- Polen ist abgesehen von Rosa Luxemburg Allgemeinen weniger für seine marxistischen Theoretiker*innen bekannt.
- Die Research in Political Economy hat ihre diesjährige Ausgabe dem Marxismus in Poken nach Rosa Luxemburg gewidmet.
- Polen besitzt auf Grund seiner historischen Bedingungen eine Sonderstellung im marxistischen Diskurs.
- Polen hat zahlreiche namhafte marxistische Ökonomen wie Oskar Lange, Michal Kalecki oder Henryk Grossman, sowie Historiker wie Isaac Deutscher und Witold Kula hervorgebracht.
- Anders als in anderen Ländern besitzt in Polen die ökonomische Theorie Luxemburgs einen höheren Stellenwert als ihre politische Theorie
Denk ich an Polen in der Nacht … so kommt mir eher als letztes der Marxismus in den Sinn. Katholizismus, Antikommunismus, Russlandskeptizismus, Autoritarismus oder historische Bewegungen wie die Solidarnosz werden wohl eher mit dem Land assoziiert. Doch wie immer ist Geschichte komplexer. Die polnische Arbeiter*innenklasse war stets ethnisch‐plural und von revolutionären Hoffnungen erfüllt. Ein eindrückliches Bild vermittelt beispielsweise der Roman »Vorfrühling« von Stefan Zeromski, einer der Nationalromane der 2. polnischen Republik. Und nicht nur Rosa Luxemburg ist als bekannte Revolutionärin hervorgegangen. Auch Oskar Lange oder Isaac Deutscher stammen aus Polen.
Die diesjährige Ausgabe der Research in Political Economy hat sich mit dem Marxismus in Polen nach Rosa Luxemburg beschäftigt. Es wurden viele spannende Aufsätze zur marxistischen politischen Ökonomie in unserem Nachbarland gesammelt. In diesem und im nächsten Artikel soll die Diskussion vorgestellt werden. Im ersten Teil geht es um die Auseinandersetzung mit Luxemburg und im zweiten um den polnischen Marxismus abseits von Luxemburg.
Ein kurzer Überblick über den polnischen Marxismus
Die Geschichte des polnischen Kapitalismus beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts. Die polnischen Teilungen, der napoleonische Einfluss und die Restauration der Monarchie durch den Wiener Kongress brachte die polnische Frage auf die Tagesordnung der liberalen Eliten ganz Europas. Polen als Spielball fremder Mächte galt als Symbol für die Ungerechtigkeit der feudalen Herrschaftsweise allgemein und so fand ein reger Austausch von polnischen Intellektuellen mit denen Berlins, Wiens, Paris’ oder St. Petersburgs statt. Gleichzeitig war auch die sich herausbildende Arbeiter*innenklasse von Migrationsbewegungen und ständigen politischen Veränderungen geprägt. Eine nationale Identität jenseits des Katholizismus war in der Gegenwart nicht zu finden, was das polnische Proletariat auf der einen Seite zum Bündnispartner der progressiven Nationalisten machte, ohne sich gleichzeitig von der Bourgeoisie vereinnahmen zu lassen.
Die Ideen von Karl Marx fielen hier auf fruchtbaren Boden, wenngleich sich Sozialrevolutionäre, Synadikalisten, Sozialdemokraten, Anarchisten und Nationalisten gleichermaßen auf ihn beriefen. Exemplarisch für die Behandlung von Karl Marx ist wohl die von Isaac Deutscher überlieferte Anekdote über einen Ausspruch des Parteiführers der Sozialistischen Partei Ignacy Daszynski, aus der Oskar Lange später wegen seiner marxistischen Ansichten fliegen sollte:
Ich habe das Kapital nicht gelesen. Das ist eine zu harte Nuss. Aber Karl Kautsky hat es gelesen und eine populäre Zusammenfassung darüber geschrieben. Ich habe zwar auch Kautsky nicht gelesen, aber Kelles‐Krauz, unser Parteitheoretiker hat ihn gelesen und er hat Kautskys Buch zusammengefasst. Das habe ich zwar auch nicht gelesen, aber dieser clevere Jude Herman Diamond, unser Finanzexperte, hat Kelles‐Krauz gelesen und hat mir alles darüber erzählt.
Aus dieser Sozialistischen Partei spalteten sich langsam verschiedene Flügel ab, wie die national‐revolutionäre Organisation des späteren Diktators Josef Pilsudski oder die sozialdemokratische Partei, der Rosa Luxemburg angehörte. Luxemburg verließ Polen zwar 1897, aber hinterließ dem Land sowohl eine radikale Kritik am linken polnischen Nationalismus, als auch eine Erweiterung der Marxschen politischen Ökonomie, mit der sich viele Fragen der polnischen Politik beantworten ließen. Der verbliebene radikale Flügel der Sozialistischen Partei bildete 1918 bis 1922 die Kommunistische Partei Polens. Auch diese verstritt sich bereits vor der vollständigen Konsolidierung über die Frage, ob man im Polnisch‐Sowjetischen Krieg auf Seiten der Roten Armee stehe oder auf der Polens. Die Partei hatte stets mit dem Ruf des Luxemburgismus zu kämpfen, der anders als in Deutschland oder Russland nicht mit einer Art Spontaneismus verbunden war, sondern eine Feindlichkeit gegenüber der polnischen Unabhängigkeit bezeichnete. Um sich dieses Rufs zu erwehren, unterstützte die KPP unter anderem die Machtübernahme Pilsudskis, der bald darauf ein autoritäres Regime errichtete und die KPP ab 1931 offen verfolgte. Ein großer Teil der KP‐Führung floh nach Moskau, wo sie auf Grund ihren wechselhaften Haltung leichtes Ziel für Denunziation in Zuge des Großen Terrors wurden. Der stärkste verbliebene Parteigänger Luxemburgs etwa, Stein‐Domski, wurde 1937 wegen angeblicher Kontakte zum Trotzkismus hingerichtet.
Abseits der Kommunistischen Partei etablierte sich in Polen eine Schule sozialistischer Ökonomen, die Fragen der marxistischen politischen Ökonomie im Lichte der damals gängigen ökonomischen Methoden studierten. Um nur einige Namen zu nennen: Oskar Lange, Henryk Grossman, Michal Kalecki oder Thadeusz Kowalik. Auf dem Felde der materialistischen Geschichtswissenschaft errang Witold Kula für seine Erforschung des peripheren Feudalismus einiges Ansehen. Isaac Deutscher als eloquenter Biograph, Historiker und Zeitzeuge darf ebenso nicht vergessen werden. Das ehemalige KP‐Mitglied Natalia Gasiorowska trug einiges mit zur Weltsystemtheorie bei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg litt die polnische sozialistische Intelligenz unter dem nationalen Misstrauen zwischen der sowjetischen Führung und der polnischen Politik. Die polnischen Wissenschaftler*innen interessierten sich traditionell für alle Arten von Arbeiter*innenaufständen, was von den sowjetischen Behörden leicht als Aufruf zum Aufstand gegen die Volksrepublik verstanden werden konnte. Viele emigrierten, schwiegen oder passten sich an, sodass es nach dem Zerfall des Ostblocks keine lebendige marxistische Diskussion mehr gab und der Marxismus als unpolnisch gesellschaftlich isoliert werden konnte.
Kowalik über Luxemburgs Behandlung des Sayschen Theorems
Es war im Besonderen die ökonomische Theorie Rosa Luxemburgs, die in Polen zum Gegenstand intensiver Diskussion wurde. So zum Beispiel ihre Interpretion des Theorems von Say. Der Name des französischen Ökonomen Jean‐Babtiste Says dürfte jede*r Leser*in des Kapitals bekannt vorkommen. Schließlich setzte sich bereits Marx ausführlich mit seinem Theorem auseinander, dass jedes Angebot seine Nachfrage selbst schaffe. Wenn alles getauscht und nicht gehortet werde, so stünde aus volkswirtschaftlicher Sicht stets die gleiche Menge an Waren auf der Angebots‐ wie auf der Nachfrageseite. Unterstellt man eine konstante technische Weiterentwicklung und Inflation, seien Produzenten immer bestrebt, möglichst schnell ihre Produkte zu verkaufen und zu reinvestieren, weshalb es auf Grund des technischen Fortschrittes nicht zu Überakkumulationskrisen kommen könne. Marx hielt dagegen, dass Waren als Träger von Wert und damit abstrakt menschlicher Arbeitszeit zwar äquivalent getauscht würden, dass Say aber übersehe, dass die Ware Arbeitskraft ebenso getauscht würde, diese aber mehr Wert schaffen könne, als zu ihrer eigenen Reproduktion notwendig sei und somit das Theorem nicht gelte. Say säße naturalistischen Vorstellungen des Werts auf. Auch Rosa Luxemburg führte diese Argumentation in ihrer Schrift Die Akkumulation des Kapitals an, erweiterte die Marxsche Kritik jedoch um den Umstand, dass die Marxschen Reproduktionsgleichungen eigentlich Ungleichungen seien.
In seinem Aufsatz zu Rosa Luxemburg und Says Law zeigte Andrew B. Trigg im aktuellen Heft der Research in Political Economy zunächst auf, dass sich die Marxsche Kritik an Say auch mit Input‐Output‐Rechnung und den zugrunde liegenden Gleichungssystemen bestätigen ließe. Dann wendet er sich der Luxemburg‐Interpretation von Thadaeusz Kowalik zu. Kowalik stimmte Luxemburg dahingehend zu, dass die Reproduktionsschemata, wie sie Marx im zweiten Band des Kapitals entwickelte, eigentlich stumme Zustimmungen zum Sayschen Theorem gewesen seien. Er sieht ihre Geldtheorie jedoch als inkonsistent an. Luxemburg behauptet, dass die Kapitalisten neues Geld in Umlauf brächten, um ihren eigenen Mehrwert zu realisieren und damit sei der Anstieg der Geldmenge die Geld‐Form der Ausbeutung. Kowalik hingegen behauptete, dass die Kapitalisten nur Geld zur Realisierung des Mehrwerts nutzen könnten, welches sie von ihrer eigenen Konsumtion absparten. Was von beidem stimmt, ist bis heute nicht geklärt, allerdings erklärt Kowalik die Überproduktion nur anders, während das Faktum der Überproduktion natürlich bestehen bleibt, wenn die Bourgeoisie an der eigenen Konsumtion spart. Trigg überprüfte auch noch den Ansatz Luxemburgs, Geld nicht wie bei Marx dem Produktionsmittelsektor zuzurechnen, sondern als eigenen Sektor zu betrachten. Hier konnte er an Hand seiner Input‐Output‐Modelle Luxemburg auf voller Länge bestätigen. Die Luxemurgsche Überproduktionstheorie hält also auch der Evaluation durch Kowalik und der Input‐Out‐Put‐Modellierung stand.
Kalecki über Luxemburgs Reproduktionsschemata
Riccardo Bellofiore führt in einem anderen Artikel weiter aus, dass sich nicht nur Kowalik mit den Reproduktionsschemata von Rosa Luxemburg beschäftigt habe, sondern auch Michal Kalecki. Bellofiore ordnete zunächst Luxemburgs Beschäftigung mit den Reproduktionsschemata in den theoretischen und historischen Zusammenhang ein. Luxemburg gehörte einer Generation von Marxist*innen an, die erkannten, dass der Kapitalismus in ein monopolistisches Stadium übergegangen war und keinesfalls den Regeln der freien Konkurrenz gehorchte. Diese Interpretation teilte sie mit Lenins Imperialismus‐Schrift oder Hilferdings »Das Finanzkapital«. Auf die Reproduktionsschemata stieß sie, als sie ihre »Einführung in die politische Ökonomie« schrieb, die als Basis für ein Verständnis der Konzentrationsprozesse dienen sollte. Mit ihrer Schrift Die Akkumulation des Kapitals wollte sie ihre Auseinandersetzung mit diesen vertiefen, da sie Verständnisprobleme in der bisherigen Literatur erkannte. Ihre Ansichten wurden zwar von zeitgenössischen Ökonomen wie Otto Bauer, Bucharin, Paul Sweezy oder Karl Kautsky abgeurteilt. Allerdings bemühte sich Michal Kalecki um eine Restitution der Luxemburgschen Argumentation. Bellofiore führt an, dass der Luxemburg‐Kritiker Lenin seine Ansichten zu den Reproduktionsschemata noch vor Veröffentlicungh des dritten Kapital‐Bandes und zum Zwecke der Dekonstuktion so genannter ökonomischer Romantiker anfertigte, die der Ansicht waren, dass die wachsende Kluft aus Angebot und Nachfrage allein zur finalen Krise des Kapitalismus führen werde. Die Kritik Bucharins und Sweezys begegnet Bellofiore damit, dass diese Realisation und Akkumulation nicht wie Luxemburg auseinandergehalten hätten.
Aber wie ging nun Kalecki mit der Frage um? Die zentralen Werke hierzu seien »Das Problem der effektiven Nachfrage bei Tugan‐Baranowski und Luxemburg« und »Die Marxschen Reproduktionsgleichungen und die moderne Ökonomie« aus den Jahren 1967 beziehungsweise 1968. Er stellte darin ein Gleichungssystem des Problems auf, das zeigte, dass es nur zwei unabhängige Parameter gibt: die Konsumution der Kapitalisten und die Investitionsquote. Beides sah auch Luxemburg und schloss daraus, dass das Kapital externe Märkte brauche, um weiter wachsen zu können. Kalecki sieht die Schlussfolgerung zwar in der Tendenz als richtig an, wenn auch nicht notwendig. Vielmehr könne die Bourgeoisie sich selbst über den Finanzmarkt vorfinanzieren, was Sinn macht, wenn man in Rechnung stellt, dass die Bourgeoisie kein kompakter Block, sondern eine selbst untereinander widersprüchliche Klasse ist. So schlug er eine Brücke zu Lenin.
Bellofiore fasst Kaleckis Ansicht so zusammen, dass Kalecki wie Luxemburg die Reproduktionsschemata nicht durch Kartenspielertricks in harmonische Gleichungen umwandeln wollten, sondern aufzeigte, dass es einen Widerspruch zwischen der Notwendigkeit des Kapitals, sich erweitert zu reproduzieren und seiner Möglichkeit dazu gäbe, der gewaltsam gelöst werden müsse.
Zusammenfassung
Die Artikel ergeben ein spannendes Bild. Während überall auf der Welt Luxemburgs Internationalismus und revolutionärer Radikalismus als Wesenskerne ihrer Theoriearbeit herausgestellt werden, die ökonomische Theorie der »Akkumulation des Kapitals« hingegen kritisch gesehen wird, verhält es sich in Polen offenbar umgekehrt. Hier wird ihr zwar angelastet, die Bedeutung der polnischen Nationalfrage klassentheoretisch nicht adäquat erfasst zu haben, aber ihre ökonomische Theorie wurde von bedeutenden Vertretern des polnischen Diskurses gerettet. Die Idee der Research, sich mit dem polnischen Marxismus auseinanderzusetzen, bringt einige interessante Erkenntnisse zu Tage. Eine gute Wahl.
Teil 2 erscheint kommenden Montag aus Spectrum of Communism, wo der Text unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz zuerst erschien.
Literatur
Alle Beiträge aus:
Research in Political Economy (2022): Polish Marxism after Luxemburg. Jahrgang 37. Bingley/West Yorkshire: Emerald.
Bellofiore, R. (2022): Rosa Luxemburg and Michal Kalecki: A Marxian View. S. 89 – 111.
Toporowski, J. (2022): Introduction: Rosa Luxemburg and Polish Marxism. S. 1 – 10.
Trigg, A. (2022): Rosa Luxemburg and Say´s Law. S. 11 – 25.
Bild: Eröffnung der Route W‑Z in Warschau (