Mehr Offenheit! Gedanken zur Informationspolitik

Das Thema Informationspolitik kommt immer mal wieder auf. In den kapitalistischen Staaten besonders im Hinblick auf die Mundtotmachung von Julian Assange oder den Whistleblower Edward Snowden oder auch im Hinblick auf die sehr einseitige Berichterstattung über das Weltgeschehen. An den sozialistischen Staaten wird aber Ähnliches kritisiert – selbstbeweihräuchernde Hofberichterstattung bei Ignorierung der realen Probleme. Dies war vor allem unter dem Revisionismus ein Problem, aber es gab bereits vorher Tendenzen dazu, die immer wieder in der Kritik standen. Die Geschichte soll hier aber diesmal nicht im Fokus stehen, sondern Überlegungen für die Zukunft. Aus der Geschichte lernt man nicht, wenn man sie bloß auswendig reproduzieren kann, sondern wenn man aus ihr Lehren für die Zukunft ziehen kann.

Um es kurzum vorwegzunehmen: Es braucht mehr Offenheit. Eine offene Informationspolitik ist nicht gleichbedeutend mit der Tolerierung jeglicher Meinung. Sie bedeutet lediglich, dass man sich die aufkommenden Meinungen anhört und auf sie eingeht, ihre Richtigkeit und ihre Mängel abwägt. Man überzeugt die Massen nicht dadurch, indem man durch Zensur das einzig übriggebliebene Meinungsmonopol darstellt, sondern indem man im Kampf gegen falsche Auffassungen die Richtigkeit der Wahrheit darlegt. Man kann keine Debatte mit dem Ergebnis der Wahrheitsfindung führen, wenn diese aus vorher festgeschriebenen Stellungnahmereden besteht, denn dann steht das Ergebnis schon vorher fest, ohne sich die Tatsachen angeschaut zu haben; man kann sie nur führen, indem man Problemen ins Auge sieht, Tatsachen dazu recherchiert sowie präsentiert, und diese anschließend umfassend interpretiert. Das funktioniert nicht ohne mehr Offenheit in der Informationspolitik. Dazu ist es nötig, mit revisionistischen Fehlern der Vergangenheit schonungslos aufzuräumen.

Die revisionistische Informationspolitik hat ihren Bankrott erwiesen

Man kann die Informationspolitik der revisionistischen Honecker‐​Ära nicht unreflektiert übernehmen wollen, ohne den heimlichen Wunsch zu hegen, noch einmal so zu enden. Erich Honecker war über seine Informationspolitik sogar nach 1989/​90 bestenfalls halb‐​ehrlich. Am 1. Dezember 1989 gab er gegenüber der Zentralen Parteikontrollkommission und dem Zentralkomitee der SED in einem Brief zu: »Ich täuschte mir etwas vor und ließ mir oft etwas vortäuschen bei Besuchen im Lande.«1 Er übte auch eine oberflächliche Selbstkritik für die Sputnik-Zensur im Jahre 1988:

»Ich gebe zu, daß die Veranlassung der Streichung des ›Sputnik‹ von der Postzeitungsliste ein Beispiel dafür ist, daß man nicht aus Emotionen Entscheidungen treffen darf, die sich später als falsch erweisen.«

Diese Selbstkritik geht nicht einmal auf das Kernproblem der Zensur ein, sondern versucht dieses objektive Problem beiseite zu schieben und die subjektive Emotionalität Honeckers in den Mittelpunkt zu rücken. Eine solche Selbstkritik ist inhaltlich wertlos. Damit nicht genug. Honecker schrieb nach den obengenannten Ausführungen:

»Aber es ist doch recht seltsam, daß diese Streichung mehr Empörung auslöste als die in dem bewußten Artikel behauptete ›Schuld‹ der KPD am Ausbruch des 2. Weltkrieges, weil sie es nicht vermochte, durch eine Einheitsfront dem Faschismus den Weg zu versperren.«2

Das zeigt, wie realitätsfern Honecker gewesen ist, denn der Sputnik wurde nicht primär als eine Geschichtszeitschrift gelesen. Aber selbst wenn die Zeitschrift eine Zeitschrift für rein historisch interessierte Menschen gewesen wäre, so hätte man gegen die Falschdarstellung offen debattieren müssen mit Argumenten. Die Pressezensur erschafft erst recht Interesse, macht erst recht Werbung für solche eigentlichen Nebensächlichkeiten.

Es gibt eine chinesische oppositionelle Erzählung aus dem Jahre 1982, in welcher ein Schriftsteller von parteilicher Seite für seine Werke in einem Artikel gelobt und empfohlen werden sollte. Der Schriftsteller aber lehnte das strikt ab mit dem Verweis, dass man im Volk und in der Welt als Schriftsteller nur Beleibtheit erlangen würde, wenn man kritisch zerrissen wird.3 Genau dieser Effekt zeigte sich beim Sputnik-Verbot. Vermutlich hätte niemand großartig Notiz und Anstoß an dem von Honecker erwähnten Artikel genommen, wenn man ihn nicht auf die plumpste Weise negativ beworben hätte. Dieser Effekt wird im Westen auch als »Streisand‐​Effekt« bezeichnet, benannt nach Barbara Streisand, die im Jahre 2003 einen Prozess geführt hat, um die Veröffentlichung eines Luftbildes ihres kalifornischen Anwesens zu verbieten. Die Folge des Prozesses war jedoch, dass das vormalig kaum bekannte Foto nun in den gesamten USA medial bekannt gemacht worden ist – der Prozess erreichte also das glatte Gegenteil seines Ziels. Gerade der Versuch der Unterdrückung einer Information führte hier also zu ihrer Verbreitung.

Erich Honecker gab jedenfalls nicht einmal zu, dass es Pressezensur gab. »Wir hatten ja keine Zensur. Zensur bedeutet, man muß die Druckfahnen bringen und dann werden sie durchgeschaut«, sagte er 1990.4 Abgesehen davon, dass dies eine sehr verengte Definition des Zensurbegriffs ist, der nur die Presse betrifft, stimmt nicht einmal diese Aussage. Egon Krenz veröffentlichte am 3. Februar 1991 im Spiegel einen offenen Brief an Erich Honecker, der eine Gegendarstellung zum Interviewband Der Sturz enthält. In diesem Brief schrieb er:

»Ich glaube, Deinem Ansehen schadet am meisten, daß Du Dich unwissend stellst. Für jemanden, der wie ich an Deiner Seite gearbeitet hat, ist es einfach nicht hinnehmbar, daß Du so tust, als hättest Du von allem, was unsere politische Führung auch im Detail ausmachte, nichts gewußt. Wäre es so gewesen, wäre ja der unhaltbare Zustand vermieden worden, daß kein Artikel, keine ADN‐Meldung aus dem ZK, keine Entscheidung auch minderer Bedeutung ohne Dein ›Einverstanden‹ die Politbüro‐​Etage hätte verlassen können.«5

Jedenfalls führte diese schönfärberische, verfälschende, feige, revisionistische Informationspolitik unter Honecker dazu, dass oberflächlich die Medien nur Belobigung für den Honecker‐​Kurs veröffentlichten, während die tatsächliche Meinung der breiten Masse des Volkes sich aus den ernüchternden Tatsachen des Alltags der revisionistischen Politik vor allem in der Wirtschaft speisten. Kurt Gossweiler monierte an der SED unter Honecker:

»Die Parteiführung ging den anderen Weg, den des Administrierens, der Vertuschung von Widersprüchen und Problemen und der Schönfärberei, der in der Medienpolitik Ausdruck fand. Die Kluft zwischen Partei und breiten Teilen der Massen war groß geworden und innerhalb der Partei verlor die Führung immer stärker das Vertrauen der einfachen Mitglieder.«6

Das stimmt. Heinz Keßler, der unter Honecker Teil der Parteiführung war, kam zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR zum Schluss:

»Die dritte – und vielleicht wichtigste – Schlussfolgerung, die man ziehen muss, ist die, dass die Parteiführung, das Politbüro und das ZK, entschieden früher offen über die Probleme im Land und im sozialistischen Lager hätte reden müssen, offen, eindeutig – so, wie das die kubanischen Genossen machen.«7

Die Einsicht kam spät – viel zu spät – aber immerhin kam sie.

Heutzutage ist eine derartige Informationspolitik wie unter dem Honecker‐​Revisionismus undenkbar.

Mit dem Aufkommen des Internets ist ein Meinungsmonopol nicht mehr möglich, wie in einer Zeit, als die Zeitung das geläufigste Informationsmedium war – und selbst damals funktionierte das auch nur auf dem Papier. Wenn man ehrlich ist, so hatten doch Millionen von DDR‐​Bürgern Zugriff zu Westmedien – sei es als Printmedien oder über Radio und Fernsehen. Eine Abschottung vom Internet wie in der DVRK wäre unrealistisch und würde die Produktivkraftentwicklung massiv hemmen. Das können wir uns nicht leisten. Sich China als Vorbild nehmen zu wollen mit der »Großen Firewall« ist nur ein Trugbild – sehr viele Chinesen umgehen sie per VPN. Wir müssen uns eingestehen, dass wir den Informationsfluss nicht kontrollieren und steuern können, außer vielleicht bei der Herausgabe von Dokumenten von staatlicher oder parteilicher Seite. Wir werden lernen müssen, mit einem offenen Informationsfluss umzugehen, ohne schmutzige Tricks anzuwenden wie etwa, Leute nicht zu Wort kommen zu lassen, um künstlich den Eindruck zu erwecken, man habe »99,9% des Volkes« hinter sich.

Glasnost

Es sei an dieser Stelle eine ketzerische These erlaubt: Gorbatschows Gedanken zur Glasnost waren auf dem Papier nicht schlecht. Die Realität sah aber jedoch so aus, dass Glasnost bloß ein Demagogiebegriff geworden ist, um die vollständige kapitalistische Restauration (Perestroika) auf allen Kanälen zu propagieren, genauso wie Chruschtschow und Breshnew den jeweils ihren Kurs propagierten. Aus diesem Grund ist für die allermeisten Perestroika und Glasnost synonym für dasselbe. Glasnost im eigentlichen Sinn wurde nie Realität. Aus diesem Grund sei diese hier mehr beleuchtet.

Gorbatschow begründete die Glasnost damit, dass man lernen müsse, die »chronische Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und politischen Erklärungen zu beseitigen«.8 Das ist letztendlich eine Folge der Demagogie des Revisionismus gewesen, aber Gorbatschow benannte dies nicht so. Dieses Problem bestand aber real, wie man nicht zuletzt an einer ähnlich lautenden Aussage von Kurt Gossweiler ersehen kann. Das grundsätzliche Problem bei Gorbatschow sind nicht die angesprochenen Themen – diese waren oft realexistierende Probleme – sondern, dass er an einer Lösung auf sozialistischer Grundlage kein Interesse hatte.

»Nicht jedem behagt der neue Stil. Dies gilt besonders für diejenigen, die es nicht gewohnt sind, unter den Bedingungen von Glasnost und allseitiger Kritik zu leben und zu arbeiten, die es nicht können oder nicht wollen.«9

Es gibt auch noch heute Genossen, die sich wünschten, sie könnten die offene Kritik unterdrücken, damit ihnen unliebsame Sachverhalte nicht diskutiert werden. Man kann bei diesem Sachverhalt nicht ernsthaft anführen wollen, dass dies schlecht wäre, nur weil Gorbatschow dies in Worten forderte – in Taten, wie man ersehen konnte, setzte er diese ohnehin nicht um – sondern es handelt sich dabei um einen demokratischen Zustand, den man eigentlich als selbstverständlich erachten sollte. Gorbatschow wandte sich auch gegen die »geräuschlose« Unterdrückung von Kritik, indem man der Kritik in Worten zustimme, aber diese im Sande verlaufen lasse.10 Das »Abbügeln« von Eingaben hatte seine Praxis in den revisionistischen Ländern.

Mehr Kritik und Selbstkritik sowie offene Debatten im Volk über die Politik der Partei zu fordern, war aber kein Alleinstellungsmerkmal Gorbatschows als Person. Das Statut der KPdSU vom XXVII. Parteitag (1986) erwähnte beide Punkte ebenfalls.11

Markus Wolf nannte Glasnost und Perestroika 1989 in einem Interview mit dem Spiegel eine »wissenschaftlich begründete Orientierung«.12 Diese Einschätzung war völlig falsch, wie sich spätestens nach der »Wende« zeigen sollte, nach der Gorbatschow offen über den Charakter der Perestroika sprach. Er bezeichnete sie beispielsweise in einem Gastbeitrag aus dem Jahre 2007 für The Guardian als ein »neues sozialdemokratisches Projekt« mit einer »sozialem Marktwirtschaft« als Ziel.13 Und dennoch gab es Leute wie Werner Eberlein, die auch nach der »Wende« nicht einsehen wollten, dass es Gorbatschows Ziel war, den Sozialismus zu beseitigen.14 Ich denke nicht, dass es notwendig ist, irgendwen von den jüngeren Genossen vom wahren Charakter Gorbatschows überzeugen zu müssen. Die älteren Genossen, die nicht zugeben wollen, dass sie dem Revisionismus blind gegenüber gewesen sind, lassen sich nicht mehr umstimmen und selbst wenn, so ist ihre aktive politische Zeit ohnehin abgelaufen.

Das berühmteste Zitat Gorbatschows lautet wohl: »Wir brauchen Glasnost wie die Luft zum Atmen.«15 Wäre sie auch wirklich umgesetzt worden, dann hätte dieser eine gewisse Berechtigung. Wurde sie aber nicht.

Selbst von bürgerlicher Seite gibt es Kritiker an Gorbatschows realer Informationspolitik. So kritisierte Monika Müller im Buch Zwischen Zäsur und Zensur – Das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow beispielsweise, dass das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow ein politisches Instrument geblieben ist, wenn auch für eine »veränderte Politik«.16 Das deckt sich mit Gorbatschows Forderung, dass die Aufgabe der Presse in der Propagierung der Perestroika liege.17 Das heißt, es änderte sich prinzipiell nichts, nur im politischen Inhalt. Man stelle sich vor, die kapitalistische Restauration wäre in den sowjetischen Medien tatsächlich debattiert und abgewogen worden: Gorbatschow hätte seinen Kurs nicht durchgedrückt bekommen.

Ich bin mir bewusst, dass der Name Gorbatschow in den meisten Genossen eine solch wütende Reaktion hervorrufen wird, dass dieser Abschnitt nicht ernsthaft durchdacht wird. Ich besitze die Ehrlichkeit auch einem der schlimmsten Renegaten einen Punkt zuzugestehen, wo er einen gemacht hat. Es geht um den Inhalt, nicht die Person. »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.«18 Gewissermaßen kann man diese Worte von Paulus hierauf anwenden: Anstatt dem »Bösen« (den Revisionisten in diesem Fall) nur eins auswischen zu wollen in jeglicher Hinsicht, indem man kein Wort von ihnen gelten lässt, sollte man diese überwinden, indem man sie an der Wahrheit (dem »Guten«) bemisst. So wird auch der Revisionismus entmystifiziert: Statt Gorbatschow beziehungsweise die anderen Revisionisten Chruschtschow und Breshnew als »böse, weil böse« darzustellen, fokussiert man sich besser auf ihre falschen Konzepte und versteht somit die Mechanismen des Revisionismus besser. Nur mit diesem Wissen kann man den Revisionismus in der Zukunft erkennen und erfolgreich verhüten.

Die Wahrheit bewährt sich im schonungslosen Meinungsstreit

John Stuart Mill wies schon in seinem berühmten Essay Über die Freiheit daraufhin, dass Meinungsfreiheit keinen Selbstzweck habe, aber man ohne sie auch keine falschen Gedankengänge widerlegen könnte. Nur weil sie an der Verbreitung gehindert wären, wären sie noch lange nicht verschwunden.19 Keine offene Debatte führen bedeutet, dass hinter vorgehaltener Hand eine Debatte geführt wird. »Jedes Unterbinden einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit«, schrieb Mill.20 Die Wahrheit wird sich durchsetzen durch die besten faktenbasierten Argumente, nicht durch administrativen Druck. Selbst wenn man die Wahrheit mit administrativen Druck den Leuten versucht aufzuzwingen, so werden viele sie dadurch ablehnen, weil eine äußere Zwangsmaßnahme nicht dazu geeignet ist die inneren Überzeugungen zu verändern.

Stalin wandte sich im Jahre 1929 gegen Literaturzensur mit der Bemerkung: »Das Leichteste ist nicht das Beste.«21 Es ist natürlich auf dem ersten Blick das Einfachste, wenn man zensiert und verbietet, was einem nicht passt. Das versäumt aber auch die Möglichkeit der Massen, aus Fehlern zu lernen und vor allem anhand von Negativbeispielen die Massen zu immunisieren. Es zeigte sich in den sozialistischen Staaten, dass es einen regelrechten Schwarzmarkt gab für indizierte Literatur – unter anderem die Werke von Orwell. Das zeigt, dass man selbst mit einem Index solche Literatur nicht unterbinden kann. Man sollte mit offenem Visier kämpfen und solche Literatur der öffentlichen Kritik unterziehen.

Wir benötigen parteiliche Medien, die nicht direkt von der Partei kontrolliert werden. Vergleichen könnte man das mit Bert Brechts Position innerhalb der sozialistischen Bewegung in Deutschland: Er war stets parteilich für KPD und SED ohne jemals Mitglied zu sein und ohne notwendige Kritik zu unterlassen. Engels schrieb am 19. November 1892 an August Bebel:

»Ihr müßt absolut eine Presse in der Partei haben, die vom Vorstand und selbst Parteitag nicht direkt abhängig ist, d. h., die in der Lage ist, innerhalb des Programms und der angenommenen Taktik gegen einzelne Parteischritte ungeniert Opposition zu machen und innerhalb der Grenzen des Parteianstandes auch Programm und Taktik frei der Kritik zu unterwerfen. Eine solche Presse solltet Ihr als Parteivorstand begünstigen, ja hervorrufen, dann habt Ihr immer noch mehr moralischen Einfluß auf sie, als wenn sie halb gegen Euren Willen entsteht.«22

Man braucht also eine Presse, die zwar parteilich im ideologischen, aber nicht unbedingt im organisatorischen Sinne ist. Das ist ein Ideal, das vielleicht schwer zu verwirklichen ist, aber es von vornherein abzulehnen, bedeutet die Kapitulation vor einem bürokratischen Zentralismus in der Medienpolitik der Partei.

Mao Tsetung sagte am 28. Juni 1956 gegenüber dem rumänischen Botschafter in China, Nicolae Cirroiu:

»Wir sollten nicht blind glauben, dass in einem sozialistischen Land alles gut wäre. Es gibt bei allem zwei Aspekte: Das Gute und das Schlechte. […] Wir müssen vorbereitet sein, schlechte Dinge zu entdecken; ansonsten, wenn ein Problem auftaucht, wird man denken, dass es schrecklich ist.«23

Wenn man statt allseitig zu berichten nur Hofberichte in der Presse bringt, dann bildet das nicht nur kein objektives Bild der realen Bedingungen ab, sondern entfernt sich auch von den Massen, die tagtäglich mit diesen Bedingungen viel unmittelbarer in Kontakt kommen, als die Spitzen von Partei und Regierung.

Als Indiana Jones und der Königreich des Kristallschädels (Indy 4) im Jahre 2008 in die Kinos kam, wollte die KPRF ein Verbot von diesem Film erwirken und bezichtigte Steven Spielberg und George Lucas »einen neuen Kalten Krieg« bewirken zu wollen und nannten den Film außerdem »Müll«.24 Außer der Bezeichnung des Films als »Müll« (dieser war von der Handlung her kein Meisterwerk) handelt es sich dabei um maßlose Übertreibungen. Die KPRF hatte Angst darum, dass Jugendliche diesen Film ansehen würden, als würde dieser ein Stück Geschichte wiedergeben. Die KPRF traut also den Menschen nicht zu, denken zu können. Die Komsomolskaja Prawda interviewte Steven Spielberg kurz nach Veröffentlichung des Films und stellte die Frage, warum in diesem die Russen die Gegenspieler von Indianer Jones seien. Steven Spielberg antwortete:

»Als wir uns entschieden haben, dass der vierte Teil im Jahre 1957 spielen würde, hatten wir keine andere Wahl, als die Russen zu den Feinden zu machen. Der Zweite Weltkrieg war vorbei und der Kalte Krieg hat begonnen. Die USA hatten keine anderen Gegner zu dieser Zeit.«25

Der Grund war also reiner Pragmatismus. Natürlich kann man die Darstellung der Sowjetunion in diesem Film als geschmacklos und verdreht bezeichnen, aber wie die KPRF blindwütig auf den Film und dessen Produzenten einzudreschen, war nicht gerechtfertigt und in Anbetracht dessen, dass es sich um einen mittelmäßigen Unterhaltungsfilm handelt, auch nicht wert. Wer seine Bildung aus Unterhaltungsfilmen zieht, dem ist intellektuell nicht zu helfen.

Mao Tsetung hatte 1958 nicht einmal Angst davor, Gesammelte Werke von Tschiang Kaischek, dem chinesischen Faschistenführer, veröffentlichen zu lassen. Er stellte klar, dass man zum Geschichtsstudium Quellen zu seiner Ideologie benötigen würde und er erklärte die angebliche Gefahr für nichtig, da vom Lesen von Tschiang Kaischeks Werken kaum jemand »nach Taiwan losziehen und in seine Partei«, also in die Kuomintang, eintreten würde.26 Auf Deutschland übertragen wäre dies die Frage, ob man Gesammelte Werke von Adolf Hitler herausgeben sollte als akademische Ausgabe zum Geschichtsstudium. Eine solche Ausgabe erschien in den 90er Jahren sogar tatsächlich und man kann ihr nicht nachsagen, dass durch sie massenhaft Leute zu Neonazis geworden wären. Im Gegenteil, eine kritische Auseinandersetzung mit reaktionären Ideologien in der Öffentlichkeit kann nur gewinnbringend sein für uns. Die Hitlerfaschisten lebten von der Demagogie, ihre Schriften waren nicht dafür geeignet, als Werkbände herausgegeben zu werden, weil diese sonst Widersprüche und Fragen aufwerfen würden.

Man sollte auch die ausländische Presse frei zugänglich lassen. Statt diese von den Massen fernhalten zu wollen, muss man eben aufzeigen, wie die Bourgeoisie der anderen Länder über uns denkt, nach dem Motto, wie Mao dachte:

»Wenn wir vom Feind bekämpft werden; dann ist das gut; denn es ist ein Beweis, daß wir zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich gezogen haben. Wenn uns der Feind energisch entgegentritt, uns in den schwärzesten Farben malt und gar nichts bei uns gelten läßt, dann ist das noch besser; denn es zeugt davon, daß wir nicht nur zwischen uns und dem Feind eine klare Trennungslinie gezogen haben, sondern daß unsere Arbeit auch glänzende Erfolge gezeitigt hat.«27

Oder streben wir etwa danach, dass die Imperialisten anderer Länder uns wie ein Schoßhündchen loben?

Wir müssen aber zwischen feindlichen Äußerungen und Kritik feinfühlig unterscheiden. Manchmal ist beides vermengt: Manchmal kritisieren unsere Feinde echte Fehler von uns, um uns damit in Misskredit zu bringen. Darauf kann man aber nicht mit Abstreiten reagieren, sondern mit Behebung der Ursachen. Nur dann hört das »Bohren in unseren Wunden« auf.

In einer alt‐​chinesischen Geschichte heißt es, dass dem König von Qi Belohnungen darauf aussetzte, ihm seine eigenen Fehler vor Augen zu führen. Nach einem Jahr seien so viele Kritiken eingegangen, dass niemandem mehr etwas einfiel, was man hätte anführen können.28 Wir sollten ähnlich verfahren und nicht bloß jene belohnen, die besonders durch positive Leistungen hervorstechen, sondern auch jene, die negative Seiten aufzeigen und monieren. Ein Arzt ist schließlich auch nicht dafür da, einen Patienten dafür zu loben, wie toll doch seine Gesundheit sei, sondern seine Krankheiten festzustellen, darüber zu informieren und einen Behandlungsansatz zu präsentieren.

Mao sagte:

»Jedermann darf unsere Mängel bloßlegen, wer immer es auch sei. Insofern sein Hinweis richtig ist, sind wir bereit, unsere Mängel zu korrigieren. Wenn sein Vorschlag dem Volk zum Wohle gereicht, werden wir danach handeln.«29

Jahrzehntelang wurde in den revisionistisch gewordenen sozialistischen Staaten so verfahren, dass man Probleme vertuscht hat und jene Genossen, die sie aufdeckten mit dem Verweis zurechtwies, dass dies doch dem sozialistischen Staat und seiner Legitimität abträglich sei. Dasselbe behauptete neulich auch ein polnischer Genosse mir gegenüber, als ich ihm meine Kritik am Revisionismus Gomulkas30 zukommen ließ. Solche Genossen begreifen nicht, dass die Mängel und Fehler den einfachen Menschen nicht unbekannt sind, da sie sie alltäglich erleben oder erlebt haben. Man wahrt nicht sein Gesicht, indem man nie Fehler zugibt, sondern indem man sie eingesteht und Lösungen zur Umsetzung anbietet. Wenn zuhause im Winter die Heizung kaputtgeht, dann friert man schließlich sich auch nicht zu Tode, nur um nicht eingestehen zu müssen, dass ein Haus eben auch kostspielige Wartungsarbeiten benötigt, sondern sucht nach einer Lösung, um die Heizung wieder in Gang zu bringen.

Das Ziel, an das wir gelangen sollten, ist eine streitbare ideologische Standfestigkeit. Nur im offenen argumentativen Kampf können wir überzeugen, nicht indem in Stauten und Gesetzestexten die Hegemonie des Marxismus festgeschrieben wird und man mit hocherhobenem Finger bei jeder kritischen Bemerkung – ob berechtigt oder nicht – bloß auf Artikel und Paragraphen hinweist. Eine Avantgarderolle wird in der tagtäglichen gesellschaftlichen Praxis verdient, nicht durch Formalien. »Der Marxismus kann sich nur im Kampf entwickeln. Das trifft nicht nur auf die Vergangenheit zu, es wird auch in der Zukunft unbedingt Gültigkeit behalten. Das Richtige entwickelt sich immer im Kampf gegen das Falsche,« sagte Mao Tsetung zurecht.31 Die reale Lage ist ohnehin folgende:

»Bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologien, antimarxistische Ideen werden noch lange Zeit in unserem Land fortbestehen. […] Wir werden noch einen langwierigen Kampf gegen die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologien zu führen haben. Diese Sachlage nicht zu verstehen und auf den ideologischen Kampf zu verzichten wäre ein Fehler. Alle irrigen Gedanken, alles giftige Unkraut und alle finsteren Mächte müssen kritisiert werden, und wir dürfen unter keinen Umständen zulassen, daß sie sich beliebig ausbreiten.«32

Diese bürgerlichen Ideologien wird man nicht dadurch los, indem man sie zensiert und in der Presse so tut, als gäbe es sie nicht. Wenn man sie aus der Presse verbannt, verbreiten sie sich im Privaten unkontrolliert – das konnte man in der DDR unter Honecker bestens beobachten. Man muss offen über sie sprechen, die Vertreter dieser Anschauungen offen herausfordern zu Debatten, die in den Medien ihren Widerhall finden. Nur so wetzt sich unser ideologisches Schwert scharf und rostet nicht in einem Fass voller Selbstgefälligkeit.

Schluss

Lenin forderte von uns ausdrücklich ab, kritisch zu denken: »Nicht aufs Wort glauben, aufs strengste prüfen – das ist die Losung der marxistischen Arbeiter.«33 Man kann mit Zensur und Maulkorb nicht offen debattieren und somit keine öffentliche Überprüfung der Richtigkeit von Politiken und Maßnahmen vornehmen. Wir Marxisten sind Anhänger einer wissenschaftlichen Weltanschauungen, keiner ideologischen Demagogenschule, wie die bürgerlichen Politiker. Es ist unter unserer Würde, nicht mit offenem Visier zu kämpfen wo wir regieren. Letztendlich schützt die Zensur auch falsche, revisionistische und gar konterrevolutionäre Anschauungen vor dem brennend grellen Licht der Wahrheit. Eine versteckte Krankheit verschwindet nicht von selbst, sondern breitet sich unkontrolliert aus. Durch die Offenheit der Debatten kann man als Politiker auch nachts ruhiger schlafen, da man weiß, was im großen Ganzen in den Köpfen vor sich geht. »Ein bißchen giftiges Unkraut wird es im Volk immer geben.«34 – Wir werden nicht buchstäblich jeden erreichen. Aber unser Ziel muss es sein, die absolute Mehrheit der Werktätigen zu erreichen und in unsere Debatten einzubeziehen, um über sie die ideologische Hegemonie im aktiven Kampf gegen falsche Anschauungen zu erringen.

Im Kontrast dazu schrieb Hitler in Mein Kampf, man könne durch die »dauernde Anwendung von Propaganda« einem Volk »selbst den Himmel als Hölle vormachen« und das »elendste Leben als Paradies«.35 Die Propagandapolitik der bürgerlichen Staaten gegen den Sozialismus funktioniert auf im Prinzip diese Weise. Der Hitlerfaschismus nutzte dieses Propaganda‐​Axiom auch für seine Zwecke. Wir aber können dieses Axiom nicht nutzen, da es sich dabei um eine Rechtfertigung für Lügenpropaganda handelt.

Unsere Aufgabe als Kommunisten, als waschechte Marxisten, ist es also, heruntergebrochen, Lenins Ausspruch zu verwirklichen:

»Dem Volke muß man die Wahrheit sagen. Nur dann werden ihm die Augen aufgehen, und es wird lernen, die Unwahrheit zu bekämpfen.«36

Verweise

1 Erich Honecker »Zu dramatischen Ereignissen«, W. Runge Verlag, Hamburg 1992, S. 80.

2 Ebenda, S. 87.

3 Vgl. Wang Meng »Gegenseitige Hilfe« (1982) In: (Hrsg.) Helmut Martin/​Christiane Hammer »Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei«, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 231.

4 Reinhold Andert/​Wolfgang Herzberg »Der Sturz – Erich Honecker im Kreuzverhör«, Aufbau‐​Verlag, Berlin und Weimar 1991, S. 324.

6 Kurt Gossweiler »Wie konnte das geschehen?«, Bd. II, KPD/​Offen‐​siv, Bodenfelde 2017, S. 226.

7 Heinz Keßler »Die letzten Tage der SED und der Deutschen Demokratischen Republik« (12. September 2008) In: Offen‐​siv, Mai‐​Juni 2017, S. 61.

8 Michail Gorbatschow »Perestroika«, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1989, S. 93.

9 Ebenda, S. 95.

10 Vgl. Ebenda, S. 99.

11 Siehe: »Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, Verlag der Presseagentur Nowosti, Moskau 1986, S. 6 und 14.

14 Vgl. Klaus Huhn »Honeckers Sonderkurier«, Edition Berolina, Berlin 2012, S. 128.

15 Ebenda, S. 96.

16 Vgl. Monika Müller »Zwischen Zäsur und Zensur – Das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow«, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, S. 347.

17 Vgl. Michail Gorbatschow »Perestroika«, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1989, S. 97.

18 Römer 12, 21.

19 Vgl. John Stuart Mill »Über die Freiheit«, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1974, S. 47.

20 Ebenda, S. 26.

21 »Antwort an Bill‐​Belozerkowski« (2. Februar 1929) In: J. W. Stalin »Werke«, Bd. 11, Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 293.

22 Engels an August Bebel (19. November 1892) In: Karl Marx/​Friedrich Engels »Werke«, Bd. 38, Dietz Verlag, Berlin 1979, S. 517.

23 »Glaubt nicht blind, dass in einem sozialistischen Land alles gut wäre« (28. Juni 1956) In: Mao Zedong »On Diplomacy«, Foreign Languages Press, Beijing 1998, S. 185, Englisch.

26 Vgl. »Schlußwort auf der Obersten Staatskonferenz« (1. März 1958) In: Mao Zedong »Texte«, Bd. II, Carl Hanser Verlag, München/​Wien 1979, S. 188.

27 »Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht« (26. Mai 1939) In Mao Tse‐​tung »Band V«, Arbeiterkampf Verlag, Hamburg 1977, S. 14.

28 Vgl. »Reden aus dem Dschan‐​Guo‐​Tso« In: »Der Herr von Sin‐​ling«, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1965, S. 21/​22.

29 »Dem Volke dienen« (8. September 1944) In: Mao Tse‐​tung »Ausgewählte Werke«, Bd. III, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1969, S. 205.

31 »Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk« (27. Februar 1957) In: Mao Tsetung »Ausgewählte Werke«, Bd. V, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1978, S. 463.

32 »Rede auf der Landeskonferenz der Kommunistischen Partei Chinas über Propagandaarbeit« (12. März 1957) In: Ebenda, S. 492.

33 »Über Abenteurertum« (9. Juni 1914) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 358.

34 »Seid aktive Förderer der Revolution« (9. Oktober 1957) In: Mao Tsetung »Ausgewählte Werke«, Bd. V, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1978, S. 563.

35 Vgl. Adolf Hitler »Mein Kampf«, Verlag Franz Eher Nachf., München 1943, S. 302.

36 »Ein trauriges Dokument« (16. Mai 1917) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 24, Dietz Verlag, Berlin 1989, S. 338.

Bild: »Glasnost!«, Gennady Komoltsev 1988, Panorama Verlag

One thought on “Mehr Offenheit! Gedanken zur Informationspolitik

  1. »Dem Volke muß man die Wahrheit sagen.« So ist es richtig! Hier das Volk und da die »man«, die ihm die Wahrheit verkünden: Lenin und »die Kommunisten« – und die dann natürlich wissen, was »giftiges Unkraut« ist und was nicht. Wie kann »man« den bürgerlichen Idealismus dieser Sichtweise nicht bemerken?

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