Zwischen Wahn und Hybris – die »Nationale Sicherheitsstrategie«

Nun ist sie also fertig, die lang angekündigte »Nationale Sicherheitsstrategie«. Und man merkt ihr an, wie lange an ihr gearbeitet wurde, weil dieses Deutschland, auf das sie sich bezieht, gar nicht mehr existiert. Dafür gibt es aber heute ganz viele »Werte«.

Man weiß wieder einmal nicht, ob man lachen oder heulen soll. Aber auch, wenn es viele von maßloser Überheblichkeit geprägte Passagen in dieser neuen Sicherheitsstrategie gibt und sich hinter manch schmeichelnd formulierter Absicht finsterste Pläne verbergen – herausragend ist vor allem eines: mit der konkreten Wirklichkeit hat das Papier nicht viel zu tun.

Nicht nur, weil es vor lauter Phrasen schon eine allererste Bedingung nicht erfüllt, nämlich die Voraussetzungen für eine solche Strategie zu benennen, und zwar das konkret und nachvollziehbar, was man das nationale Interesse nennt. Man kann kein Interesse schützen wollen, das man nicht kennt. Das allerdings, was irgendwie in die Nähe der Benennung eines solchen Interesses gerät, wird sich am Ende dieses Textes finden, in der Witzabteilung.

Jenseits dessen findet man vor allem eine sehr eigenartige Weltsicht. Man kann ja gerne leidenschaftlich Propaganda betreiben, aber Strategien sollte man auf einer möglichst nüchternen Grundlage entwickeln. Jener Satz, der zusammenfassend das Land beschreiben soll, um das es geht, beginnt mit »Als bevölkerungsreichstes Land und größte Volkswirtschaft im Herzen Europas«, und nun würde man erwarten, dass von Rohstoffen, Lebensmittelversorgung, Wirtschaftszweigen, Verkehrswegen und dergleichen die Rede ist, um die unabänderlichen materiellen Grenzen des politischen Handelns zu benennen. Aber nein, es geht weiter mit: »… trägt Deutschland besondere Verantwortung für Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Stabilität sowie einen nachhaltigen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen.« Moment einmal, möchte man sagen, da geht es schon um das Drumherum, also um eine Verantwortung gegenüber anderen. Können wir nicht erst die Verantwortung für das eigene Land klären?

Nein! In diesem Abschnitt ist erst die Rede von der Freundschaft mit Frankreich, und dann ist gleich die »enge Verbundenheit und Partnerschaft mit den USA« an der Reihe. Gibt es irgendwo in diesem Papier eine Begründung für diese »Partnerschaft«? Nitschewo, niente. Nimmt man halt mal so als gegeben hin, aber das mit Verve.

Russland und China werden beide, wenn auch in leicht unterschiedlichem Maße, als Bedrohung definiert. Warum? Weil »Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine« »ein Bruch des Völkerrechts« sei. Selbst wenn man das glaubt – zwischen der Ukraine und Deutschland liegen doch noch zweieinhalb Kilometer. Von China wollen wir gar nicht erst reden. Es gibt aber nicht mehr Begründung als ein kryptisches: »Unsere Sicherheit ist verbunden mit der Sicherheit und Stabilität anderer Weltregionen.«

Natürlich ist man ansonsten für das Wahre, Gute und Schöne und bekämpft Armut und Hunger, soziale Ungleichheit und die Klimakrise – weltweit, versteht sich. Wobei natürlich alles außer der menschengemachten Klimakrise quasi vom Himmel fällt und nichts, aber rein gar nichts mit einer Handels‐ und Machtpolitik zu tun hat, die auch von Deutschland und der EU betrieben wird, selbst wenn mit dem beabsichtigten »Karbonzoll« gerade ein neues Mittel geschaffen wird, um die, die unten sind, auch unten zu halten.

Nein, alles Negative auf der Welt ist entweder naturgegeben oder das Ergebnis feindlicher, nämlich russischer oder chinesischer Einflüsse. Man selbst ist völlig unschuldig.

Dort, wo Regierungen Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit untergraben, richten wir unsere Zusammenarbeit stärker auf nichtstaatliche Akteure, die lokale Ebene sowie auf multilaterale Ansätze aus. Zugleich stärken wir jene Partnerregierungen, die sich wie wir für die internationale Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts einsetzen.

Dieser Abschnitt ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil im ganzen Text immer wieder von »illegitimer Einflussnahme« die Rede ist, die man unter anderem auch in Deutschland unterbinden wolle. Die nichtstaatlichen Akteure, das ist die Unzahl an NGOs, die sich vielerorts so unangenehm bemerkbar machen und deren Funktion natürlich vor allem Einflussnahme ist. Aber es macht eben einen entscheidenden Unterschied, wer da bei wem Einfluss nimmt.

Ein Spiel, in dem Deutschland übrigens erfahrener ist als die USA. Das National Endowment for Democracy wurde schließlich nach dem Vorbild der Auslandsstiftungen bundesdeutscher Parteien aufgebaut, als eine direkte Finanzierung durch die CIA dank deren schlechten Rufs nicht länger möglich war. Der Absatz übersetzt sich also mit: Überall, wo Regierungen auf Souveränität setzen, setzen wir unsere NGOs in Marsch. Sicher davor ist nur, wer sich freiwillig unterwirft. Selbstverständlich gilt so etwas dann als legitime Einflussnahme, wie auch die Aktivität all der US‐​amerikanischen Gegenstücke in Deutschland kein Problem ist, weil das ja nicht »illegitim« ist.

Genauso täuschend ist das, was in der Zusammenfassung so beschrieben ist: »Die Bundesregierung will die globale Ernährungssicherheit durch eine Transformation hin zu nachhaltigen Agrar‐ und Ernährungssystemen stärken.« Dahinter stecken die »Klimaschutz«-Vorgaben, beispielsweise den Einsatz von Kunstdünger zu beenden; ein Schritt, der letztes Jahr auf Sri Lanka unmittelbar in eine Hungersnot führte. Einen Kommentar zu dem Text über das Thema »Pandemien« kann man sich, glaube ich, schenken; alle wissen noch aus eigener Erfahrung, was sich dahinter verbirgt.

Der Charme der augenblicklichen schrägen Sicht auf die eigene Geschichte zeigt sich unter der Überschrift »sicherheitspolitische Identität«. »Wir handeln im Bewusstsein unserer Geschichte und der Schuld, die unser Land mit der Entfesselung des zweiten Weltkriegs und im Zivilisationsbruch der Shoah auf sich geladen hat.« Was ist die Konsequenz daraus? Richtig, die »Verantwortung für das Existenzrecht Israels«. Russland ist schließlich der Feind.

Die deutsche Außen‐ und Sicherheitspolitik sei »wertebasiert und interessegeleitet«. Aber die Interessen gleiten gleich wieder ins Ideologische und Immaterielle. »Die Festigung der transatlantischen Allianz und der engen und vertrauensvollen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.« Das ist etwas, das man nach Nord Stream ausführlichst begründen müsste, wenn man das als »nationales Interesse« verkaufen will.

Aber schließlich können weder die USA noch Deutschland ein Wässerchen trüben; während selbst China »immer offensiver eine regionale Vormachtstellung« beanspruche und gezielt seine Wirtschaftskraft einsetze, um politische Ziele zu erreichen. Das hat natürlich nichts mit dem zu tun, was weiter hinten steht: »Die Bundesregierung setzt sich für einen zielgerichteten und flexiblen Einsatz von Sanktionen der EU ein und stellt eine effektive Sanktionsdurchsetzung auf nationaler Ebene sicher.«

Nein, wenn es nicht gerade Russland in der Ukraine betrifft, fallen Konflikte irgendwie vom Himmel, und man selbst ist völlig unschuldig: »In Syrien und Irak, in Libyen, am Horn von Afrika und im Sahel etwa dauern Konflikte oft schon seit vielen Jahren an.« Das tun sie einfach so, diese bösen Konflikte, und spucken am Ende Terroristen aus, die selbst Europa gefährden, was selbstverständlich gar nichts damit zu tun hat, dass man sie zuvor jahrelang gepäppelt und gepflegt hatte, von al Qaida über die syrische »Opposition« bis hin zu den Ukronazis. Nein, man hat die Nase noch lange nicht voll und erklärt stolz »… global bleibt auch der Indopazifik für Deutschland und Europa von besonderer Bedeutung«.

Man ist nun einmal der Möchtegernsekundant des ganz großen Räubers und schreibt deshalb so, als wäre man ganz groß und stark. Das ist nur leider während der Zeit, in der an dieser Strategie geschrieben wurde, irgendwie verrutscht und der ökonomische Motor der EU wurde ausgebaut. Unter anderem deshalb sind so viele Abschnitte nur noch lächerlich. Denn »Deutschland mit seiner wirtschaftlichen Stärke, seinem diplomatischen Gewicht« – das war einmal. Auch wenn man sich in Berlin um die Erkenntnis drückt: Spätestens seit Nord Stream ist selbst in Zentralafrika klar, dass man mit dem Chef der Bande spricht, wenn man wirklich etwas will, weil ein Plausch mit der kindlichen Räuberprinzessin reine Zeitverschwendung ist.

Ohnehin hat diese Bundesregierung wenig Ahnung, was Staatlichkeit überhaupt bedeutet. Ein schönes Exempel dafür ist dies: »Die Bundesregierung wird gezielt Anbieter kritischer Schlüsseltechnologien mit geeigneten Maßnahmen, zum Beispiel durch staatliche Ankeraufträge, unterstützen, um eigene Fähigkeiten zu Forschung und Entwicklung in kritischen Technologien zu erhalten und weiterzuentwickeln.« Als Staat macht man das eigentlich direkter. Man forscht selbst, an den vorhandenen Universitäten und Instituten. Aber so simpel kann dieser neoliberal verseuchte Haufen gar nicht mehr denken und braucht erst Unternehmen, denen man Aufträge erteilt, damit diese dann vielleicht forschen. Teuer, unsicher, langsam und unter Umständen – wie die Pfizer‐​Nummer gezeigt hat – extrem gefährlich.

Richtig gut ist übrigens der da: »Die Bundesregierung verbessert die digitalen Infrastrukturen, unter anderem durch den Ausbau von Glasfaserverbindungen und schnellem Mobilfunk.« Wann war so etwas zum ersten Mal zu hören? Damals hieß der Bundesforschungsminister noch Riesenhuber und der Bundeskanzler Helmut Kohl.

Die Nummer mit dem Weltraumlagebild und dem Weltraumlagezentrum ist auch nicht schlecht. Über die Pläne zur Entwicklung der Bundeswehr kann man auch herzlich lachen, mit der »glaubhaften Abschreckung«. Wenn diese Regierung wenigstens aus der Schule den Spruch mit »tu felix austria, nube« – du, glückliches Österreich, heirate – im Kopf behalten hätte – nicht in dem Sinne, dass es nutzbringend wäre, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock zu verkuppeln, sondern dass es auch noch die Diplomatie gibt, die einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheitspolitik leisten könnte, so man sie denn beherrschte. Andererseits ist es vielleicht die einzig wahrhaftige Selbsteinschätzung, dass in dieser Strategie Diplomatie gar nicht erst erwähnt wird.

Freude hat man auch an diesem Satz, der auf die Aussage folgt, dass »neue parallele Institutionen« (vulgo BRICS etc.) ein »stabiles Finanzsystem« (das »stabile Finanzsystem« ist eigentlich auch ein Brüller) unterminierten: »Erschwerend kommt hinzu, dass es in vielen Staaten an Strukturen zur effektiven Bekämpfung von Korruption, Steuerhinterziehung und Wirtschafts‐ und Finanzkriminalität fehlt.« Vor dem Hintergrund von Cum‐​Ex und Pfizers SMS ein wirklich treffender Satz.

Das allerschönste Beispiel dafür, wie sehr diese »Nationale Sicherheitsstrategie« in einer Welt spielt, die es nicht gibt, liefert allerdings wieder einmal Annalena Baerbock in ihrem Vorwort. Es ist nicht einmal der Satz, Sicherheit bedeute, »dass im Winter unsere Heizungen laufen«. Der ist schon nicht schlecht.

Aber er wird noch einmal weit übertroffen von diesem Satz: »Dass wir sicher zur Arbeit kommen, weil unsere Züge nicht durch Cyberanschläge lahmgelegt sind.« Irgendjemand sollte ihr einmal sagen, dass der arme Mensch, der diesen bösen Cyberanschlag beabsichtigt, einen Moment erwischen müsste, in dem kein Gleis gebrochen, keine Lokomotive funktionsuntüchtig, keine Signalanlage ausgefallen, keine Klimaanlage kaputt, kein vorausfahrender Zug liegengeblieben, kein Unfall mit Personenschaden passiert, kein Lokführer erkrankt, kein Ersatzzug nicht auffindbar und kein Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter ist – sprich, die Deutsche Bahn wirklich mal nach Fahrplan fährt. Sonst würde das nämlich niemand bemerken.

Und ungefähr so steht es mit allen anderen wirklichen Sicherheitsfragen auch.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker‐​Verbandes, von dessen Website freidenker​.org der Artikel übernommen wurde, Erstveröffentlichung am 14.06.2023 auf RT DE

Bild: Ein öffentlich in Kotka, Finnland ausgestelltes Stück des Nord Stream‐​Rohrs (Vuo, wikimedia commons)

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