Der Lan­ge-Weg des pol­ni­schen Mar­xis­mus (2/2)

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  • Die Rese­arch in Poli­ti­cal Eco­no­my hat ihre dies­jäh­ri­ge Aus­ga­be dem Mar­xis­mus in Polen nach Rosa Luxem­burg gewidmet.
  • Im zwei­ten Teil der Rezen­si­on (Link zu Teil 1) soll der Fokus auf dem pol­nisch-ame­ri­ka­ni­schen Öko­no­men Oskar Lan­ge liegen. 
  • Sei­ne Sozia­lis­mus­theo­rie beruh­te auf einer Mischung aus Markt­prei­sen, zen­tral geplan­ten Inves­ti­tio­nen und Arbeiter*innenverwaltung der Betriebe. 
  • In lei­ten­den Posi­tio­nen konn­te Lan­ge sei­ne Ideen teil­wei­se prak­tisch erproben. 
  • Dem Kapi­ta­lis­mus warf er vor, sich als indus­tri­el­ler Feu­da­lis­mus von sei­nen libe­ra­len Idea­len zu entfernen.

Am 21. Mai 1944 ver­öf­fent­lich­te die TASS eine Agen­tur­mel­dung des pol­ni­schen Intel­lek­tu­el­len und Pro­fes­sors der Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Oskar Lan­ge. Lan­ge galt zwar als lin­ker, viel­leicht sogar mar­xis­ti­scher, doch wei­test­ge­hend libe­ra­ler Öko­nom. Seit 1943 war er auch ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger. In die­ser Mel­dung berich­te­te Lan­ge, dass er mit vie­len pol­ni­schen Sol­da­ten, Intel­lek­tu­el­len und Poli­ti­kern in der UdSSR über poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen nach dem Krieg gespro­chen habe. Er habe auch mit Mar­schall Sta­lin gespro­chen und die­ser habe bekräf­tigt, dass ein star­kes Polen im Sin­ne der Sowj­et­ui­on sei und das Land zukünf­tig eine zen­tra­le Rol­le in Euro­pa spie­len sol­le. Er dan­ke ihm und Molo­tow für die Gast­freund­lich­keit wäh­rend sei­nes Russ­land­be­suchs und wün­sche sich einen schnel­len Erfolg der Roten Armee.

Die Mes­sa­ge galt den Mäch­ten an bei­den Fron­ten des Zwei­ten Welt­kriegs. Offi­zi­ell unter­stütz­ten Lon­don und Washing­ton die Exi­re­gie­rung unter Sikor­ski. Nun schlug sich eine Stim­me, die in Polen wie in den USA Gehör fand, auf die Sei­te Sta­lins, der sowjet­na­hen Uni­on der pol­ni­schen Patrio­ten und des sich in Grün­dung befind­li­chen Lub­li­ner Komi­tees. Auf der ande­ren Sei­te schuf der Besuch des Ame­ri­ka­ners Lan­ge und des­sen frei­gie­bi­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on bei der sowje­ti­schen Füh­rung das not­wen­di­ge Ver­trau­en, die deut­sche und das heißt, die pol­ni­sche Fra­ge abschlie­ßend zu behan­deln. Der gelern­te Öko­nom Lan­ge arbei­te­te so als Dop­pel­agent zwi­schen den Fron­ten des künf­ti­gen Kal­ten Krie­ges. Nach dem Krieg kehr­te Lan­ge 1945 nach Polen zurück, um das Land mit auf­zu­bau­en, das zu schaf­fen er half.

Oskar Lan­ge gilt vie­len zeit­ge­nös­si­schen Marxist*innen als eine der span­nends­ten Per­sön­lich­kei­ten des pol­ni­schen sozia­lis­ti­schen Dis­kur­ses nach Rosa Luxem­burg. Das Jour­nal Rese­arch in Poli­ti­cal Eco­no­my beschäf­tig­te sich in der dies­jäh­ri­gen Aus­ga­be genau mit die­sem The­ma. Wer­fen wir einen zwei­ten Blick in die Aus­ga­be und schau­en uns an, was zu Oskar Lan­ge und sei­nen Nach­fol­gern geschrie­ben wurde.

Oskar Lan­ges Sozialismus

Rober­to Lam­pa schau­te sich eini­ge Wider­sprü­che der sozia­lis­ti­schen Pla­nungs­kon­struk­ti­on Oskar Lan­ges an. Lan­ges Modell soll­te demo­kra­tisch und anti-büro­kra­tisch sein. Das sowje­ti­sche öko­no­mi­sche Sys­tem lehn­te er als unwis­sen­schaft­lich ab. Sei­ner Ansicht nach habe die Abwe­sen­heit fes­ter öko­no­mi­scher Prin­zi­pi­en zur Par­tei­au­to­kra­tie und Fehl­pla­nung geführt. Als eines die­ser Prin­zi­pi­en soll­te die Ver­tei­lung der Waren über Markt­prei­se und die Pla­nung der gesell­schaft­li­chen Inves­ti­tio­nen über par­tei­un­ab­hän­gi­ge Expert*innen erfol­gen. Drit­tens soll­te es weni­ger direk­tes Staats­ei­gen­tum geben, son­dern es soll­te einen Satz ver­bind­li­cher öko­no­mi­scher Regeln geben, nach denen sich die ansons­ten auto­no­men wirt­schaft­li­chen Ein­hei­ten zu rich­ten hät­ten. Genau­er gesagt, soll­te jede pro­duk­ti­ve Ein­heit durch Gewerk­schaf­ten, Genos­sen­schaf­ten oder Arbeiter*innenräte kon­trol­liert wer­den. Eine Zen­tral­bank hät­te dann die Auf­ga­be, die Pro­duk­ti­vi­tät der ein­zel­nen Ein­hei­ten zu eva­lu­ie­ren, ins­be­son­de­re ihre Fähig­keit, einen Mehr­wert zu erwirt­schaf­ten. Ent­spre­chend die­ser Eva­lua­ti­on soll­ten die Ein­hei­ten dann zur Ein­stel­lung von Arbeits­kräf­ten ver­pflich­tet wer­den, um ratio­na­len Prin­zi­pi­en fol­gen zu kön­nen. Die­ses Kon­zept war stark beein­flusst vom Aus­tro- und Markt­so­zia­lis­mus. Ihm lag die Theo­rie des fran­zö­si­schen Öko­no­men Leon Wal­ras zu Grun­de, die Lan­ge als neu­tral und mora­lisch ansah.

Tat­säch­lich bekam Lan­ge die Mög­lich­keit, sei­ne Ideen an der Pra­xis zu erpro­ben. Bereits 1948 war Lan­ge nach Polen zurück­ge­kehrt, muss­te sich zunächst aber dem Pri­mat der Pol­ni­schen Ver­ei­nig­ten Arbei­ter­par­tei unter­ord­nen. Nach der Rede Krush­chevs auf dem XX. Par­tei­tag der UdSSR im Febru­ar und dem Pose­ner Bahn­ar­bei­ter­streik im Juni 1956 reis­te der reha­bi­li­tier­te pol­ni­sche Apr­tei­chef Wla­dis­law Gomul­ka nach Mos­kau und kam mit einer Rei­he an Locke­run­gen zurück. So gab das Zen­tral­ko­mi­tee der PVAP offen zu, dass der Sechs­jah­res­plan zwi­schen 1949 und 1955 geschei­tert war. Man such­te nach weni­ger kom­pli­zier­ten und feh­ler­an­fäl­li­gen Metho­den der Wirt­schafts­pla­nung und rich­te­te hier­zu einen öko­no­mi­schen Rat ein, dem Oskar Lan­ge vor­saß. Der Rat erstell­te ein Arbeits­pa­pier, das Lan­ges öko­no­mi­sches Kon­zept mit eini­gen Modi­fi­ka­tio­nen über­nahm. Zudem zeig­te sich der Rat inter­es­siert an kyber­ne­ti­schen Model­len, wie Lan­ge in einer Fest­schrift zum Tode Mau­rice Dobbs oder in sei­nen Vor­le­sun­gen an der Uni­ver­si­tät von War­schau äußer­te. Der stell­ver­tre­ten­de Vor­sit­zen­de des öko­no­mi­schen Rates Włod­zi­mierz Brus teil­te eben­falls Lan­ges anti-büro­kra­ti­sche und markt­so­zia­lis­ti­sche Ansichten.
Aber nicht alle waren die­ser Mei­nung. Auch Mich­al Kale­cki betei­lig­te sich an der Debat­te und kam zu völ­lig ande­ren Schlüs­sen. Ihm zufol­ge war der Sozia­lis­mus durch einen Vor­rang der Pro­duk­ti­ons­gü­ter­in­dus­trie vor der Kon­sum­ti­ons­gü­ter­in­dus­trie geprägt, um eine schnel­le Erhö­hung der Pro­duk­ti­vi­tät und eine Ent­las­tung der Arbeiter*innen zu errei­chen. Der Kon­sum­ti­ons­gü­ter­sek­tor müs­se har­mo­nisch mit­wach­sen, um die Real­löh­ne nur pro­por­tio­nal zur Pro­duk­ti­vi­tät anstei­gen zu las­sen. Hier hat­te sei­ner Ansicht nach der Sechs­jah­res­plan ver­sagt, aber die­ses Ver­sa­gen kön­ne man nicht durch Markt­prei­se besei­ti­gen. Sie wür­den eher Anrei­ze set­zen, ver­stärkt auf Kos­ten der Pro­duk­ti­vi­tät in die Kon­sum­gü­ter­pro­duk­ti­on zu inves­tie­ren und die har­mo­ni­sche Ent­wick­lung voll­ends zu unter­gra­ben. Die­se Auf­fas­sung ver­trat er in har­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen auch im Öko­no­mi­schen Rat. Es ist eine Iro­nie der Geschich­te, dass er als ein­zi­ges Mit­glied des Rates, dass nicht auch Mit­glied der Regie­rungs­par­tei war und auf Grund sei­ner spä­ten Remi­gra­ti­on nach Polen sich als ein­zi­ger nie am Sta­lin-Kult betei­lig­te, vor der Über­re­ak­ti­on auf den bis­he­ri­gen “sta­li­nis­ti­schen” Kurs warnte.

Letzt­end­lich war der Öko­no­mi­sche Rat mehr eine Dis­kus­si­ons­platt­form, die Fra­gen für den aka­de­mi­schen Betrieb erar­bei­te­te. Die har­te Poli­tik – auch die Wirt­schafts­po­li­tik – wur­de im ZK der PVAP und ab den 60ern ver­stärkt wie­der im ZK der KpdSU gemacht. Gomul­ka gab nach und nach dem Druck aus Mos­kau stand, wäh­rend die Libe­ra­li­sie­rung wäh­rend des Pol­ni­schen Okto­bers 1956 eine Basis für den Schwarz­markt und die Unter­höh­lung jeg­li­cher Pla­nung leg­te. Lan­ges Modell konn­te also nicht in der Lang­zeit eva­lu­iert wer­den, auch wenn die Mischung aus Markt- und Plan­ele­men­ten bis zum Ende der Volks­re­pu­blik cha­rak­te­ris­tisch für die pol­ni­sche Wirt­schaft blieb.

Polen und die bür­ger­li­chen Revolutionen

Lan­ge betei­lig­te sich auch an den Dis­kus­sio­nen um die pol­ni­sche Geschich­te. Polen durch­lief im 20. Jahr­hun­dert gleich zwei “bür­ger­li­che Revo­lu­tio­nen”. Ein­mal von 1905 bis 1918, ein­mal von 1980 bis 1993. Grze­gorz Konat unter­such­te, wie sich Lan­ge und ande­re pol­ni­sche Mar­xis­ten mit die­sen Erei­ge­nis­sen auseinandersetzten.

Oskar Lan­ge sah in der Abschrift einer Rede vor der Jugend der pol­ni­schen­ei­ne Sozia­lis­ti­schen Par­tei im Jah­re 1931 die bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nen im Zuge des Ers­ten Welt­kriegs als Fol­ge der Schwä­che der Arbeiter*innenbewegung an. Ziel und sozia­ler Inhalt der Revo­lu­tio­nen sei­en zwar bür­ger­lich, aber der Motor sei das Pro­le­ta­ri­at gewe­sen. Aus Angst, dass das Pro­le­ta­ri­at sei­ne Kraft dazu nüt­zen könn­te, die bür­ger­li­che in eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on umzu­wan­deln, koope­rier­te das Bür­ger­tum mit den jewei­li­gen Anci­en Regimes. Im Kampf gegen die alten feu­da­len Kräf­te hät­te die Arbeiter*innenbewegung die bür­ger­li­chen Repu­bli­ken schüt­zen müs­sen und sei zu deren wich­tigs­ter Stüt­ze gewor­den. Allein der rus­si­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie sei die sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on gelun­gen, da die oppo­si­tio­nel­len Bol­sche­wi­ki der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Regie­rung ihre Kom­pro­mis­se mit dem alten Regime nicht durch­ge­hen lie­ßen. Soweit weni­ges Neu­es. Die­se Ansicht ist zum Bei­spiel in der lin­ken Rezep­ti­on der deut­schen Novem­ber­re­vo­lu­ti­on weit verbreitet.

Konat ver­gleicht die­sen Text nun mit der Ein­schät­zung eines der wich­tigs­ten Schüler*innen Lan­ges, Tha­de­usz Kowa­lik. In sei­nem Text “August – die bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on der Epi­go­nen” von 1996 sah Kowa­lik im Zusam­men­bruch des Ost­blocks eine tra­gik-komi­sche Wie­der­ho­lung der Ereig­nis­se nach dem Ers­ten Welt­krieg. Ana­log zur Zeit nach dem Ers­ten Welt­krieg sei­en neben Polen die ehe­ma­li­gen Län­der unter der Habs­bur­ger Mon­ar­chie die trei­ben­den Kräf­te der Geschich­te gewe­sen. Und erneut sei die Arbeiter*innenbewegung der eigent­lich Motor gewe­sen, aus des­sen Kraft her­aus sich letz­ten­lich die arbeiter*innenfeindlichsten Regime gebil­det hät­ten. Die zeit­li­chen Umstän­de hät­ten ein Bünd­nis von Arbeiter*innen, Intel­lek­tu­el­len, katho­li­scher Kir­che und inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen ermög­licht, die zu einem fried­li­chen Wan­del in der Volks­re­pu­blik führ­ten. Doch eben­so wie 1918 ver­lo­ren die Arbeiter*innen. Dies­mal war nicht der alte Adel das Spuk­ge­spenst, dass die Gewerk­schaf­ten zu Lohn­zu­rück­hal­tun­gen und dem Abbau sozia­ler Rech­te moti­vie­ren soll­te – dies­mal war das Spuk­ge­spenst der Bol­sche­wis­mus. Die Furcht vor einer poli­ti­schen Revi­si­on der erkämpf­ten Erfol­ge, ver­kauf­te die Soli­dar­nosz den sozia­len Inhalt der Revo­lu­ti­on. Die­ser Pro­zess der Pas­si­vi­tät beschränk­te sich nicht allei­ne auf 1989. Bereits nach dem Streik auf der Lenin­werft ver­warf die Soli­dar­nosz vie­le sozia­le For­de­run­gen, da sie als kom­mu­nis­tisch geframed wer­den konn­ten. Der Umsturz in Polen sei des­halb ein Epi­go­ne gewe­sen, da die­se Art des Klas­sen­kom­pro­mis­ses zwi­schen Bür­ger­tum und Pro­le­ta­ri­at nicht in die Zeit bereits ent­wi­ckel­ter Indus­trie passt. Das Resul­tat sei das poli­ti­sche Mons­ter Polen, dass in den 90ern alle lin­ken Orga­ni­sa­tio­nen erfolg­reich geschlif­fen, den Katho­li­zis­mus sei­nes pro­gres­si­ven Inhalts beraubt, das Volks­ei­gen­tum geplün­dert und dau­er­haft kon­ser­va­tiv-auto­ri­tä­re Regie­run­gen ermög­licht habe. 1996 konn­te Kowa­lik die öko­no­mi­sche Bedeu­tung der Inte­gra­ti­on in die EU sicher nicht vor­aus­se­hen, aber sein Kon­zept erscheint plau­si­bel ange­sichts der aktu­el­len poli­ti­schen Kämp­fe in Polen.

Indus­tri­el­ler Feudalismus

Jan Topor­wo­ski, einer der füh­ren­den Köp­fe hin­ter die­ser Rese­arch-Aus­ga­be zum pol­ni­schen Mar­xis­mus leg­te den Fin­ger auf Oskar Lan­ges Theo­rie des indus­tri­el­len Feu­da­lis­mus. Ana­lo­gie­bil­dun­gen zum Feu­da­lis­mus haben mit der Wie­der­ent­de­ckung der Grund­ren­ten­theo­rie auch in den letz­ten Jah­ren wie­der Ein­schlag in die mar­xis­ti­sche Lite­ra­tur gefunden.

Die Theo­rie stamm­te im Ori­gi­nal aus der Feder Lud­wik Krzy­wi­ckis, einem Sozio­lo­gen und Öko­no­men, der in Brief­kon­takt mit Fried­rich Engels stand und das Kapi­tal ins Pol­ni­sche über­trug. Er ent­wi­ckel­te sie das ers­te Mal 1889 in der Waschau­er Praw­da, der Zei­tung der unab­hän­gig­keits­kri­ti­schen und reform­ori­en­tier­ten sozia­lis­ti­schen Posi­ti­vis­ten Polens. Krzy­wi­cki sah Kar­tel­le als mythi­sche Wie­der­be­le­bung feu­da­ler Ban­de zur Siche­rung der sozia­len Sta­bi­li­tät an. Markt­me­cha­nis­men wür­den durch die­se aus­ge­setzt, der tech­ni­sche Fort­schritt behin­dert und die Wirt­schaft der Pla­nung des Finanz­sek­tors unter­wor­fen. Mit die­sen Befun­den war Krzy­wi­ski einer der ers­ten, der Hil­fer­dings Finanz­ka­pi­tal anti­zi­pier­te und er nahm Lenins Beschrei­bung einer “Arbei­ter­aris­to­kra­tie” gut ein Vier­tel Jahr­hun­dert vor­weg. Aller­dings änder­te sich sein Blick­win­kel nach dem Besuch der Welt­aus­stel­lung in Chi­ca­go 1893. Hier sah er, wel­che tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten die ame­ri­ka­ni­schen Trusts ent­ge­gen sei­ner Theo­rie zustan­de brach­ten. Eine Lösung die­ses Wider­spruchs zwi­schen den augen­schein­li­chen Empi­rie und sei­ner Theo­rie brach­te er Zeit sei­nes Lebens nicht zustan­de, da er sich Kola­kow­ski zufol­ge zu stark dar­an auf­häng­te, dass der Kapi­ta­lis­mus durch die Anar­chie des Mark­tes schei­te­re und erst der Sozia­lis­mus eine groß­räu­mi­ge Pla­nung zustan­de brächte.

Zu einem der inten­sivs­ten Rezi­pi­en­ten Krzy­wi­ckis ava­ni­cier­te dann kein gerin­ge­rer als Oskar Lan­ge. Er leg­te aller­dings sein Augen­merk dar­auf, dass durch die Mono­pol­bil­dung die sozia­le Stra­ti­fi­zie­rung des Kapi­ta­lis­mus zuneh­me und undurch­läs­sig wer­de. Gera­de im Vor­kriegs­eng­land sah Lan­ge die Gefahr, dass die­se Form der Wirt­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on nicht in der Lage sei, dem Faschis­mus im Kriegs­fall mili­tä­risch Ein­halt zu gebie­ten und schlug daher eine Anti-Kar­tell-Gesetz­ge­bung vor. Das Pro­le­ta­ri­at sah er durch die Mono­pol­bil­dung dop­pelt unter­drückt, öko­no­misch und poli­tisch. An das libe­ra­le Bür­ger­tum rich­te­te er die Fra­ge, ob es aus Angst vor dem Sozia­lis­mus lie­ber die­sen neu­en Feu­da­lis­mus bevor­zu­ge. Die Ant­wort der bri­ti­schen Bour­geoi­sie ken­nen wir. Sie trieb nach der Deindus­tria­li­sie­rung Eng­lands die Finanz­markt­ab­hän­gig­keit radi­ka­ler vor­an als jedes ande­re Land.

Die Theo­rie der kri­ti­schen Reformen

Zuletzt gehen wir einem zen­tra­len Motiv des pol­ni­schen Mar­xis­mus nach, das Gavin Rae in sei­nem Auf­satz besprach: die kri­ti­sche Reform. Polen als Natio­nal­staat exis­tier­te wäh­rend des 20. Jahr­hun­derts ent­we­der als kapi­ta­lis­ti­scher Staat unter dem Pro­tek­to­rat Groß­bri­tan­ni­ens oder als real­so­zia­lis­ti­scher Staat in Abhän­gig­keit Mos­kaus. Die Fra­ge einer radi­ka­len und aut­ar­ken sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on stell­te sich den pol­ni­schen Marxist*innen nie wirk­lich. Daher ent­wi­ckel­ten sie das Kon­zept der kri­ti­schen Reform, sowohl in der Bedeu­tung der Trans­for­ma­ti­on vom Kapi­ta­lis­mus zum Sozia­lis­mus als auch von einem auto­ri­tä­ren zu einem demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus. Wort­füh­rer waren hier Michał Kale­cki und Tade­usz Kowa­lik, die sich in der Tra­di­ti­on Rosa Luxem­burgs und Oskar Lan­ges sahen. Eine zen­tra­le Annah­me war hier­bei die Beob­ach­tung, dass sich in den 50ern die kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten durch den Aus­bau der Sozi­al­sys­te­me und die real­so­zia­lis­ti­schen Staa­ten durch die Revi­si­on des Sta­li­nis­mus anzu­nä­hern schie­nen. Kri­ti­sche Refor­men soll­ten in den jewei­li­gen Staa­ten die­se Annä­he­rung beschleu­ni­gen, um unter dem Aspekt des Wach­sens der Arbeiter*innenklasse sym­bio­tisch unter der Füh­rung der Arbeiter*innenparteien zusammenzuwachsen.

Anders als die gleich­klin­gen­den Ansät­ze Bern­steins oder Hil­fer­dings gehört die Theo­rie der kri­ti­schen Refor­men nicht dem Zweig der evo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­mus­vor­stel­lun­gen an. Viel­mehr schließt sie an der Ana­ly­se Luxem­burgs an, dass der Kapi­ta­lis­mus ein per­ma­nen­tes Defi­zit an effek­ti­ver Nach­fra­ge erzeu­ge. Anders als die KPD-Grün­de­rin sahen Kowa­lik und Kale­cki die­ses Defi­zit jedoch ohne impe­ria­lis­ti­sche Expan­si­on bewäl­tig­bar. Die kri­ti­sche Reform wäre die, wel­che die­ses Nach­fra­ge­de­fi­zit fül­len kön­ne, etwa durch einen öffent­li­chen Inves­ti­ti­ons­sek­tor. Die Theo­rie ist dem­nach dem Keyne­sia­nis­mus ähn­lich, ihre Ursprün­ge rei­chen jedoch bis in die Drei­ßi­ger Jah­re. Könn­te der Kapi­ta­lis­mus sei­ner Kri­sen­haf­tig­keit ent­klei­det wer­den, so könn­te die wach­sen­de Arbeiter*innenschaft lang­fris­ti­ge, fried­li­che Pro­zes­se ein­lei­ten, die in die Eman­zi­pa­ti­on der Klas­se mün­de­ten. Die sozia­lis­ti­schen Staa­ten hin­ge­gen soll­ten die Luxem­burg­schen Repro­duk­ti­ons­sche­ma­ta nut­zen, um die Grö­ße des Nach­fra­ge­de­fi­zits zu bestim­men und mit­tels demo­kra­ti­scher Wirt­schafts­pla­nung und räte­ba­sier­ter Selbst­ver­wal­tung ent­spre­chen­de Inves­ti­tio­nen zu allokalisieren.

Das Kon­zept Kowa­liks und Kale­ckis schei­ter­te prak­tisch wie theo­re­tisch. Der pro­spe­rie­ren­de Staats­ka­pi­ta­lis­mus der USA, den die bei­den Polen vor Augen hat­ten, geriet bereits Anfang der 70er in erns­te Pro­ble­me, also zu dem Zeit­punkt, an dem Kale­cki und Kowa­lik ihre Vor­stel­lun­gen zur kri­ti­schen Reform sys­te­ma­ti­sier­ten. Das Sys­tem zer­fiel in den 80ern voll­ends und führ­te zur Renais­sance des Raub­tier­lie­be­ra­lis­mus. In Polen konn­ten die demo­kra­ti­schen Refor­men zwi­schen 1956 und 1968 weder die poli­ti­schen noch dien öko­no­mi­schen Pro­ble­me der Vol­s­k­re­pu­blik lösen. Ent­täuscht über die Ergeb­nis­se, aber auch die Reak­ti­on ab 1968, emi­grier­ten vie­le mar­xis­tisch ori­en­tier­te Öko­no­men in die west­li­chen Staa­ten. Theo­re­tisch schei­ter­te das Kon­zept an der Vor­stel­lung, es gäbe uni­ver­sel­le öko­no­mi­sche Wer­te, die Sozia­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus nur unter­schied­lich nutz­ten. Kein Wun­der also, dass Kowa­lik und Kale­cki bei ihren Über­le­gun­gen die Kate­go­rien Aus­beu­tung, Mehr­wert und Pro­fit kaum berücksichtigten.

Zusam­men­fas­sung

Das Span­nen­de an der pol­ni­schen mar­xis­ti­schen Debat­te ist, dass sie um eini­ge zen­tra­le Figu­ren und The­men kreist, die mit­ein­an­der in per­sön­li­cher Kor­re­spon­denz stan­den, teil­wei­se sogar in den glei­chen poli­ti­schen Gre­mi­en arbei­te­ten. Die Autoren waren jeweils mit den Wer­ken der ande­ren ver­traut und ent­wi­ckel­ten sich gemein­sam wei­ter. Die Theo­rien wur­den dazu nicht nur dis­ku­tiert, sie konn­ten unter den spe­zi­fi­schen Bedin­gun­gen der pol­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft viel­fäl­tig erprobt werden.

Den­noch zeigt sich, dass der pol­ni­sche Theo­rie­strang immer ein wenig zum Drit­ten Weg und Markt­so­zia­lis­mus neig­te. Fra­gen der poli­ti­schen Revo­lu­ti­on wur­den hin­ter Fra­gen der har­mo­ni­schen Ent­wick­lung der Sek­to­ren zurück­ge­stellt. Der Kapi­ta­lis­mus wur­de nicht als Sys­tem der Aus­beu­tung und der impe­ria­lis­ti­schen Ten­den­zen begrif­fen, son­dern sei­ne Kri­tik erschöpf­te sich in Inef­fi­zi­enz und ili­be­ra­len Ten­den­zen. Dass der Kapi­ta­lis­mus nicht kri­ti­siert wer­den soll­te, weil die Klas­sen­schran­ken kaum durch­läs­sig sind, son­dern weil es über­haupt Klas­sen gibt, kam nach Rosa Luxem­burg zu kurz. Natür­lich kann es in bestimm­ten Situa­tio­nen hilf­reich sein, den Libe­ra­lis­mus an sei­nen eige­nen Wer­ten zu mes­sen. Sei­ne Welt ist kei­ne der Glei­chen und Frei­en, son­dern fast genau­so fest­ge­füg­ter sozia­ler For­ma­tio­nen wie der Feu­da­lis­mus. Aber dar­in darf sich die Kri­tik nicht erschöpfen.

Doch auch markt­so­zia­lis­ti­sche Argu­men­te wol­len gehört und geprüft wer­den. Es steht außer Fra­ge, dass Oskar Lan­ge sei­nen Wal­ra­si­schen Mar­xis­mus klug und scharf­sin­nig ent­wi­ckel­te und an vie­len Stel­len trotz der frucht­lo­sen Rich­tung inter­es­san­te Kon­zep­te ent­wi­ckel­te, die den Mar­xis­mus als Wis­sen­schaft berei­chert haben. Sei­ne Bio­gra­phie gibt genug Stoff für eine dicke Bio­gra­phie her und offen­bar arbei­tet Jan Topo­row­ski, lei­ten­der Akteur die­ser Aus­ga­be der Rese­arch, an einer sol­chen. Wenn sie so inter­es­sant wird, wie die Bei­trä­ge die­ser Aus­ga­be, dür­fen wir uns alle über ein rich­tig span­nen­des Buch freuen.

Zuerst erschie­nen bei Spec­trum of Com­mu­nism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz

Lite­ra­tur

Alle Bei­trä­ge aus:

Rese­arch in Poli­ti­cal Eco­no­my (2022): Polish Mar­xism after Luxem­burg. Jahr­gang 37. Bingley/​West York­shire: Emerald.

Konat, G.: Oskar Lan­ge and Tha­de­usz Kowa­lik on the Bour­geois Revo­lu­ti­ons­in Twen­tieth-Cen­tu­ry Pol­and: A Note on two Papers. S. 187 – 201.

Lam­pa, L.: Bet­ween Anti-Bureau­cra­tism and tech­no­cra­tic Demo­cra­tis­a­ti­on: Was Oskar Lange’s Theo­ry tigh­tro­pe wal­king?. S. 157 – 171.
Rae, G.: Fal­se Dawns: The fai­led Cru­cial Reforms of Capi­ta­lism and Socia­lism. S. 217 – 233.

Szym­borska, H. & Topo­row­ski, J.: Indus­tri­al Feu­da­lism and the Dis­tri­bu­ti­on of Wealth. S. 61 – 75.

Topo­row­ski, J.: Indus­tri­al Feu­da­lism and Ame­ri­can Capi­ta­lism. S. 43 – 59.

ande­re Artikel:

Cien­cia­la, A. (1996): New Light on Oskar Lan­ge as an Inter­me­dia­ry bet­ween Roo­se­velt and Sta­lin in Attempts to crea­te a new Polish Govern­ment (Janu­ary-Novem­ber 1944). In: Acta Polo­niae His­to­ri­ca. Jahr­gang 73. S. 89 – 134.

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