MagMa veröffentlich hier eine Übersetzung aus dem Französischen von Leslie Kaplans 2019 bei P.O.L. erschienener Fabel Désordre.
In jenem Frühjahr kam es zu einer Reihe von ungewöhnlichen Verbrechen, die in der Presse schnell als »Verbrechen des neunzehnten Jahrhunderts« bezeichnet wurden. Die Täter waren Ausgebeutete aller Art: Angestellte, Lohnarbeiter, Landarbeiter, verschiedene Dienstboten, verschiedene Elendsgestalten. Und diejenigen, die ermordet wurden, waren Chefs, Chefinnen, Leute, für die »es nur darum ging etwas zu« – nur was zu? Dies oder jenes zu tun, zu studieren, anzukommen, einen schönen Anzug zu kaufen, sich anzustrengen die Straße zu überqueren etc. Offensichtlich teilte sich Frankreich in zwei Hälften: diejenigen, die für die Verbrecher waren, und diejenigen, die für die Opfer waren. Aber Fakt ist, dass die Bewegung nicht aufhörte, sich weiterentwickelte, immer größer wurde. Fast jeden Tag eine neue Geschichte, manchmal sogar mehrere. In den großen Städten, auf dem Land, in jedem Moment passierte etwas. Einigen der Mörder gelang es zu fliehen. Die meisten wurden jedoch erwischt und bekannten sich freimütig zu ihrem Verbrechen. Man sah sie sogar lachen, sich lustig machen, mehr oder weniger lustige Witze reißen. Kurz gesagt, es war eine verkehrte Welt. Oder besser gesagt, es war ein Rückschritt in ein selbstverständlich imaginäres 19. Jahrhundert. Doch schließlich war die Klassenlinie so deutlich zu erkennen, dass man nicht umhin konnte, daran zu denken. Und deshalb hatte der Begriff »Verbrechen des 19. Jahrhunderts«, geprägt von einem Journalisten, einem Kolumnisten einer großen Regionalzeitung, das Rennen gemacht und wurde überall aufgegriffen. Unverständlich blieb, warum all diese Verbrechen zur selben Zeit stattfanden, warum diese Gleichzeitigkeit. Zuerst im März, dann im April. Gab es irgendwelche Warnsignale? Man suchte, aber sah und fand nichts.
Aber an der Wildheit der Verbrechen gab es keinen Zweifel. Sie waren nicht wild wie die Verbrechen der Papin‐Schwestern, dieser Hausmädchen, die ihre Herrinnen ermordet und verstümmelt, ihnen die Augen ausgekratzt hatten, auch wenn es einmal eine junge Frau gegeben hatte, die bei ihrer Verhaftung geseufzt hatte: »Ah, die Papin‐Schwestern …«. Nein, diese Verbrechen waren nicht wie … sondern wild … ja, wild … jäh, rasch, unmotiviert, nein, vielleicht nicht unmotiviert, aber dennoch seltsam, unpersönlich, regelrecht verrückt. Ein vorbildlicher Angestellter, fünfundzwanzig Jahre bei einer Bank, der plötzlich einen Tresor auf den Kopf seines Direktors wirft. Ein portugiesischer Mechaniker, der seinen Chef in der Garage mit herumliegenden Drähten erdrosselt. Ein Meisterchauffeur, der den von ihm gefahrenen CEO an die Wand schickt (er selbst springt vorher ab). Auch Frauen wurden nicht verschont. Unzählige Fälle von vergiftenden Krankenschwestern, so dass bald die Spritzen von reichen oder gar wohlhabenden Menschen nur noch im Familienkreis verabreicht wurden. Eine Metzgereiangestellte setzte das Messer gegen ihre Chefin ein, eine Fleischergesellin benutzte ihre Schürze. Überall, von Nord nach Süd, von Ost nach West, in Paris und in der Provinz, in den Städten, Dörfern und auf dem Land, herrschte ein Sturm des Wahnsinns.
Aber handelte es sich dabei um Wahnsinn? Zeitungen, Magazine und einige Zeitschriften riefen Debatten ins Leben: »Kausalität(en) des Verbrechens«, »Gründe der Gewalt«, »Woher kommt der Hass«, »Ursprünge des Mordes /Mord an den Ursprüngen« – nichts war wirklich überzeugend. Ein Buch sorgte für Furore, alle lasen es, man fand es sogar in den entlegensten Bahnhöfen, in den Bahnhöfen, die es noch gab, aber das lag an seinem Titel: Wahnsinn und Gesellschaft. Der Inhalt war schlampig, enttäuschend, nichts über den Wahnsinn, nichts über die Gesellschaft, nur Klischees. Ein Soziologieprofessor startete eine Umfrage, und die Studenten, obwohl hochmotiviert, kamen mit leeren Händen zurück. Man las und las Kollektivpsychologie und Ich‐Analyse, aber die Fakten stimmten nicht überein. Zwei junge Philosophen mit hegelianischer Tendenz, alles Reale ist rational, setzten ihre Unterschrift unter einen Artikel über »die Rationalität des Verbrechens«, der einen Skandal auslöste, aber nach ein wenig Polemik wieder vergessen wurde.
Auffällig war auch, dass all diese extrem zahlreichen Verbrechen unabhängig voneinander begangen wurden. Es gab keine Verbindungen zwischen den Tätern. Sie bekannten sich nicht zu einer Bewegung und bezogen sich auch nicht auf andere. Sie äußerten sich kaum und rechtfertigten sich noch weniger. Sie berichteten lediglich von einer gewissen Zufriedenheit, die sich auf das Gefühl bezog, die Arbeit gut erledigt zu haben, oder in einigen seltenen Fällen auf das Gefühl, die Pflicht erfüllt zu haben, aber aus einer ganz individuellen, ja sogar individualistischen Perspektive.
Eine sehr schöne, magersüchtige junge Verkäuferin, die kaum dem Teenageralter entwachsen war, arbeitete in der Make‐up‐Abteilung des Monoprix Saint‐Michel. Lippenstifte und Grundierungen, Rimmel, Cremes und Rouge, Puder und Glitzer. Lacke. Nagellack. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in Garges‐lès‐Gonesse und nahm für die Anreise den Bus und den RER. Ihr Chef, der Leiter des Bereichs »Frauen« im Geschäft, mochte sie und nannte sie »mein kleiner Floh«. Er wurde von einem Hocker erschlagen, einem niedrigen, schweren Gegenstand mit Metallbeinen. Die Presse berichtete über die Worte der Großmutter, die am Telefon ausrief: »Na so was«.
Ein Gastarbeiter aus Marokko, der seit fünfzehn Jahren in der Nähe von Paris lebte, hatte ein Zimmer in einem möblierten Hotel in einem südlichen Vorort. Er besuchte seit Jahren Abendkurse und kehrte jeden Sommer in den Stadtteil von Casablanca zurück, in dem er geboren worden war und wo er seine Frau und seine sechs Kinder hatte, drei Mädchen und drei Jungen, die er über alles liebte. Er arbeitete auf einer Großbaustelle im Norden von Paris, in Stains, wo ein neuer Komplex mit zehn Theatersälen gebaut wurde. Das Kommunikationsteam hatte eine Besichtigung der Baustelle organisiert, Fernsehen, Prominente. Ali, so hieß er zwar nicht, aber alle nannten ihn so, hatte seinen Presslufthammer benutzt und bevor man ihn stoppen konnte, hatte er drei Tote produziert.
Ein kurz vor der Pensionierung stehender Lehrer, von seinen Schülern geliebt und von seinem Direktor geschätzt, hatte die schlechte Idee, eine Diskussion mit dem Inspektor des Bildungsministeriums zu beginnen, der unangekündigt in seine Klasse gekommen war. Die Diskussion drehte sich um einen Punkt in der Grammatik, die Frage des Plurals mit x. Sie wurde schnell hitzig, Grammatik, Pädagogik, das »S« oder das »X«, der Inspektor wurde mit einem Schwamm erstickt.
Eine Literaturstudentin, einundzwanzig Jahre alt, Gewerkschafterin, eingeschrieben im Bachelorstudiengang. Als sie über Diderot befragt wurde, stand La Religieuse auf dem Lehrplan, und als sie gerade beim zweiten Absatz ihrer Texterklärung war, sprang sie auf, packte den neben ihr sitzenden Professor an der Krawatte, schrie »Heißes Häschen, Hände runter« und erwürgte ihn abrupt.
Ein Lagerarbeiter, dessen Großeltern in den 1960er Jahren aus dem Senegal gekommen waren. Er lebte in Paris am Boulevard Barbès in der Nähe der Metro und war seit Jahren in einem afrikanischen Supermarkt in der Nachbarschaft angestellt, wo er Gemüse und Obst, grüne Bananen und Süßkartoffeln, Ananas und Maniok verkaufte. Er hatte sich nie mit der Chefin, die auch die Kassiererin war, verstanden. Es gab verschiedene Beschwerden und er fühlte sich bestohlen. An einem Samstagabend, als der Andrang groß war, warf er ihr einen Sack Kaffee, siebzig Kilo, auf den Kopf.
Die Liste wurde immer länger. Ende März begannen die Medien über ein wiederkehrendes Muster zu berichten. Im April war es sicher, es war etwas passiert, aber was? Einige versuchten eine Typologie zu erstellen. Ein Essayist schrieb einen gut geschriebenen Artikel, er sprang von Verbrechen zu Verbrechen und zeigte, dass es tatsächlich einen Aspekt gab, den man jedes Mal wiederfand: den Klassencharakter. Man musste dieses Wort wohl oder übel verwenden. Oder eine Ablehnung der Beherrschung, das konnte man bejahen. Er sprach von »rücksichtsloser Aggressivität«. Die durchaus bekannte, das Fehlen von Schuldgefühlen betonende, Formulierung sorgte für einen Schock. Es gab keine klaren Forderungen, aber eine Ähnlichkeit, die, wenn man so will, im Duktus der Morde, in der Art und Weise, kurz gesagt, im Stil lag. Der Stil? Als das Wort fiel, gab es einen Aufschrei, wie konnte man von Stil sprechen, was für eine Dekadenz, wirklich wie das Ende der Zivilisation, und doch. Kein Zweifel, es ging nicht um Gewinnsucht, es gab keinen Gewinn, und natürlich handelte es sich auch nicht um Verbrechen aus Leidenschaft, ganz im Gegenteil. Der Mörder blieb in einer zugleich nahen und fernen Beziehung zu seinem Opfer. Er war zweifellos betroffen, aber nicht ganz beteiligt. Er hielt eine gewisse Distanz. Die Typologie sollte nicht nur die Form der Verbrechen berücksichtigen, sondern auch ihre Motivation erfassen. Daher die berühmte Bezeichnung »Verbrechen des 19. Jahrhunderts«, die so treffend erschien. Kurzum, wir wussten nicht, was wir denken sollten.
Der Portier eines großen Pariser Hotels trug einen tadellosen Anzug mit goldenen Knöpfen und einer Schirmmütze. Mit seinem Schnurrbart und seinen Koteletten sah er Emil Jannings in Murnaus Film Der letzte Mann aus dem Jahr 1924 zum Verwechseln ähnlich – in dem Film ging es um die Erniedrigung eines alten Portiers, der zum Pinkelmann degradiert wurde –, so dass alle Filmfreunde nicht anders konnten, als offen ihre Sympathie für den Mörder zu bekunden. Der Hotelmanager, ein kleiner, arroganter dreißigjähriger Geschäftsmann, der gerade von der Wirtschaftsschule kam, hatte sich einen ironischen Kommentar über den übergewichtigen Türsteher erlaubt. Er wurde mit einem einfachen, massiven Faustschlag vernichtet.
Es gab Putzfrauen, es gab Arbeiter. Ein junger, neu angekommener Postbeamter, der im fünften Arrondissement in Paris arbeitete. Er hatte einen unauslöschlichen Lachanfall bekommen, als er die unglaublich lange Schlange sah, die sich vor seinem Schalter kringelte, denn dieses Büro hatte, wie viele andere auch, nur noch nachmittags geöffnet. Als der Leiter des Büros zu ihm kam und ihm sagte, er solle sich beruhigen, lachte er weiter lauthals, während er ihm eine riesige Schere in die Rippen pflanzte.
Eine junge Frau, die in der Stadtbibliothek von Saint‐Denis arbeitete und an der Konzeption und Organisation einer bemerkenswerten Ausstellung über den Kolonialismus mitgewirkt hatte – ein Thema, das ihr besonders am Herzen lag, wie sie später sagte, weil sie von den Antillen stammte. Während des Eröffnungsumtrunks, inmitten von kleinen Häppchen und Champagnergläsern, unterhielt sie sich mit dem Vertreter des Ministeriums – es handelte sich um das Ministerium für Übersee, das Kulturministerium war nicht angereist. Sie griff zu einer Flasche Champagner. Schleudertrauma.
Mindestens zehn Landarbeiter in verschiedenen, weit auseinander liegenden Regionen ließen ihre Traktoren über ihren Chef rollen. Dies war der Fall in Beauce, in der Bretagne, in der Auvergne, in Poitou, im Norden und in den Cevennen. Im Finistère benutzte ein Arbeiter, der seit Jahren auf einem Bauernhof beschäftigt war, auf dem schon seine Eltern und Großeltern gearbeitet hatten, einen alten Besen. Auf einem Bauernhof im Süden Frankreichs benutzte eine Frau eine gusseiserne Pfanne, in der das gerade zubereitete Omelett noch klebte.
Ein Molkereileiter wurde in der Auvergne in der Milch ertränkt, ein anderer in der Bretagne in der Sahne.
Überall schlugen Lastwagenfahrer, die ihren Fahrplan abholen wollten, ihren Chef in seinem Büro nieder. Einige wenige zündeten ihre Lastwagen an.
In einem überfüllten Hörsaal, in dem im ersten Jahr Medizin über Anatomie, Rolle und Bedeutung des Kleinhirns gelehrt wurde, rannte ein Student, der ganz oben saß, plötzlich die Stufen hinunter, rief »selber Kleinhirn!« und erstach den Dozenten.
Die Filmwelt hatte zu beklagen, dass einer der Organisatoren des Filmfestivals von Cannes von einem anerkannten, wenn auch vielleicht nicht ausreichend anerkannten Regisseur nach der Vorführung eines mittelmäßigen Films durch Erwürgen ermordet wurde.
Ein sehr junger Pfarrer einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Menton. Er hatte gerade das Priesterseminar beendet. Er benutzte das Weihrauchfass seiner Kirche, ein altes, sehr schweres und seltenes Stück, an seinem Bischof und machte damit Schlagzeilen in allen Medien, nicht nur in den regionalen, sondern auch in den nationalen. Man muss dazu sagen, dass er extrem fotogen war. Er weigerte sich, eine Erklärung abzugeben, was leider zu Gerüchten führte. Die meisten Kommentatoren betonten, dass die Kirche so etwas wirklich nicht nötig habe.
Gegen Mitte April begannen einige große Bosse und Unternehmensleiter, miteinander in Kontakt zu treten, sich zu beraten und sogar Treffen abzuhalten. Sie überlegten, ob sie die Regierung auffordern sollten, den Notstand auszurufen. Aber die Frage war sofort wieder da: Notstand gegen was? Wer war wirklich gemeint? Die Worte Klasse, Herrschaft, Unterordnung usw. waren veraltet und schwer zu handhaben geworden, was übrigens größtenteils auf den Einfluss derselben großen Bosse oder Unternehmensleiter zurückzuführen war, die bekanntlich die meisten Zeitungen, Radio‐ und Fernsehsender besaßen. Was sollte man also tun? Vor allem sah man keine klare Linie auf der anderen Seite, nur einen bösen Geist, voilà, der Begriff tauchte auf, man wusste nicht, wer ihn zum ersten Mal benutzt hatte, aber er gefiel, er schien angemessen, richtig, genau, er machte die Runde. Frankreich würde untergehen, untergehen, unter dem bösen Geist, und offensichtlich waren diejenigen gemeint, die Frankreichs Reichtum und Ruhm begründeten.
Doch was geschah, schien einigen bald unmöglich einzudämmen: Wenn man genau hinschaute, sagten sie, wenn man es ernst und aufrichtig meinte, war Herrschaft überall, überall Herrschaft. Es gab nichts anderes, vom Schlafzimmer (jaja) über die archaischen, etwas altmodischen, aber lebendig gebliebenen kleinen Firmen bis hin zum leistungsfähigsten, modernsten Unternehmen. Außerdem in den Behörden und im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern und Schulen, an Universitäten und in Vereinen.
Es kursierten Dissertationen, mündlich oder schriftlich, die sich jedoch als falsch oder sogar lächerlich und in jedem Fall als wirkungslos erwiesen. Es gab die Behauptung, dass alles, was geschah, nichts mit Politik zu tun habe, dass es dumm, voreingenommen und schließlich gefährlich sei, Politik hineinzubringen. Niemand machte sich die Mühe, diese Meinung zu widerlegen, obwohl sie immer wieder auftauchte, eine wahre Seeschlange, und zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Man erzählte vom letzten Verbrechen und fügte sofort hinzu: »Aber das ist doch nicht politisch«. Jemand bemerkte, dass der Satz »Es ist nicht politisch« wie ein magisches Wort, ein Exorzismus, wirke. Dennoch wurde er immer wieder verwendet. Man untermauerte ihn, indem man betonte, dass es kein Kollektiv, keine kollektive Dimension gebe, sondern nur individuelle Handlungen, isolierte Personen. Ein Philosoph, sich auf Aristoteles berufend, wies darauf hin, dass der Mensch als solcher ein politisches Tier sei, doch seine Rede fand kein Echo. Handelte es sich also um beispielhafte Taten, wollten die Attentäter an ihrem Verbrechen ein Exempel statuieren? Wollten sie anstacheln, sollte man ihnen folgen? Unmöglich zu sagen, sie sprachen nicht, prahlten nicht, schlugen nichts vor. War das enttäuschend? Vielleicht für einige. Aber es war so.
Andere, die auf ihre Weise ebenfalls behaupteten einen Blick für das Ganze zu besitzen, sagten, man müsse den Kriminellen erklären, dass sie sich irrten, sie hätten den falschen Feind, sie müssten das System anvisieren und nicht Einzelfälle. Man lachte sie einfach aus und hämmerte ihnen ein, dass das Allgemeine nur im Besonderen existiert und dass ein System ohne Einzelfälle ein Hirngespinst ist.
Ein emeritierter Professor wollte den Begriff »rücksichtslose Aggressivität« wieder aufgreifen, der, einmal in den Raum geworfen, für Furore gesorgt hatte. Er betonte, dass dieser Begriff, der von einem großen englischen Psychoanalytiker geprägt wurde, auf den Säugling und die Art und Weise, wie er aus Liebe die Mutterbrust heftig angreift, angewandt werde. Er sagte, man müsse sich daran erinnern und diesen Ausdruck verstehen, um die wahrhaft regressive Dimension der heutigen Verhaltensweisen zu verstehen. Doch seine Analyse zeigte wenig Wirkung. Gab es noch andere regressive Aspekte, wie Kannibalismus oder Skatologie? Nein, überhaupt nicht, nirgends. Die Aggressivität entfaltete sich von selbst, sie war rücksichtslos und die Analyse des Professors war nutzlos.
Eine Gruppe interdisziplinärer Forscher, ermutigt durch die Geschichte des Türstehers, machte sich daran zu zeigen, dass es für jedes Verbrechen ein Muster gibt, das aus Film und Fernsehen übernommen wurde und unbewusst funktioniert. Die Idee schien zunächst sehr gut, aber die Forscher stützten sich hauptsächlich auf einige Fälle von Prostituierten, die ihre Zuhälter getötet hatten sowie auf japanische Filme, die von der breiten Öffentlichkeit kaum beachtet worden waren. Tatsächlich fehlte es an Material, auch wenn man Themen wiederfinden konnte. Schließlich kam man in einer ausgefeilten Form auf die unzureichende und abgedroschene These von der Schädlichkeit des Bildes zurück.
Einige Frauen, Schauspielerinnen und Anwältinnen behaupteten, indem sie die Fälle aus dem »Schlafzimmer«, wie sie genannt wurden, verallgemeinerten, dass der tiefere Sinn dieser Gewalt die Infragestellung der patriarchalischen Macht sei und dass sich die Verbrechen gegen Männer im Allgemeinen und Ehepartner im Besonderen richteten. Die Morde, von denen sie berichteten – eine Frau, die ihren Mann unter einem Kissen erstickt, eine andere, die den ihren im Schlaf erstochen hatte –, fielen zweifellos unter ihre Analyse. Viele Frauen stimmten ihrer Ansicht zu und gaben ihnen Recht. Andere wiederum meinten: Nein, Geschlechterkrieg und Klassenkrieg, das habe nichts miteinander zu tun. Wie sollte man sich entscheiden?
Die Bewegung – auch wenn man den Begriff Bewegung streng genommen nicht verwenden konnte, es gab immer noch keine behauptete Verbindung zwischen den verschiedenen Verbrechen, man musste sie zumindest in Anführungszeichen setzen – die »Bewegung« wurde also größer, sie breitete sich aus, sie verbreitete sich, wie eine Pfütze, wie Gas, und der Mai – das muss man sagen, jeder hatte es erwartet – war explosiv. Was geschah, und es dauerte eine Weile, bis man sich dessen bewusst wurde, war eine Art zunehmende Abstraktion. Die Verbrechen wurden immer noch von einzelnen Personen begangen, aber sie schienen in einer weniger engen Beziehung, in einer weniger großen Nähe zu den Opfern zu stehen. Es war seltener ein direkter Vorgesetzter, ein Boss am Arbeitsplatz oder in den Geschäftsräumen. Der Geschäftsführer wurde nun gesucht. Manchmal handelte es sich auch um einen Minister, den man nie wirklich gesehen hatte, einen Abgeordneten, den man nicht kannte, den Direktor einer Zeitung oder eines Fernsehsenders, der in seinem Büro am Ende eines Flurs saß, kurzum, um Personen, die man nicht jeden Tag zur Hand hatte, die aber durch ihr Handeln im Alltag sehr wohl präsent waren. In diesem Sinne erforderten diese Verbrechen bestimmte Kenntnisse, mehr geistige Arbeit und, ja, wie ein bemerkenswerter Chronist, der die Ereignisse von Anfang an verfolgte, feststellte, ein höheres Abstraktionsniveau als die frühen Verbrechen. Gleichzeitig machte der Mörder immer einen persönlichen Vorwurf geltend. Er oder sie war durch die Tat des Opfers persönlich betroffen, auch wenn er oder sie nicht der einzige war, der ins Visier genommen wurde. Der erste Fall dieser Art war der eines Abgeordneten, der sich ausgedacht hatte – und sein Vorschlag hatte großes Aufsehen erregt –, die Berechnung von Überstunden unter dem Vorwand der Wettbewerbsfähigkeit in Frage zu stellen und Unternehmen in Schwierigkeiten einen Anreiz zur Einstellung von Mitarbeitern zu geben. Zwei Tage später wurde er von einem Fräsarbeiter vor einen Bus gestoßen, obwohl er arbeitslos war und vielleicht, wie einige betonten, wieder einen Job hätte finden können, wenn der Vorschlag des Abgeordneten angenommen worden wäre. Der Fräser sagte nur eine Sache: »Schluss mit dem Schwachsinn«. Der Satz war laut und deutlich. Er traf die Gemüter. Die Gemüter waren umso betroffener, als am übernächsten Tag die Journalistin, die für die Ratgeberspalten einer auflagenstarken Frauenzeitschrift zuständig war, von einer Leserin mit einem Schnürsenkel erdrosselt wurde. Diese sagte nur einen Satz, und es war derselbe: »Schluss mit dem Schwachsinn«.
Es gab eine Welle. Man konnte von einer Ausbreitung sprechen. Der Satz »Schluss mit dem Schwachsinn« wurde ständig und überall verwendet. Der Haushaltsminister starb durch die Hand eines Steuerzahlers in Marseille, der Landwirtschaftsminister wurde von einer Ziegenzüchterin in Toulouse niedergeschlagen, ein Stellvertreter des Bildungsministers wurde während eines Besuchs in einem Gymnasium in Lyon von einem Mathematiklehrer erstochen, und jedes Mal fiel der Spruch.
Bewegte man sich auf etwas zu, was man als Politisierung der »Bewegung« bezeichnen könnte? Es begann eine Grundsatzdebatte, wenn auch nicht immer explizit, die auf andere Weise das wieder aufnahm, was zuvor mit der Behauptung begonnen hatte, dass das, was passierte, auf keinen Fall politisch sei. Man diskutierte, das war in gewisser Weise obligatorisch und von der Situation getragen, über die Natur des Politischen, ob der Satz »Schluss mit dem Schwachsinn« wirklich ein politischer Satz war, ab wann man sagen kann, dass ein Satz politisch ist, usw. Man diskutierte auch über die Frage, ob der Satz »Schluss mit dem Schwachsinn« wirklich ein politischer Satz war, ab wann man sagen kann, dass ein Satz politisch ist. Wir fragten uns, bis zu welchem Punkt ein beliebiges Individuum – die Verbrecher waren alle beliebige Individuen – von einer Idee, einem Konzept, einer Vorstellung bewegt werden kann, und dann bis wohin, bis zum Verbrechen, ist das wirklich möglich, es war möglich, da es stattgefunden hatte, aber gab es nicht etwas anderes – was?
Diese Diskussionen und Debatten hielten die Verbrechen nicht davon ab, sich weiter zu vermehren und den ganzen Sommer über zu eskalieren. In ein und derselben Woche, im Juli und August, herrschte große Hitze und – reiner Zufall, wie man schnell behauptete – wurden im ganzen Land zahlreiche Leiter von psychiatrischen Kliniken ermordet. Sofort tauchte die These vom »gefährlichen Schizophrenen« auf, oder besser gesagt, sie tauchte wieder auf, denn sie war immer in Reserve und wurde immer wieder von den Medien verwendet, nachdem sie von einem ehemaligen Präsidenten der Republik zu Sicherheitszwecken geschmiedet worden war. Aber man merkte sehr schnell, dass sie nicht funktionierte, denn die Mörder waren keine Kranken, keine Bewohner von Krankenhäusern, Kliniken oder Irrenanstalten, nein, es gab nicht einen einzigen, es waren in allen Fällen psychiatrische Ärzte und Psychologen, einige von ihnen alt und kurz vor der Pensionierung, andere gerade von der Universität gekommen. Der emblematischste Fall, wenn man so sagen kann, war der eines erfahrenen Psychiaters, der von seinen Patienten geliebt wurde und ein engagierter Anhänger der institutionellen Psychotherapie war. Während des rituellen Spaziergangs im Garten des Krankenhauses zertrümmerte er den Schädel seines Abteilungsleiters mit einem Ast und brüllte »Lobotomie, Lobotomie«.
Es gab gewissermaßen einen Avatar dieser psychiatrisch klingenden Verbrechen: den Selbstmord eines Polizeikommissars in der Stadt Rennes. Er war ein braver Kommissar, redselig, mit Schnurrbart und bei allen beliebt. Er schoss sich selbst in den Kopf. Auf seinem Schreibtisch fand man neben dem unvermeidlichen Band von Paul Claudel einen sehr langen und ziemlich verwirrenden Brief, in dem er erklärte, dass er es nicht mehr ertragen konnte, in den Spiegel zu schauen und dort jedes Mal einen Chef mit einem Kopf voller Schrecken zu sehen, der nicht er selbst war. Man sprach selbstverständlich von einer gespaltenen Persönlichkeit.
Dieser Selbstmord inspirierte sofort mehrere Doktorarbeiten an den Universitäten von Rennes und anderswo: »Teilung des Subjekts und Aufrechterhaltung der Ordnung«, »Alle hassen die Polizei, die nachhaltigen Auswirkungen eines Slogans«, »Männlichkeit und Weiblichkeit. Das Genre der Polizei und die Polizei im Genre«. Im Ausland, vor allem in der angelsächsischen Welt, wurde der Fall zu einer Referenz. Er regte die Erneuerung kriminologischer Studien an, die seit langem in sterilen Gegensätzen zwischen Erbfaktoren und Umweltursachen herumtrampelten. Ein Rechtsprofessor an der Fakultät von Aix‐en‐Provence, der kürzlich das geringe Interesse an diesen Studien beklagt hatte, freute sich ausgiebig, wenn auch für manche auf etwas unanständige Weise, in einem Interview mit einer großen nationalen Tageszeitung, in dem er heiter schlussfolgerte: »Etwas Unglück ist gut.«
Ein bekannter Astronom, der am Pariser Observatorium arbeitete. Die Sterne und die Galaxien. Die Geschwindigkeit des Lichts. Nahe Planeten, ferne Sterne. Die Entfernungen, das sich ausdehnende Universum. Er berichtete von ständigen, kleinlichen Streitereien, dass man ihm nur Verwaltungsaufgaben gab und er keine Zeit mehr für die Forschung hatte. Er hatte einen Stuhl über seinem Kopf herumgewirbelt, bevor er ihn auf den Stuhl des Direktors fallen ließ. Dabei hatte er nur gesagt, was als sehr geschmacklos empfunden wurde: »Und trotzdem dreht er sich«.
Manchmal werden auch Fehler gemacht. In der Gegend von Bordeaux schlug ein Landwirt einen Beamten des Kulturministeriums nieder, wobei natürlich das Landwirtschaftsministerium gemeint war. Als er seinen Fehler bemerkte, zuckte er nur mit den Schultern. Ein Journalist (Regionalzeitung) amüsierte sich über »Kultur, Landwirtschaft, derselbe Kampf« und wurde noch am selben Tag entlassen.
Eine Facharbeiterin – der Begriff bezeichnet eigentlich das Fehlen jeglicher Spezialisierung – sitzt seit dreißig Jahren an derselben Stelle am Fließband in einer Autofabrik. Modellfabrik, leichte Struktur, die auf dem Land gebaut wurde, ausgezeichnete Betriebskantine, hohe Jahresendprämien, Fahrgemeinschaften und Busse. Laufende Verträge mit mehreren Ländern in Asien und Lateinamerika. Während eines Besuchs hochrangiger chinesischer Beamter verließ die Arbeiterin ihren Platz, nahm einen Schraubenschlüssel, der neben ihr auf dem Boden lag und bearbeitete damit einen jungen Mann in einem dreiteiligen Anzug, den sie noch nie zuvor gesehen hatte und von dem sie annahm, dass er der Geschäftsführer sei. Tatsächlich handelte es sich um den Dolmetscher, aber sie entschuldigte sich nicht und brachte auch kein Bedauern zum Ausdruck.
Unordnung, Unordnung, Unordnung.
Das Land hielt es nicht mehr aus.
Schließlich wurde die Guillotine wieder eingeführt.
Nachdem sie wieder eingeführt worden war, wurde das erste Verbrechen vom Präsidenten der Republik begangen, der in einem Anfall von Allmacht und in einem unwiderstehlichen Impuls seinen Leibwächter erdrosselte.
Die Immunität wurde aufgehoben.
Der 21. Januar wurde als Datum für die Hinrichtung festgelegt.
Nach der Hinrichtung ging alles sofort wieder seinen gewohnten Gang.
Übrigens wurde die Guillotine abgeschafft.
Bild: Hinrichtung Ludwigs des XVI. Kupferstich aus dem Jahr 1793