Es gibt die weit verbreitete, aber unbegründete Legende, dass Stalin Hamlet in der UdSSR verboten habe. Michelle Assay, Shakespeare‐Forscher, schrieb dazu in »What Did Hamlet (Not) Do to Offend Stalin?«, veröffentlicht in Actes des congrès de la Société française Shakespeare, 35, 2017.
Die Legende wird überall verbreitet, sogar unter »respektablen« Forschern
Assay schreibt, dass »[e]s […] keine offizielle Dokumentation, die eine faktische Grundlage für sein sogenanntes Hamlet‐Verbot liefern könnte [gibt].« Allerdings haben antikommunistische Propagandisten noch nie Quellen oder Fakten benötigt:
»Dennoch hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Stalin nicht nur Hamlet und seinen Helden hasste, sondern auch jede Aufführung in der Sowjetunion verbot. Stalins Abneigung gegen Hamlet taucht in fast jeder Studie auf, die sich mit Shakespeare und dem politischen/kulturellen Leben der Sowjetunion beschäftigt. Der Mythos des Verbots nimmt in der Tat verschiedene Formen an: Im besten Fall wird er durch Modifikatoren wie ›stillschweigend‹ oder ›virtuell‹ nuanciert; im schlimmsten Fall nimmt der Mythos die Form stark übertriebener Behauptungen an, die in der Regel die historischen Fakten außer Acht lassen, einschließlich der tatsächlichen Aufführungen von Hamlet während der Stalinzeit (Assay, S. 1).«
Die Legende wurde sogar in sogenannten »seriösen« wissenschaftlichen Publikationen verbreitet:
»Hier sind zwei Beispiele aus recht seriösen Publikationen: ›Theateraufführungen von Hamlet wurden im Anschluss [an Michail Tschechows Inszenierung von 1924 – 5] bis nach Stalins Tod 1953 verboten‹ und ›[in den 1940er‐Jahren] war das Stück [Hamlet] in der Sowjetunion seit Nikolai Akimovs verrückter Version von 1932 nicht mehr aufgeführt worden‹. Solche Aussagen lassen sich schnell widerlegen. Sie lassen nicht nur die Inszenierungen von Hamlet in der Provinz in den 1940er‐Jahren außer Acht (zum Beispiel zwei in Weißrussland unter der Regie von Valeri [auch bekannt als Valerian] Bebutov, eine 1941 am Staatlichen Dramatischen Theater Woronesch und eine 1946 am Jakub‐Kolas‐Theater in Witebsk), aber auch die recht bekannte Inszenierung von Sergej Radlow aus dem Jahr 1938, die aufgrund ihres großen Erfolges weit über Leningrad und Moskau hinaus bis in den Ural, nach Sotschi und Weißrussland tourte und fast einhellig positive Kritiken erhielt … Eher ideologisch motiviert sind Übertreibungen, wie sie in Solomon Volkovs weithin diskutierter Zusammenstellung von Schostakowitschs angeblichen Memoiren zu finden sind (Assay, S. 1).«
Joseph Macleod zufolge wurde Hamlet in der Sowjetunion in den Jahren 1935 bis 1938 23 Mal aufgeführt. Die Popularität des Stücks nahm danach noch zu und wurde 1938 bis 1941 50 Mal aufgeführt (Macleod, The New Soviet Theatre, S. 212). Sein Buch The New Soviet Theatre (das ich allen, die sich für das Thema interessieren, empfehle) enthält ein interessantes Kapitel mit dem Titel »Shakespeare on the Soviet stage«.
Wie wurde die Legende erfunden?
Assay vermutet, dass der Mythos von Stalins (realer oder erfundener) Aussage herrühren könnte, dass die Nation während des Zweiten Weltkriegs einen aktiven, optimistischen Helden brauche und nicht einen passiven, tragischen wie Hamlet. Aber wie Assay schreibt, wurde Hamlet in dieser Zeit immer noch aufgeführt: »Das bedeutet nicht, dass Hamlet von der sowjetischen Bühne völlig verschwunden ist … (Assay, S. 2).«
Assay zitiert Dimitri Urnows Artikel »Wie konnte Stalin Hamlet verbieten?«, in dem Urnow vorschlägt, dass der Mythos von der Inszenierung des Hamlet am Moskauer Kunsttheater aus dem Jahr 1940 herrühren könnte, die nie vollendet wurde. Urnov argumentiert jedoch überzeugend, dass die Hamlet‐Inszenierung am Moskauer Kunsttheater nicht von Stalin, sondern aufgrund vieler unglücklicher Umstände und großer interner Spannungen innerhalb des Theaters selbst gestoppt wurde (Assay, S. 3).«
»Es gab mindestens einen weiteren Faktor, der zur Langlebigkeit des Legendenbildung von Hamlet und Stalin beitrug: das Hamlet‐Fieber, das die sowjetischen Theater nach Stalins Tod erfasste (Assay, S. 8).«
Allerdings ist dieses Fieber schwer zu fassen. Es hat nie ein Hamlet‐Verbot gegeben – Hamlet wurde einfach immer wieder aufgeführt. Wann genau hat das Fieber also begonnen? Es ist klar, dass die Popularität von Hamlet mit der Zeit zunahm. In den späten 1960er‐Jahren gab es sogar einen Film. Es scheint klar zu sein, dass es Ende der 1940er und Anfang der 1950er‐Jahre andere große Projekte und andere Themen gab, denen die meiste Aufmerksamkeit galt.
In Wirklichkeit wurden Shakespeare und Hamlet in der Sowjetunion gefeiert
So schreibt Assay, dass Hamlet und die Shakespeare‐Stücke in Wirklichkeit nicht nur aufgeführt wurden, sondern:
»Mit dem Gütesiegel von Marx, Engels und Lenin versehen war Shakespeare in der Tat ein attraktives Thema für Schulen und Forschungsinstitute und bot »einen idealen Klassiker, um die breitesten Leser‐ und Publikumsschichten zu erreichen und so die Kluft zu überbrücken, die sich häufig zwischen der modernen Kunst und dem Volk aufgetan hatte (Assay, S. 6).«
In den späten 1940er‐Jahren, als sich der Kalte Krieg verschärfte, wurde die UdSSR immer kritischer gegenüber der westlichen kapitalistischen Propaganda in Form von Kultur. Dazu schreibt Assay, dass Shakespeare nie angegriffen wurde, sondern nur die kapitalistischen Methoden der Shakespeare‐Kritik. Shakespeares Werke wurden übersetzt und gedruckt:
»Während dieser kritischen Periode wurde nicht Shakespeare, sondern die vermeintlich westliche Einstellung gegenüber seiner Erforschung angegriffen, einschließlich der Werke von Mikhail Morozov, die als westlich beeinflusst galten… Nicht die Thematik oder die bloße Tatsache, über einen ausländischen Autor zu schreiben, wurde kritisiert, sondern Morozovs [bürgerliche] Herangehensweise an die Shakespeare‐Forschung… Im Anschluss an diese Angriffe und während die politisch korrekte »sowjetische Shakespearologie« durch Kommentare von Puschkin und Vissarion Belinski verdrängt wurde, gab es auch Übersetzungen, die oft in Sammelbänden abgedruckt wurden (Assay, S. 7).«
Warum wurde die Legende in die Welt gesetzt?
Assay ist ein bürgerlicher Wissenschaftler, der für eine bürgerliche Publikation schreibt. Als solche deuten sie höchstens an, dass politische Motive hinter der Schaffung dieser Legende – dieser Erfindung – stehen, ohne sich näher damit zu befassen.
Natürlich nutzte die westliche akademische Welt jede Gelegenheit, um Lügen über die UdSSR, Stalin und den Kommunismus zu erfinden, einschließlich dieses völlig inexistenten »Hamlet‐Verbots«.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung des bei ML‐Theory: A Marxist‐Leninist Blog erschienen englischen Orginals.
Bild: Cover der 1930 in Leningrad erschienen Schakespeareausgabe (В. Шекспир. Трагедия о Гамлете, принце датском. Ленинград, 1930 (Alma Pater CC BY‐SA 3.0 Deed)