen ein­fach die Intel­li­genz der Mas­sen. Es hat in der Geschich­te genau EINEN fried­lie­ben­den und frie­dens­stif­ten­den deut­schen Staat gege­ben – die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik. Sie war das Pro­dukt der ein­zi­gen wirk­li­chen Ent­na­zi­fi­zie­rung: der Kom­mu­ni­sie­rung. Die Kom­pro­mis­se, die durch das mas­si­ve, welt­ver­än­dern­de Gewicht des real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus-Kom­mu­nis­mus (wie in der BRD die Sozi­al­de­mo­kra­tie und die Ost­po­li­tik) mit oder inner­halb des kapi­ta­lis­ti­schen Impe­ria­lis­mus mög­lich wur­den, sind mit der Besei­ti­gung des Sozia­lis­mus nicht mehr mög­lich. Des­halb müs­sen Kom­mu­nis­ten ihre Illu­sio­nen über die­se Tat­sa­che auf­ge­ben! Wir müs­sen auf­hö­ren uns ein­zu­bil­den, dass die glei­che geo­po­li­ti­sche Logik gilt wie im Kal­ten Krieg. Die herr­schen­de Klas­se hat heu­te nicht die Absicht, Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen und wir soll­ten das auch nicht. In der gegen­wär­ti­gen Über­gangs­pha­se hat die herr­schen­de Klas­se ihre eige­ne Legi­ti­mi­tät und die ideo­lo­gi­schen Grund­la­gen ihrer poli­ti­schen Hege­mo­nie zer­stört, wäh­rend sie danach strebt, etwas Neu­es auf­zu­bau­en. Der Zeit­punkt könn­te nicht rei­fer sein. Über­all ist man jetzt bereit für den Kom­mu­nis­mus – und statt­des­sen ver­su­chen die Kom­mu­nis­ten, den Mas­sen die schä­bigs­te, kom­pro­mit­tier­te Unter­ord­nung unter die herr­schen­de Klas­se zu verkaufen!

Der gro­ße iri­sche Revo­lu­tio­när James Con­nol­ly erkann­te, dass der wirk­lich fort­schritt­li­che Inhalt des anti­im­pe­ria­len iri­schen Natio­na­lis­mus letzt­lich nur durch den inter­na­tio­na­lis­ti­schen revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus voll ver­wirk­licht wer­den konn­te. Er schrieb einen neu­en Text für die Melo­die eines berühm­ten iri­schen Rebel­len­lie­des aus dem 19. Jahr­hun­dert, das ein per­fek­tes Arte­fakt des fort­schritt­li­chen klein­bür­ger­li­chen repu­bli­ka­ni­schen Natio­na­lis­mus jener Epo­che ist und die Hoff­nung aus­drückt, dass »Irland, lan­ge eine Pro­vinz, wie­der eine Nati­on wird«. Wie uns New­ton lehrt, gibt es heu­te kei­ne Natio­nen, son­dern nur Pro­vin­zen eines ein­zi­gen Rei­ches. Die revo­lu­tio­nä­re Mög­lich­keit zum Sturz die­ses Impe­ri­ums ist weit über die Nütz­lich­keit oder Lebens­fä­hig­keit eines natio­na­len Rah­mens für einen sol­chen Kampf hin­aus gereift, wel­cher jetzt nur der Behin­de­rung die­ses Kamp­fes dient. Die pro­to-revo­lu­tio­nä­ren inter­kom­mu­na­lis­ti­schen über­ar­bei­te­ten Tex­te von Con­nol­ly die­nen auch heu­te noch als eine voll­kom­men ange­mes­se­ne Ant­wort auf die schmut­zi­ge Poli­tik der herr­schen­den Klas­se, die von den Mul­ti­po­la­ris­ten betrie­ben wird:

Man­che Män­ner, mut­los, suchen immer

Unser Pro­gramm zu retouchieren,

Und behaup­ten, wo immer sie sprechen

Dass wir zu viel verlangen.

Selt­sam ist’s, doch sage ich

Sol­che Aus­sa­gen erhei­ten mich,

Denn unse­re For­de­run­gen sind höchst bescheiden,

Wir wol­len nur die Erde.

Unse­re Her­ren alle­samt got­tes­fürch­ti­ge Leut‹,

Deren Her­zen für die Armen pochen,

Ihr Mit­ge­fühl gewäh­ren sie auch uns,

Wären unse­re For­de­run­gen weniger.

Groß­zü­gigs­te See­len! Doch beach­tet bitte,

Was sie von Geburt an genießen,

Ist alles, was wir je zu for­dern wagten

Zu ver­lan­gen, das heißt, die Erde.

Die Arbei­ter lan­ge, mit Seuf­zern und Tränen,

Vor ihren Unter­drü­ckern gekniet.

Doch noch nie, außer aus Furcht,

Das Herz des Tyran­nen geschmolzen.

Wir brau­chen nicht zu knien, unse­re Sache ist groß

An wah­ren Män­nern man­gelt es nicht

Und unser Siegesschrei

Wird sein, wir wol­len die Erde.33

Ver­wei­se

1 Mao Tse-Tung, Über die Klas­sen der chi­ne­si­schen Gesell­schaft (März 1926), Aus­ge­wähl­te Wer­ke, Bd. I, Ver­lag für fremd­spra­chi­ge Lite­ra­tur, Peking 1968, S.9 – 19, https://​www​.mar​xists​.org/​d​e​u​t​s​c​h​/​r​e​f​e​r​e​n​z​/​m​a​o​/​1​9​2​6​/​0​3​/​k​l​a​s​s​e​n​.​h​tml

2 Es gibt auch kei­nen grö­ße­ren Punkt der Unei­nig­keit und Ver­wir­rung in den bei­den poli­ti­schen Sphä­ren, in denen sich die Freie Lin­ke Zukunft bewegt – die Coro­na-Pro­test­be­we­gung auf der einen Sei­te, die tra­di­tio­nel­le Lin­ke auf der anderen.

3 Ähn­lich wie der Begriff »Faschis­mus«, der, wie Mol­ly Klein ein­mal scharf­sin­nig bemerk­te, »kei­ne Essenz ist. Und sein Name ist kein wis­sen­schaft­li­cher Begriff. Er ist der SLO­GAN eines Pro­gramms, einer Pra­xis, einer herr­schen­den Klas­sen­frak­ti­on und ihrer sozia­len Kli­en­ten inner­halb der libe­ra­len Demo­kra­tie, der die libe­ra­le Demo­kra­tie ver­än­dert.« https://​twit​ter​.com/​R​e​d​K​a​h​i​n​a​/​s​t​a​t​u​s​/​1​1​2​9​4​4​8​0​4​3​6​2​6​0​1​6​769

4 Was nun den Namen angeht, so kann man die Theo­rie, für die ich ein­tre­te, durch­aus »Ultra­im­pe­ria­lis­mus« oder »Super­im­pe­ria­lis­mus« nen­nen, nach Hob­son – wie Lenin wit­zel­te, bringt die latei­ni­sche Vor­sil­be nicht viel. Was auch immer es wert ist, es kommt wahr­schein­lich der Theo­rie des Inter­kom­mu­na­lis­mus von Huey P. New­ton am nächs­ten (sie­he ins­be­son­de­re die fol­gen­den Wer­ke von New­ton: Speech Deli­ver­ed at Bos­ton Col­lege: Novem­ber 18,1970, Black Capi­ta­lism Reana­ly­zed (1971) , Who Makes U.S. For­eign Poli­cy (1974),

5 Lenin, Der Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus, Kap 7, http://​www​.mlwer​ke​.de/​l​e​/​l​e​2​2​/​l​e​2​2​_​2​6​9​.​htm

6 Die herr­schen­de Klas­se pro­du­ziert nichts, nicht ein­mal ihre eige­nen Ideen. Wäh­rend also der Mul­ti­po­la­ris­mus, wie der Kaut­sky­is­mus vor ihm, grund­sätz­lich die Inter­es­sen der herr­schen­den Klas­se för­dert, hat er eine orga­ni­sche Basis und ein natür­li­ches Reser­voir in bestimm­ten Schich­ten des Klein­bür­ger­tums und der Arbeiteraristokratie.

7 Natür­lich wird unter den Bedin­gun­gen des glo­ba­len Impe­ri­ums – was New­ton als reak­tio­nä­ren Inter­kom­mu­na­lis­mus bezeich­ne­te – der Begriff des »Kom­pra­dors« irgend­wie bedeu­tungs­los oder viel­leicht sogar über­flüs­sig. Der Begriff wird hier den­noch ver­wen­det, um zu bekräf­ti­gen, dass die­se Klas­sen ent­ge­gen ihren Behaup­tun­gen kei­nes­wegs als wirk­li­cher Bei­trag zu einem (natio­na­len oder kom­mu­na­len) Volks­pro­jekt ange­se­hen wer­den können.

8 Mol­ly Klein weist dar­auf hin, dass die sozia­le Basis noch dün­ner ist: dass die Intel­lek­tu­el­len ein­fach bil­lig gekauft wer­den, jetzt, da die­se Klas­se aus­ge­presst und ech­te Uni­ver­si­tä­ten durch NGO-Denk­fa­bri­ken ersetzt wer­den und es nie­man­den gibt, der sie ein­stellt, außer Gates und dem Rest der Intel­li­genz- und Para-Intel­li­genz­ge­mein­schaft. Die­se Klas­se von Mana­gern und geho­be­nen Fach­kräf­ten wur­de in der Tat weit­ge­hend aus dem Ver­kehr gezo­gen. Die Beloh­nun­gen in der Unter­hal­tungs­in­dus­trie, im Jour­na­lis­mus, in der Rechts­wis­sen­schaft und in der Medi­zin schrump­fen. Gleich­zei­tig bedeu­tet die tat­säch­lich sin­ken­de Pro­fi­tra­te, dass ein schrump­fen­der Teil die­ser Klas­se in klei­ne Unter­neh­men geht.

9 Huey P. New­ton, »Inter­kom­mu­na­lis­mus«, 1974, https://​view​point​mag​.com/​2​0​1​8​/​0​6​/​1​1​/​i​n​t​e​r​c​o​m​m​u​n​a​l​i​s​m​-​1​9​74/, Anm. d. Übers.: Com­mu­ni­ty wur­de nicht mit Gemein­schaft über­setzt, son­dern im Ori­gi­nal belas­sen. Das nicht nur um New­tons Kon­zept des Inter­kom­mu­na­lis­mus im Blick zu haben, das mit »Zwi­schen­ge­mein­schafts­we­sen« oder Ähn­li­chem nicht den rich­ti­gen Ton zu tref­fen scheint.

10 Huey P. New­ton, »Der revo­lu­tio­nä­re Inter­kom­mu­na­lis­mus der Black Pan­ther Par­ty« (1970), https://talkingdrum.jimdofree.com/2015/11/06/huey-p-newton-der-revolution%C3%A4re-kommunalismus-der-black-panther-party/

11 Was New­ton hilf­rei­cher­wei­se den »herr­schen­den Kreis« nennt, um eini­ge schlam­pi­ge oder ste­reo­ty­pe For­men des Den­kens zu erschüt­tern und unse­re Auf­merk­sam­keit auf die Vor­hut der herr­schen­den Klas­se zu len­ken, die Füh­rung die­ser Klas­se, die in die­sem Arran­ge­ment eine ein­zig­ar­ti­ge, direk­te Kon­trol­le aus­übt – und über ein gewis­ses Maß an Auto­no­mie ver­fügt, nicht unähn­lich dem, das abso­lu­te Mon­ar­chen durch die Aus­nut­zung des Kamp­fes zwi­schen dem fal­len­den Adel und dem auf­stre­ben­den Bür­ger­tum erlan­gen konnten.

12 Wer sich davon über­zeu­gen las­sen will, dass das, was Lenin theo­re­tisch zu den­ken bereit war, ange­sichts der mas­si­ven Umwäl­zun­gen seit sei­ner Zeit aktua­li­siert wer­den muss­te, braucht nur sei­ne wie­der­hol­ten Sti­che­lei­en gegen die Mög­lich­keit eines Ultra­im­pe­ria­lis­mus zu beden­ken, indem er ihn mit im Labor her­ge­stell­ten Lebens­mit­teln ver­gleicht, zum Bei­spiel: »Die Ent­wick­lung bewegt sich in der Rich­tung zu Mono­po­len, also zu einem ein­zi­gen Welt­mo­no­pol, einem ein­zi­gen Welt­trust. Das ist unzwei­fel­haft, aber eben­so nichts­sa­gend wie etwa der Hin­weis, daß ›die Ent­wick­lung sich in der Rich­tung‹ zur Her­stel­lung von Nah­rungs­mit­teln im Labo­ra­to­ri­um ›bewegt‹. In die­sem Sin­ne ist die ›Theo­rie‹ des Ultra­im­pe­ria­lis­mus eben­sol­cher Unsinn, wie es eine ›Theo­rie der Ultra­land­wirt­schaft‹ wäre.«

13 Sie sind »reak­tio­nä­re Inter­kom­mu­na­lis­ten« in New­tons Ter­mi­no­lo­gie, die zwar unge­schickt ist, aber den­noch die dia­lek­ti­sche Ein­heit die­ser Phä­no­me­ne her­vor­hebt. Das Spie­gel­bild des »lin­ken« mul­ti­po­la­ris­ti­schen Klein­bür­ger­tums sind die rech­ten »Anti­glo­ba­lis­ten«, Klein­bür­ger, die in einen eben­so aus­sichts­lo­sen Ver­such ver­wi­ckelt sind, ihre Pri­vi­le­gi­en durch die Auf­recht­erhal­tung von »Natio­nen« zu fes­ti­gen oder wie­der­her­zu­stel­len, die objek­tiv längst kei­ne wirt­schaft­li­che Rea­li­tät mehr haben. Es ist inter­es­sant und typisch für die gegen­wär­ti­ge Pha­se des Spek­ta­kels, dass die­se bei­den schein­bar wider­sprüch­li­chen Gen­res der klein­bür­ger­li­chen Reak­ti­on zuneh­mend kom­bi­niert wer­den – sie­he zum Bei­spiel die absur­de »Rage Against the War Machine«-Aktion.

14 Wie Mol­ly Klein es aus­drückt, über­schät­zen sie die tat­säch­li­che Macht der herr­schen­den Klas­se, unter­schät­zen aber ihre Kom­pe­tenz und füh­ren jedes Schei­tern, jeden Rück­schlag oder jede Ver­lang­sa­mung auf Inkom­pe­tenz zurück.

15 Gramsci, Gefäng­nis­heft 14 [Über­set­zung aus dem Eng­li­schen], zitiert nach Mol­ly Klein’s unver­zicht­ba­rer Kri­tik an Zizek: https://​alphons​ev​an​wor​den​.tumb​lr​.com

16 Karl Marx/​Friedrich Engels – Wer­ke, Band 8, »Der acht­zehn­te Bru­mai­re des Lou­is Bona­par­te«, S. 115 – 123 Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1972, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​0​8​/​m​e​0​8​_​1​1​5​.​htm

18 Huey P. New­ton, »Inter­kom­mu­na­lis­mus«, 1974.

19 Essay & Peti­ti­on, Mas­sa­ker in Atti­ca, The Black Pan­ther Inter­com­mu­nal News Ser­vice, 1971: »Vor kur­zem haben die Gefan­ge­nen in Atti­ca die Black Pan­ther Par­ty gebe­ten, mit Nixon, Rocke­fel­ler und Oswald über ihre Frei­heit zu ver­han­deln. Die Black Pan­ther Par­ty bit­tet jetzt den Vor­sit­zen­den Mao Tse-tung der Volks­re­pu­blik Chi­na, mit dem Gefäng­nis­di­rek­tor Nixon über die Frei­heit der unter­drück­ten Völ­ker der Welt zu verhandeln.«

20 Ebenda.

21 Vor allem die Larou­chies arbei­ten hart dar­an, die­sen Begriff jeg­li­cher Bedeu­tung oder jeg­li­chen Inhalts zu berauben.

23 https://​www​.rferl​.org/​a​/​p​u​t​i​n​-​s​-​a​-​s​o​l​i​d​-​m​a​n​-​d​e​c​l​a​s​s​i​f​i​e​d​-​m​e​m​o​s​-​o​f​f​e​r​-​w​i​n​d​o​w​-​i​n​t​o​-​y​e​l​t​s​i​n​-​c​l​i​n​t​o​n​-​r​e​l​a​t​i​o​n​s​h​i​p​/​2​9​4​6​2​3​1​7​.​h​tml

24 Marc Gal­was prä­sen­tiert hier Infor­ma­tio­nen, die jeden Ver­such, die rus­si­sche oder chi­ne­si­sche herr­schen­de Klas­se in irgend­ei­nem sinn­vol­len Sin­ne als fort­schritt­lich zu inter­pre­tie­ren, zunich­te machen, auch wenn sie mit ultra­lin­ken Irr­tü­mern gespickt sind: https://offen-siv.net/wp-content/uploads/2023/01/offensiv‑1 – 2023-Sonderheft-Marc-Galwas.pdf; Auch die Schlüs­sel­rol­le, die Lula und sei­ne Par­tei bei der Ver­ein­nah­mung und Irre­füh­rung der Anti­glo­ba­li­sie­rungs­be­we­gung im Diens­te der impe­ria­lis­ti­schen herr­schen­den Klas­se spie­len, war bereits in den frü­hen 2000er Jah­ren offen­sicht­lich: https://​www​.rupe​-india​.org/​3​5​/​c​o​n​t​e​n​t​s​.​h​tml

26 Wie Marx im Kapi­tal Band III vor­aus­ge­sagt und New­ton als reak­tio­nä­ren Welt­staat dia­gnos­ti­ziert hat: https://magma-magazin.su/2022/09/t‑mohr/imperialism-today-is-conspiracy-praxis/#_ol4crioezadh

27 Das heißt die­je­ni­gen, die nicht nur Kapi­tal Band 1 gele­sen haben, son­dern auch die poli­ti­schen und his­to­ri­schen Schrif­ten von Marx, die nun mal nur so vor Ver­schwö­rungs­theo­rien strotzen.

29 Karl Marx/​Friedrich Engels – Wer­ke. (Karl) Dietz Ver­lag, Ber­lin. Band 4, 6. Auf­la­ge 1972, unver­än­der­ter Nach­druck der 1. Auf­la­ge 1959, Berlin/​DDR. S. 459 – 493, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​0​4​/​m​e​0​4​_​4​5​9​.​htm

31 In die­sem Fall ist eine fried­li­che­re Welt, die durch den sozi­al­de­mo­kra­tisch geführ­ten Impe­ria­lis­mus geschaf­fen wird, wie Baer­bocks femi­nis­ti­sche Außen­po­li­tik heu­te, eine Etap­pe in einer fan­tas­ti­schen revo­lu­tio­nen­frei­en Ent­wick­lung zum Sozia­lis­mus unter der lie­be­vol­len Obhut der Aus­beu­ter selbst.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert