Impe­ria­lis­mus heu­te ist Verschwörungspraxis

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Bie­ten uns die inter­na­tio­na­len Kar­tel­le, die Kaut­sky Kei­me des ›Ultra­im­pe­ria­lis­mus‹ zu sein schei­nen (wie man auch die Erzeu­gung von Tablet­ten im Labo­ra­to­ri­um als einen Keim der Ultra­land­wirt­schaft anspre­chen ›kann‹), etwa nicht ein Bei­spiel der Auf­tei­lung und Neu­auf­tei­lung der Welt, des Über­gangs von fried­li­cher Auf­tei­lung zu nicht fried­li­cher und umgekehrt?

Lenin, Der Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus, 1917

Inhalt

1. Ein­lei­tung

Vor mehr als einem Jahr­hun­dert hat Lenin mit sei­nem Pam­phlet Der Impe­ria­lis­mus als höchs­tes Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus das mar­xis­ti­sche Den­ken ent­schei­dend wei­ter­ent­wi­ckelt und kla­rer her­aus­ge­ar­bei­tet. Lenins Inter­ven­ti­on ermög­lich­te ein wis­sen­schaft­li­ches Ver­ständ­nis von Ent­wick­lun­gen, die Marx und Engels zwar im Ansatz erkannt hat­ten, die aber zu ihrer Zeit noch nicht so weit ent­wi­ckelt waren, als dass sie voll­stän­dig ver­stan­den wer­den konn­ten. Lenin mach­te sich dar­an zu zei­gen, dass in dem knap­pen Vier­tel­jahr­hun­dert seit dem Tod von Engels eine qua­li­ta­ti­ve Ver­än­de­rung im Wesen des Kapi­ta­lis­mus statt­ge­fun­den hat­te: Der Kapi­ta­lis­mus war zum Impe­ria­lis­mus gewor­den. Zwi­schen Lenin und uns lie­gen heu­te der Auf­stieg des Faschis­mus, der Zwei­te Welt­krieg, die Chi­ne­si­sche Revo­lu­ti­on, die Deko­lo­nia­li­sie­rung und natür­lich die Rück­erobe­rung mehr oder weni­ger des gesam­ten Erd­balls durch die tri­um­phie­ren­de herr­schen­de Klas­se. Kurz­um: die Welt hat sich stark ver­än­dert. Lenins Erkennt­nis­se sind von gro­ßer Rele­vanz, aber man kann sie nicht aus ihrem leben­di­gen Zusam­men­hang her­aus­rei­ßen und mecha­nisch auf den unse­ren übertragen.

In der Debat­te, die die Kom­mu­nis­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on (KO) bis­her ver­an­stal­tet hat, gab es eine Rei­he von durch­dach­ten Ver­su­chen, sich mit die­ser Fra­ge aus­ein­an­der­zu­set­zen: Wie hat die Erfah­rung von einem hal­ben Jahr­hun­dert Sozia­lis­mus die Struk­tur der Wirt­schaft in den jetzt post­so­zia­lis­ti­schen Län­dern beein­flusst. Dabei hat man sich natür­lich weit­ge­hend auf Russ­land kon­zen­triert, aber es hat offen­sicht­li­che und inter­es­san­te Impli­ka­tio­nen für das Ver­ständ­nis Chi­nas und des übri­gen ehe­mals befrei­ten Drit­tels der Mensch­heit, das nun wie­der unter dem Joch der herr­schen­den Klas­se steht. Was jedoch schmerz­lich ver­misst wird, ist eine ange­mes­se­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit der fol­gen­den, ergän­zen­den Fra­ge: Wie hat der Kampf gegen ein hal­bes Jahr­hun­dert Sozia­lis­mus die Struk­tur des Kapi­ta­lis­mus verändert?

Die­se Fra­ge wird im Mit­tel­punkt die­ses Bei­trags ste­hen. Aus­gangs­punkt ist die scharf­sin­ni­ge Fest­stel­lung Lenins im zehn­ten Kapi­tel sei­ner Impe­ria­lis­mus­schrift, dass der Impe­ria­lis­mus als »als parasitäre[r] oder in Fäul­nis begriffene[r] Kapi­ta­lis­mus« ver­stan­den wer­den müs­se. Der Impe­ria­lis­mus ist das höchs­te, das heißt das letz­te Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus. Lenin ist sich dar­über im Kla­ren: Das Sys­tem als Gan­zes wür­de nicht eine Stu­fe zurück­fal­len, nicht zum nicht-impe­ria­lis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus zurück­keh­ren (dies ist der Kern sei­ner Kon­tro­ver­se mit Kaut­sky). Für Lenin deu­te­te der Impe­ria­lis­mus also nicht nur auf das Ende des Kapi­ta­lis­mus hin, son­dern war tat­säch­lich bereits der Anfang die­ses Endes. Das »Mono­pol« sobald ver­all­ge­mei­nert, das Lenin rich­ti­ger­wei­se als gleich­be­deu­tend mit dem Impe­ria­lis­mus iden­ti­fi­ziert, ist »Über­gang vom Kapi­ta­lis­mus zu einer höhe­ren Ord­nung«.1 Die Grund­an­nah­me, die dem größ­ten Teil der bis­he­ri­gen Debat­te zugrun­de liegt, ist, dass Lenins Ana­ly­se rich­tig war, aber sein Timing zu opti­mis­tisch war: Der Impe­ria­lis­mus ist das letz­te Sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus, aber er hat viel län­ger über­dau­ert, als es Lenin offen­sicht­lich für wahr­schein­lich hielt.

Aber Lenins Ein­schät­zung, dass der Impe­ria­lis­mus sei­ner Zeit bereits die Über­win­dung des Kapi­ta­lis­mus dar­stell­te, war tat­säch­lich rich­tig. Sein über­trie­be­ner Opti­mis­mus lag nicht in sei­ner Chro­no­lo­gie, son­dern in sei­ner Teleo­lo­gie begrün­det: der Annah­me, dass das Ende des Kapi­ta­lis­mus das Ende der Klas­sen­ge­sell­schaft im All­ge­mei­nen bedeu­ten müs­se. Das ist aber nicht der Fall. Kein ernst­haf­ter theo­re­ti­scher Mate­ria­list kann zumin­dest das Prin­zip leug­nen, dass eine Alter­na­ti­ve mög­lich ist. Dies ist in der Tat impli­zit in unse­rer gesam­ten poli­ti­schen Arbeit ent­hal­ten: Wenn Sozia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus wirk­lich unver­meid­lich wären, war­um dann so viel Zeit und Mühe auf­wen­den, um eine Revo­lu­ti­on durch­zu­füh­ren? Unge­duld? Natür­lich nicht: Wir enga­gie­ren uns im poli­ti­schen Kampf, weil wir wis­sen, dass wir ver­lie­ren kön­nen – wir wis­sen, dass die herr­schen­de Klas­se gewin­nen kann. In der Tat sind sie sehr nahe dar­an, genau das zu tun.

Und wenn vie­le selbst­er­nann­te Mar­xis­ten ver­ges­sen haben, dass wir Poli­tik machen – die Welt bewusst in unse­rem eige­nen Inter­es­se gestal­ten –, so haben noch mehr einen weit grö­ße­ren Feh­ler began­gen: Sie haben nicht erkannt, dass die herr­schen­de Klas­se eben­falls Poli­tik macht. Die con­di­tio sine qua non für das Vor­an­kom­men des kom­mu­nis­ti­schen Pro­jekts der Befrei­ung des Men­schen wird dar­in bestehen, uns von den klein­bür­ger­li­chen Patho­lo­gien zu befrei­en, die den Mar­xis­mus so kor­rum­piert und ver­krüp­pelt haben: Aka­de­mis­mus, Mys­ti­fi­ka­tio­nen, Obsku­ran­tis­mus, Struk­tu­ra­lis­mus und der­glei­chen mehr. Wir müs­sen zu dem schar­fen Bewusst­sein für Poli­tik zurück­keh­ren, das bei Marx, Engels, Lenin, Sta­lin, Gramsci, Mao, Hox­ha, San­ka­ra, New­ton und allen ande­ren gro­ßen Mar­xis­ten zu fin­den ist und das heu­te so schmerz­lich fehlt. Wir müs­sen die bewuss­ten, akti­ven und absicht­li­chen Gegen­maß­nah­men ver­ste­hen, die die herr­schen­de Klas­se als Reak­ti­on auf den teil­wei­sen Erfolg der ers­ten Wel­le der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on und den sich stän­dig ver­än­dern­den, täg­li­chen Kampf zwi­schen Kapi­tal und Arbeit ergrif­fen hat.

Die unge­heu­er­lichs­te, am meis­ten anti-mate­ria­lis­ti­sche Abwei­chung, die den Mar­xis­mus heu­te unter­gräbt, ist die hys­te­ri­sche All­er­gie gegen »Ver­schwö­rungs­theo­rien«. Selbst wenn Lenin die Mög­lich­keit einer anhal­ten­den Mas­sen­ko­ope­ra­ti­on der Welt­bour­geoi­sie auf höchs­ter Ebe­ne (das heißt Ultra- oder Inter­im­pe­ria­lis­mus) aus­schloss, geht sei­ne Ana­ly­se not­wen­di­ger­wei­se davon aus, dass, solan­ge der kapi­ta­lis­ti­sche Impe­ria­lis­mus fort­be­steht, die inter­ne Kon­zen­tra­ti­on der Macht in immer weni­ger Hän­den wei­ter­ge­hen muss. In sei­nem Impe­ria­lis­mus erklär­te er bereits, dass »Deutsch­land […] von höchs­tens 300 Kapi­tal­ma­gna­ten regiert [wird], und ihre Zahl wird ste­tig gerin­ger.« Wie vie­le Kapi­tal­ma­gna­ten dürf­ten heu­te in Deutsch­land oder einem ande­ren kapi­ta­lis­ti­schen Land tat­säch­lich regie­ren? Und wie könn­te die koor­di­nier­te Kon­trol­le durch eine so klei­ne Anzahl, eine Anzahl, deren Macht ille­gi­tim ist und sich hin­ter einer demo­kra­ti­schen Fas­sa­de ver­ste­cken muss, anders aus­se­hen als ver­mit­tel durch end­lo­se Verschwörungen?

2. Der Impe­ria­lis­mus nach der Grün­dung der UdSSR

Die ein­schnei­den­den Ent­wick­lun­gen im Welt­sys­tem seit Lenins Zeit haben die Ten­denz zur Macht­kon­zen­tra­ti­on und damit die Ver­schwö­rung als ihre Erschei­nungs­form nur ver­stärkt. Vor allem ist es tra­gisch, dass die Revo­lu­ti­on, die Lenin zu Recht als not­wen­di­ge Reak­ti­on auf die Ten­den­zen des Impe­ria­lis­mus vor­aus­sah (von der er also annahm, dass sie die­se auf­hal­ten wür­de), zwar statt­fand, aber unvoll­stän­dig blieb. Die zen­tra­len Macht­zen­tren, die in den Hän­den der herr­schen­den Kapi­ta­lis­ten­klas­se ver­blie­ben, wur­den in Fes­tun­gen zur Rück­erobe­rung der Erde verwandelt.

Dies ist ein Zustand, den sich Lenin nicht voll­stän­dig vor­stel­len konn­te. Er stellt fest, dass eine dau­er­haf­te und nach­hal­ti­ge Zusam­men­ar­beit zwi­schen den impe­ria­lis­ti­schen Bour­geoi­si­en bei der gegen­sei­ti­gen Auf­tei­lung und Aus­beu­tung der Welt auf Dau­er unmög­lich sei, weil das Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen ihnen dyna­misch ist und sich stän­dig ver­schiebt. Wenn die Tei­lung des Ter­ri­to­ri­ums der rea­len Macht­dy­na­mik wider­spricht, fragt Lenin in Kapi­tel XII sei­ner Impe­ria­lis­mus­schrift, »wie kön­nen dann unter dem Kapi­ta­lis­mus die Gegen­sät­ze anders aus­ge­tra­gen wer­den als durch Gewalt?« Nun, aus seman­ti­schen Grün­den könn­te man sagen: Es stimmt schon: Wenn die Impe­ria­lis­ten die­se Wider­sprü­che unter­ein­an­der ohne zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Krieg lösen kön­nen, dann haben wir viel­leicht Recht, wenn wir sagen, dass wir in einem Sys­tem leben, das sich grund­le­gend von dem unter­schei­det, das Marx beschrie­ben hat.

Aber abge­se­hen von der Seman­tik, gibt es nicht eine Ent­wick­lung, die die­sen Sach­ver­halt tat­säch­lich mög­lich macht? Gibt es nicht eine Sache, die die wun­der­sa­me Kraft hat, den Impe­ria­lis­ten dabei zu hel­fen, ihre Dif­fe­ren­zen bei­zu­le­gen und Frie­den zu schlie­ßen – näm­lich die Revo­lu­ti­on der Arbei­ter­klas­se? Wie Marx bereits 1848 fest­stell­te, ver­ein­te der Pari­ser Juni-Aufstand

[…] im kon­ti­nen­ta­len Euro­pa so in Eng­land, alle Frak­tio­nen der herr­schen­den Klas­sen, Grund­ei­gen­tü­mer und Kapi­ta­lis­ten, Bör­sen­wöl­fe und Krä­mer, Pro­tek­tio­nis­ten und Frei­händ­ler, Regie­rung und Oppo­si­ti­on, Pfaf­fen und Frei­geis­ter, jun­ge Huren und alte Non­nen, unter dem gemein­schaft­li­chen Ruf zur Ret­tung des Eigen­tums, der Reli­gi­on, der Fami­lie, der Gesell­schaft! (Kapi­tal, Bd. 1, Kap. 8, Abschnitt 6)

Gleich zu Beginn des Mani­fests wird der­sel­be Punkt mit noch grö­ße­rer Bedeu­tung ange­führt: »Alle Mäch­te des alten Euro­pa haben sich zu einer hei­li­gen Hetz­jagd« gegen das »Gespenst des Kom­mu­nis­mus« ver­bün­det: »der Papst und der Zar, Met­ter­nich und Gui­zot, fran­zö­si­sche Radi­ka­le und deut­sche Poli­zis­ten«. Zu Lenins Zei­ten war die Ten­denz, sich gegen die Revo­lu­ti­on zu ver­bün­den, natür­lich nicht stark genug, um die Ten­denz zu gewalt­sa­men zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flik­ten zu über­win­den. Die Unfä­hig­keit der Kapi­ta­lis­ten-Impe­ria­lis­ten, ihre Dif­fe­ren­zen zu über­win­den und der dar­aus resul­tie­ren­de Ers­te Welt­krieg führ­ten in der Tat zu nichts weni­ger Ver­hee­ren­dem für alle Kapi­ta­lis­ten als zur ers­ten erfolg­rei­chen sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on und der Grün­dung der UdSSR.

Zeit­gleich mit der Dyna­mik des zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Krie­ges und des ultra­im­pe­ria­lis­ti­schen kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Kamp­fes (vor allem gegen die UdSSR) und zum Teil durch die­se Dyna­mik ange­trie­ben, tra­ten Fak­to­ren auf, die das Wesen und die Fähig­keit der impe­ria­lis­ti­schen herr­schen­den Klas­se ent­schei­dend ver­än­der­ten – alles im Wesent­li­chen in Form von Mono­po­len oder Ultra­mo­no­po­len: Die Luft­waf­fe, ein Mono­pol über den Him­mel; die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­dus­trie und die stän­dig wach­sen­de mono­po­lis­ti­sche Kon­trol­le über die mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on; die Ent­wick­lung hoch­ent­wi­ckel­ter und zen­tra­li­sier­ter Nach­rich­ten­diens­te, die ein Infor­ma­ti­ons­mo­no­pol und viel­leicht all­mäh­lich auch ein all­ge­mei­nes Macht- und Gewalt­mo­no­pol mit sich brach­ten; und schließ­lich unter den Schieds­män­nern der letz­te­ren eine noch nie dage­we­se­ne Kon­trol­le über (offe­ne und ver­deck­te) Ein­kom­mens­strö­me, die zu Lenins Zei­ten unvor­stell­bar war und die die ent­spre­chen­den Fähig­kei­ten zur Bestechung, Unter­wan­de­rung, Ermor­dung, Kor­rup­ti­on und so wei­ter mit sich brachte.

Es wür­de den Rah­men die­ses Bei­trags bei wei­tem spren­gen, Wesen und Inhalt des Zwei­ten Welt­kriegs voll­stän­dig zu sche­ma­ti­sie­ren. Aber wir müs­sen die Auf­merk­sam­keit auf eini­ge her­vor­ste­chen­de Fak­ten len­ken. Einer davon ist, dass der Nazis­mus (der vor allem durch eine Ver­schwö­rung deut­scher Kapi­ta­lis­ten – im Wesent­li­chen die Kon­ti­nui­tät der von Lenin erwähn­ten 300 Magna­ten – mit ame­ri­ka­ni­scher Unter­stüt­zung instal­liert wur­de) sich selbst aus­drück­lich als eine Art Pro­gramm für den Ultra­im­pe­ria­lis­mus dar­stell­te: Der Vor­schlag der Nazis war eine Welt, die rela­tiv freund­schaft­lich zwi­schen Ame­ri­ka­nern, Deut­schen, Bri­ten und Japa­nern auf­ge­teilt wur­de. Das Nazi­re­gime war zumin­dest teil­wei­se auch als ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche Waf­fe gedacht, die von den ande­ren gro­ßen west­li­chen impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten vor­läu­fig akzep­tiert oder sogar geför­dert wur­de, um die revo­lu­tio­nä­re Sowjet­uni­on zu zerschlagen.

Unab­hän­gig davon, ob man den Krieg als zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flikt oder als ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re (Rück-)Eroberung betrach­tet (er war natür­lich all das und noch mehr), ist klar, dass am Ende die­ser Kon­vul­si­on wie­der ein­mal grö­ße­re Gebie­te den Hän­den der herr­schen­den Klas­se ent­ris­sen wor­den waren. Ein Net­to­ge­winn für die Mensch­heit war errun­gen wor­den, wenn auch zu unvor­stell­ba­ren Kos­ten (die aller­dings kein Revo­lu­tio­när je in Fra­ge stell­te: kein Mar­xist war je der Mei­nung, dass es sich damals gelohnt hät­te, die Ver­skla­vung zu akzep­tie­ren, um »Leben zu ret­ten«, obwohl vie­le selbst­er­nann­te Mar­xis­ten heu­te genau die­se Posi­ti­on eif­rig vertreten).

Einer der Grün­de, war­um die herr­schen­de Klas­se in Euro­pa so spek­ta­ku­lär schei­ter­te, war natür­lich ihre eige­ne Arro­ganz, ihr Glau­be an ihre eige­ne schäd­li­che Pseu­do­wis­sen­schaft (die­se »bewies« zum Bei­spiel die inhä­ren­te Min­der­wer­tig­keit der Sla­wen, zu jener Zeit der »wis­sen­schaft­li­che Exper­ten­kon­sens« des kapi­ta­lis­ti­schen Wes­tens). Ande­re Grün­de des Schei­terns sind teil­wei­se im vor­sätz­li­chen poli­ti­schen Kampf der Mas­sen zu suchen – ein­schließ­lich der Ver­schwö­run­gen, wie die sowje­ti­sche Ver­schwö­rung zur Unter­gra­bung der kon­kur­rie­ren­den Ver­schwö­rung bestimm­ter Nazi-Frak­tio­nen, die einen Waf­fen­still­stand mit den USA aus­han­deln woll­ten, um sich gemein­sam auf die UdSSR zu kon­zen­trie­ren (bril­li­ant fik­tio­na­li­siert in dem sowje­ti­schen Klas­si­ker Sieb­zehn Momen­te des Früh­lings).

Den­noch waren die kapi­ta­lis­ti­schen Groß­mäch­te am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs noch lan­ge nicht besiegt. Ein Groß­teil der sozia­lis­ti­schen Welt blieb mit einer zer­schmet­ter­ten Bevöl­ke­rung zurück, die ver­zwei­felt den Wie­der­auf­bau auf gesal­ze­ner Erde ver­such­te. Der über­wie­gen­de Teil des von den faschis­ti­schen Kräf­ten geplün­der­ten Reich­tums sowie die meis­ten faschis­ti­schen Anfüh­rer wur­den in ein nun­mehr geein­tes impe­ria­lis­ti­sches Lager unter ame­ri­ka­ni­scher Hege­mo­nie ein­ge­glie­dert. Eine trü­ge­ri­sche, ober­fläch­li­che »Ent­na­zi­fi­zie­rung« in Deutsch­land ver­deck­te die Stär­kung der­sel­ben gesell­schaft­li­chen Kräf­te, die hin­ter dem Hit­ler­fa­schis­mus stan­den, was muta­tis mut­an­dis auch für Japan gilt (sie­he ins­be­son­de­re The New Ger­ma­ny and The Old Nazis, Tetens; Mar­tin Bor­mann – Nazi in Exi­le, Man­ning; All Hono­ura­ble Men, Mar­tin; Gold War­ri­ors, Seagra­ve – ja, das gesam­te Werk von Seagra­ve; sie­he auch das umfang­rei­che Mate­ri­al zu die­sem The­ma von Dave Emo­ry).

Hier sehen wir den wesent­li­chen Punkt: die empi­risch offen­sicht­li­che Tat­sa­che der tota­len ultra-impe­ria­lis­ti­schen Hege­mo­nie, die die USA nach dem Zwei­ten Welt­krieg über die kapi­ta­lis­ti­sche Welt errich­tet haben. Die­se Hege­mo­nie wur­de nicht nur zum Zweck der gemein­sa­men Aus­beu­tung der Drit­ten Welt errich­tet, son­dern vor allem dar­um, den exis­ten­zi­el­len Kampf gegen den Kom­mu­nis­mus zu füh­ren, den »Kal­ten Krieg«. Dabei über­schnei­den sich bei­de Moti­ve, da Aus­beu­tung stets den Befrei­ungs­kampf der Aus­ge­beu­te­ten für den Sozia­lis­mus nach sich zieht. Mit dem Ende des Kal­ten Krie­ges und der glo­ba­len Kon­ter­re­vo­lu­ti­on wur­de die Uhr nicht auf 1917 zurück­ge­stellt. Die Erfah­rung des Sozia­lis­mus hat die gan­ze Welt grund­le­gend ver­än­dert. Die tri­um­phie­ren­de Kapi­ta­lis­ten­klas­se plün­der­te nicht nur den kol­lek­ti­ven Reich­tum der sozia­lis­ti­schen Welt, son­dern auch deren kol­lek­ti­ve Erfah­rung und Wis­sen. Die Kapi­ta­lis­ten, die die ver­ge­sell­schaf­te­te Pro­duk­ti­on über­nah­men, vor allem in Chi­na, genos­sen eine Macht­po­si­ti­on und eine zen­tra­li­sier­te Kon­trol­le, die zuvor inner­halb der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schafts­be­zie­hun­gen unvor­stell­bar gewe­sen war.

Dies ist ein Arran­ge­ment, das Lenin nie expli­zit unter­sucht hat. Sei­ne Ableh­nung des Ultra­im­pe­ria­lis­mus befasst sich nicht mit der Mög­lich­keit einer Welt, die auf unbe­stimm­te Zeit (fried­lich oder nicht) zwi­schen kapi­ta­lis­ti­schen und sozia­lis­ti­schen Staa­ten auf­ge­teilt ist. Schon gar nicht hat er sich mit der Aus­sicht auf einen dau­er­haf­ten sozia­lis­ti­schen Auf­bau mit anschlie­ßen­der Kon­ter­re­vo­lu­ti­on aus­ein­an­der­ge­setzt. Da dies die Welt ist, die sich tat­säch­lich her­aus­ge­bil­det hat, ist es die Welt, mit der wir uns aus­ein­an­der­set­zen müs­sen – unter Ver­wen­dung der vie­len hilf­rei­chen Werk­zeu­ge, die Lenin in ange­mes­se­ner und undog­ma­ti­scher Wei­se zur Ver­fü­gung gestellt hat.

3. Exkurs: Impe­ria­lis­mus als eigen­stän­di­ge Pro­duk­ti­ons­wei­se – eine theo­re­ti­sche Möglichkeit?

Wie bereits erwähnt, betont Lenin wie­der­holt, dass der impe­ria­lis­ti­sche Kapi­ta­lis­mus »ein Über­gangs­ka­pi­ta­lis­mus« im »Fäul­nis­zu­stand« oder eben »ein ster­ben­der Kapi­ta­lis­mus« sei. Beson­ders inter­es­sant und bedeut­sam ist, dass Lenin im Haupt­teil des ursprüng­li­chen Pam­phlets sehr vor­sich­tig ist und es mei­det, abschlie­ßend zu sagen, in was er sich ver­wan­delt. Dies kann natür­lich auch ein­fach der »äso­pi­schen Spra­che« geschul­det sein, in der, wie er lamen­tier­te, schrei­ben muss­te, um die zaris­ti­sche Zen­sur zu umge­hen. Weni­ge Mona­te nach der Erst­ver­öf­fent­li­chung behaup­tet er in dem Arti­kel »Der Impe­ria­lis­mus und die Spal­tung des Sozia­lis­mus«, der im Okto­ber 1916 ver­öf­fent­licht wur­de und oft als Anhang dem Impe­ria­lis­mus­pam­phlet bei­gefügt ist, tat­säch­lich ein­fach: »[…] der Impe­ria­lis­mus ist bereits das Ster­ben des Kapi­ta­lis­mus, der Beginn sei­nes Über­gangs in den Sozia­lis­mus.«2

Ob nun beab­sich­tigt oder ein Sym­ptom der Zen­sur, die Unbe­stimmt­heit des frü­he­ren Tex­tes hat sich als zutref­fen­der erwie­sen als die Zuver­sicht des spä­te­ren Arti­kels, der sicher ist, dass nichts ande­res als der Sozia­lis­mus her­aus­kom­men wird. Denn sie tra­gen dazu bei, die Tat­sa­che zu erhel­len, dass der Impe­ria­lis­mus die grund­le­gen­den Bedin­gun­gen, die für das von Marx beschrie­be­ne kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem not­wen­dig sind, ein­deu­tig unter­gräbt. Wie Mol­ly Klein anmerkt, könn­te man in einem sehr begrenz­ten und ein­ge­schränk­ten Sin­ne sogar aner­ken­nen, dass es sich bei dem, was gera­de auf­ge­baut wird, um eine Form des Sozia­lis­mus han­delt – inso­fern, als die­ser Begriff als Gegen­satz zum Indi­vi­dua­lis­mus und nicht zum Kapi­ta­lis­mus daher­kommt. Was offen­sicht­lich und kon­kret geschieht, ist die dra­ma­ti­sche Ver­ge­sell­schaf­tung sowohl der Pro­duk­ti­on als auch der Ver­tei­lung. Aller­dings geschieht dies auf hier­ar­chi­sche Wei­se, im Gegen­satz zu den ega­li­tä­ren Kon­no­ta­tio­nen des Sozia­lis­mus, wie wir den Begriff übli­cher­wei­se ver­wen­den. Was wir hier sehen, ist kei­ne sozia­lis­ti­sche Sowjet­re­pu­blik, son­dern eher eine pla­to­ni­sche, das heißt eine faschis­to­ide, auto­ri­tär-hier­ar­chi­sche Republik.

Hier ist es hilf­reich, eini­ge bemer­kens­wert vor­aus­schau­en­de Pas­sa­gen von Marx selbst aus dem drit­ten Band des Kapi­tals, genau­er Kapi­tel 27 »Die Rol­le des Kre­dits in der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on«, zu berück­sich­ti­gen, auf die Mol­ly Klein in die­sem Zusam­men­hang hin­ge­wie­sen hat. Sie sind es wert, in aller Aus­führ­lich­keit zitiert zu wer­den. Hier ist Marx zu den Aus­wir­kun­gen der Grün­dung von Akti­en­ge­sell­schaf­ten, kur­siv im Ori­gi­nal, fett hin­zu­ge­fügt vom Verfasser:

1. Unge­heu­re Aus­deh­nung der Stu­fen­lei­ter der Pro­duk­ti­on und Unter­neh­mun­gen, die für Ein­zel­ka­pi­ta­le unmög­lich waren. Sol­che Unter­neh­mun­gen zugleich, die frü­her Regie­rungs­un­ter­neh­mun­gen waren, wer­den gesellschaftliche.

2. Das Kapi­tal, das an sich auf gesell­schaft­li­cher Pro­duk­ti­ons­wei­se beruht und eine gesell­schaft­li­che Kon­zen­tra­ti­on von Pro­duk­ti­ons­mit­teln und Arbeits­kräf­ten vor­aus­setzt, erhält hier direkt die Form von Gesell­schafts­ka­pi­tal (Kapi­tal direkt asso­zi­ier­ter Indi­vi­du­en) im Gegen­satz zum Pri­vat­ka­pi­tal, und sei­ne Unter­neh­mun­gen tre­ten auf als Gesell­schafts­un­ter­neh­mun­gen im Gegen­satz zu Pri­vat­un­ter­neh­mun­gen. Es ist die Auf­he­bung des Kapi­tals als Pri­vat­ei­gen­tum inner­halb der Gren­zen der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se selbst.

3. Ver­wand­lung des wirk­lich fun­gie­ren­den Kapi­ta­lis­ten in einen blo­ßen Diri­gen­ten, Ver­wal­ter frem­des Kapi­tals, und der Kapi­tal­ei­gen­tü­mer in blo­ße Eigen­tü­mer, blo­ße Geld­ka­pi­ta­lis­ten. Selbst wenn die Divi­den­den, die sie beziehn, den Zins und Unter­neh­mer­ge­winn, das heißt den Total­pro­fit ein­schlie­ßen (denn das Gehalt des Diri­gen­ten ist, oder soll sein, blo­ßer Arbeits­lohn einer gewis­sen Art geschick­ter Arbeit, deren Preis im Arbeits­markt regu­liert wird, wie der jeder and­ren Arbeit), so wird die­ser Total­pro­fit nur noch bezo­gen in der Form des Zin­ses, das heißt als blo­ße Ver­gü­tung des Kapi­tal­ei­gen­tums, das nun ganz so von der Funk­ti­on im wirk­li­chen Repro­duk­ti­ons­pro­zeß getrennt wird wie die­se Funk­ti­on, in der Per­son des Diri­gen­ten, vom Kapi­tal­ei­gen­tum. Der Pro­fit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil des­sel­ben, der Zins, der sei­ne Recht­fer­ti­gung aus dem Pro­fit des Bor­gers zieht) als blo­ße Aneig­nung frem­der Mehr­ar­beit, ent­sprin­gend aus der Ver­wand­lung der Pro­duk­ti­ons­mit­tel in Kapi­tal, das heißt aus ihrer Ent­frem­dung gegen­über den wirk­li­chen Pro­du­zen­ten, aus ihrem Gegen­satz als frem­des Eigen­tum gegen­über allen wirk­lich in der Pro­duk­ti­on täti­gen Indi­vi­du­en, vom Diri­gen­ten bis her­ab zum letz­ten Tag­löh­ner. In den Akti­en­ge­sell­schaf­ten ist die Funk­ti­on getrennt vom Kapi­tal­ei­gen­tum, also auch die Arbeit gänz­lich getrennt vom Eigen­tum an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln und an der Mehr­ar­beit. Es ist dies Resul­tat der höchs­ten Ent­wick­lung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on ein not­wen­di­ger Durch­gangs­punkt zur Rück­ver­wand­lung des Kapi­tals in Eigen­tum der Pro­du­zen­ten, aber nicht mehr als das Pri­vat­ei­gen­tum ver­ein­zel­ter Pro­du­zen­ten, son­dern als das Eigen­tum ihrer als asso­zi­ier­ter, als unmit­tel­ba­res Gesell­schafts­ei­gen­tum. Es ist and­rer­seits Durch­gangs­punkt zur Ver­wand­lung aller mit dem Kapi­tal­ei­gen­tum bis­her noch ver­knüpf­ten Funk­tio­nen im Repro­duk­ti­ons­pro­zeß in blo­ße Funk­tio­nen der asso­zi­ier­ten Pro­du­zen­ten, in gesell­schaft­li­che Funktionen.

Es ist dies die Auf­he­bung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se inner­halb der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se selbst und daher ein sich selbst auf­he­ben­der Wider­spruch, der pri­ma facie als blo­ßer Über­gangs­punkt zu einer neu­en Pro­duk­ti­ons­form sich dar­stellt. Als sol­cher Wider­spruch stellt er sich dann auch in der Erschei­nung dar. Er stellt in gewis­sen Sphä­ren das Mono­pol her und for­dert daher die Staats­ein­mi­schung her­aus. Er repro­du­ziert eine neue Finanz­aris­to­kra­tie, eine neue Sor­te Para­si­ten in Gestalt von Pro­jek­ten­ma­chern, Grün­dern und bloß nomi­nel­len Direk­to­ren; ein gan­zes Sys­tem des Schwin­dels und Betrugs mit Bezug auf Grün­dun­gen, Akti­en­aus­ga­be und Akti­en­han­del. Es ist Pri­vat­pro­duk­ti­on ohne die Kon­trol­le des Privateigentums. 

Abge­sehn von dem Akti­en­we­sen – das eine Auf­he­bung der kapi­ta­lis­ti­schen Pri­vat­in­dus­trie auf Grund­la­ge des kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems selbst ist, und in dem­sel­ben Umfang, wor­in es sich aus­dehnt und neue Pro­duk­ti­ons­sphä­ren ergreift, die Pri­vat­in­dus­trie ver­nich­tet -, bie­tet der Kre­dit dem ein­zel­nen Kapi­ta­lis­ten oder dem, der für einen Kapi­ta­lis­ten gilt, eine inner­halb gewis­ser Schran­ken abso­lu­te Ver­fü­gung über frem­des Kapi­tal und frem­des Eigen­tum und dadurch über frem­de Arbeit.Ver­fü­gung über gesell­schaft­li­ches, nicht eig­nes Kapi­tal, gibt ihm Ver­fü­gung über gesell­schaft­li­che Arbeit. Das Kapi­tal selbst, das man wirk­lich oder in der Mei­nung des Publi­kums besitzt, wird nur noch die Basis zum Kre­dit­über­bau. Es gilt dies beson­ders im Groß­han­del, durch des­sen Hän­de der größ­te Teil des gesell­schaft­li­chen Pro­dukts pas­siert. Alle Maß­stä­be, alle mehr oder min­der inner­halb der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se noch berech­tig­ten Expli­ka­ti­ons­grün­de ver­schwin­den hier. Was der spe­ku­lie­ren­de Groß­händ­ler ris­kiert, ist gesell­schaft­li­ches, nicht sein Eigen­tum. Eben­so abge­schmackt wird die Phra­se vom Ursprung des Kapi­tals aus der Erspa­rung, da jener gera­de ver­langt, daß and­re für ihn spa­ren sol­len. Der and­ren Phra­se von der Ent­sa­gung schlägt sein Luxus, der nun auch selbst Kre­dit­mit­tel wird, direkt ins Gesicht. Vor­stel­lun­gen, die auf einer min­der ent­wi­ckel­ten Stu­fe der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on noch einen Sinn haben, wer­den hier völ­lig sinn­los. Das Gelin­gen und Miß­lin­gen füh­ren hier gleich­zei­tig zur Zen­tra­li­sa­ti­on der Kapi­ta­le und daher zur Expro­pria­ti­on auf der enorms­ten Stu­fen­lei­ter. Die Expro­pria­ti­on erstreckt sich hier von den unmit­tel­ba­ren Pro­du­zen­ten auf die klei­ne­ren und mitt­le­ren Kapi­ta­lis­ten selbst. Die­se Expro­pria­ti­on ist der Aus­gangs­punkt der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se; ihre Durch­füh­rung ist ihr Ziel, und zwar in letz­ter Instanz die Expro­pria­ti­on aller ein­zel­nen von den Pro­duk­ti­ons­mit­teln, die mit der Ent­wick­lung der gesell­schaft­li­chen Pro­duk­ti­on auf­hö­ren, Mit­tel der Pri­vat­pro­duk­ti­on und Pro­duk­te der Pri­vat­pro­duk­ti­on zu sein, und die nur noch Pro­duk­ti­ons­mit­tel in der Hand der asso­zi­ier­ten Pro­du­zen­ten, daher ihr gesell­schaft­li­ches Eigen­tum, sein kön­nen, wie sie ihr gesell­schaft­li­ches Pro­dukt sind. Die­se Expro­pria­ti­on stellt sich aber inner­halb des kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems selbst in gegen­sätz­li­cher Gestalt dar, als Aneig­nung des gesell­schaft­li­chen Eigen­tums durch weni­ge; und der Kre­dit gibt die­sen weni­gen immer mehr den Cha­rak­ter rei­ner Glücks­rit­ter. Da das Eigen­tum hier in der Form der Aktie exis­tiert, wird sei­ne Bewe­gung und Über­tra­gung rei­nes Resul­tat des Bör­sen­spiels, wo die klei­nen Fische von den Hai­fi­schen und die Scha­fe von den Bör­sen­wöl­fen ver­schlun­gen wer­den. In dem Akti­en­we­sen exis­tiert schon Gegen­satz gegen die alte Form, wor­in gesell­schaft­li­ches Pro­duk­ti­ons­mit­tel als indi­vi­du­el­les Eigen­tum erscheint; aber die Ver­wand­lung in die der Aktie bleibt selbst noch befan­gen in den kapi­ta­lis­ti­schen Schran­ken; statt daher den Gegen­satz zwi­schen dem Cha­rak­ter des Reich­tums als gesell­schaft­li­cher und als Pri­vat­reich­tum zu über­win­den, bil­det sie ihn nur in neu­er Gestalt aus.

Wenn das Kre­dit­we­sen als Haupt­he­bel der Über­pro­duk­ti­on und Über­spe­ku­la­ti­on im Han­del erscheint, so nur, weil der Repro­duk­ti­ons­pro­zeß, der sei­ner Natur nach elas­tisch ist, hier bis zur äußers­ten Gren­ze for­ciert wird, und zwar des­halb for­ciert wird, weil ein gro­ßer Teil des gesell­schaft­li­chen Kapi­tals von den Nicht­ei­gen­tü­mern des­sel­ben ange­wandt wird, die daher ganz anders ins Zeug gehn als der ängst­lich die Schran­ken sei­nes Pri­vat­ka­pi­tals erwä­gen­de Eigen­tü­mer, soweit er selbst fun­giert. Es tritt damit nur her­vor, daß die auf den gegen­sätz­li­chen Cha­rak­ter der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on gegrün­de­te Ver­wer­tung des Kapi­tals die wirk­li­che, freie Ent­wick­lung nur bis zu einem gewis­sen Punkt erlaubt, also in der Tat eine imma­nen­te Fes­sel und Schran­ke der Pro­duk­ti­on bil­det, die bestän­dig durch das Kre­dit­we­sen durch­bro­chen wird. Das Kre­dit­we­sen beschleu­nigt daher die mate­ri­el­le Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te und die Her­stel­lung des Welt­markts, die als mate­ri­el­le Grund­la­gen der neu­en Pro­duk­ti­ons­form bis auf einen gewis­sen Höhe­grad her­zu­stel­len, die his­to­ri­sche Auf­ga­be der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se ist. Gleich­zei­tig beschleu­nigt der Kre­dit die gewalt­sa­men Aus­brü­che die­ses Wider­spruchs, die Kri­sen, und damit die Ele­men­te der Auf­lö­sung der alten Produktionsweise.

Die dem Kre­dit­sys­tem imma­nen­ten dop­pel­sei­ti­gen Cha­rak­te­re: einer­seits die Trieb­fe­der der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on, Berei­che­rung durch Aus­beu­tung frem­der Arbeit, zum reins­ten und kolos­sals­ten Spiel- und Schwin­del­sys­tem zu ent­wi­ckeln und die Zahl der den gesell­schaft­li­chen Reich­tum aus­beu­ten­den Weni­gen immer mehr zu beschrän­ken; and­rer­seits aber die Über­gangs­form zu einer neu­en Pro­duk­ti­ons­wei­se zu bil­den […].3

Marx mag hier durch sei­ne teleo­lo­gi­schen Ten­den­zen, sei­nen Glau­ben an eine his­to­ri­sche Mis­si­on des Kapi­ta­lis­mus und die Unver­meid­bar­keit des Sozia­lis­mus etwas ein­ge­schränkt sein. Ande­rer­seits war die Ori­en­tie­rung und Berech­nung, wie Klein fest­stellt, eine höchst berech­tig­te Inter­pre­ta­ti­on der Wahr­schein­lich­kei­ten, die dem Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen Kapi­tal und Arbeit zur Zeit von Marx inne­wohn­ten. Die tech­no­lo­gi­schen und tak­ti­schen Fort­schrit­te der Kapi­ta­lis­ten­klas­se im letz­ten Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts haben die Ver­hält­nis­se grund­le­gend ver­än­dert. Auf jeden Fall lie­fert der gute Mate­ria­list Marx eine kris­tall­kla­re und ein­dring­li­che Ana­ly­se, umso mehr, wenn man bedenkt, wie unaus­ge­go­ren die Pro­zes­se waren, die er so tief­grei­fend erfasst hat. Dar­aus geht vor allem her­vor, dass die gemein­sa­men Pro­zes­se der Mono­po­li­sie­rung und der Finan­zia­li­sie­rung nicht mit dem nor­ma­len Funk­tio­nie­ren der kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­se, die den Haupt­ge­gen­stand sei­ner Unter­su­chung bil­den, koexis­tie­ren kön­nen. Er spricht nicht von einer neu­en nicht-sozia­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se – aber er kommt auch nicht auf die Idee, dass der Kapi­ta­lis­mus als herr­schen­de Pro­duk­ti­ons­wei­se auf die­se Wei­se so lan­ge fort­be­stehen kann, wie wir uns das vor­zu­stel­len haben!

Dies ist der ent­schei­den­de Punkt und die Ver­wir­rung des fau­len mecha­ni­schen Dog­ma­tis­mus, der sich auf die Auto­ri­tät von Marx oder Lenin beruft, um die Mög­lich­keit einer alter­na­ti­ven Pro­duk­ti­ons­wei­se, die aus dem Kapi­ta­lis­mus her­vor­geht, aus­zu­schlie­ßen. Auch wenn es für eine sol­che Behaup­tung kei­nen über­zeu­gen­den Prä­ze­denz­fall gibt, steht die Vor­stel­lung, dass der Kapi­ta­lis­mus so lan­ge nach den­sel­ben grund­le­gen­den Geset­zen fort­be­stehen könn­te, in weit­aus grö­ße­rem Wider­spruch zum Geist der Arbei­ten von Marx und Lenin. Es muss auch betont wer­den, dass das, was die herr­schen­de Klas­se momen­tan ver­sucht, extrem ehr­gei­zig und ris­kant ist und sehr wahr­schein­lich schei­tern wird. Es liegt jedoch an uns zu erken­nen, wor­um es sich han­delt und dafür zu sor­gen, dass sie kei­nen Erfolg haben.

Um Lenins Ver­ständ­nis des Impe­ria­lis­mus als not­wen­di­ger und unwi­der­ruf­li­cher Über­gang aus dem Kapi­ta­lis­mus her­aus zu begrün­den, lohnt es sich, eine Rei­he ein­schlä­gi­ger Zita­te anzuführen:

[…] daß pri­vat­wirt­schaft­li­che und Pri­vat­ei­gen­tums­ver­hält­nis­se eine Hül­le dar­stel­len, die dem Inhalt bereits nicht mehr ent­spricht und die daher unver­meid­lich in Fäul­nis über­ge­hen muß, wenn ihre Besei­ti­gung künst­lich ver­zö­gert wird, eine Hül­le, die sich zwar ver­hält­nis­mä­ßig lan­ge in die­sem Fäul­nis­zu­stand hal­ten kann (wenn schlimms­ten­falls die Gesun­dung von dem oppor­tu­nis­ti­schen Geschwür auf sich war­ten las­sen soll­te), die aber den­noch unver­meid­lich besei­tigt wer­den wird.4

In sei­nem impe­ria­lis­ti­schen Sta­di­um führt der Kapi­ta­lis­mus bis dicht an die all­sei­ti­ge Ver­ge­sell­schaf­tung der Pro­duk­ti­on her­an, er zieht die Kapi­ta­lis­ten gewis­ser­ma­ßen ohne ihr Wis­sen und gegen ihren Wil­len in eine Art neue Gesell­schafts­ord­nung hin­ein, die den Über­gang von der völ­lig frei­en Kon­kur­renz zur voll­stän­di­gen Ver­ge­sell­schaf­tung bildet.

Die Pro­duk­ti­on wird ver­ge­sell­schaf­tet, die Aneig­nung jedoch bleibt pri­vat. Die gesell­schaft­li­chen Pro­duk­ti­ons­mit­tel blei­ben Pri­vat­ei­gen­tum einer klei­nen Anzahl von Per­so­nen. Der all­ge­mei­ne Rah­men der for­mal aner­kann­ten frei­en Kon­kur­renz bleibt bestehen, und der Druck der weni­gen Mono­pol­in­ha­ber auf die übri­ge Bevöl­ke­rung wird hun­dert­fach schwe­rer, fühl­ba­rer, uner­träg­li­cher.5

Der alte Kapi­ta­lis­mus hat sich über­lebt. Der neue ist ein Über­gang zu etwas anderem.

Mit ande­ren Wor­ten: Der alte Kapi­ta­lis­mus, der Kapi­ta­lis­mus der frei­en Kon­kur­renz mit der Bör­se als uner­läß­li­chem Regu­la­tor, schwin­det dahin. Er wird von einem neu­en Kapi­ta­lis­mus abge­löst, dem deut­li­che Züge einer Über­gangs­er­schei­nung, einer Misch­form von frei­er Kon­kur­renz und Mono­pol anhaf­ten. Natür­lich drängt sich die Fra­ge auf, in was die­ser neu­es­te Kapi­ta­lis­mus »über­geht«, aber die bür­ger­li­chen Gelehr­ten schre­cken vor die­ser Fra­ge­stel­lung zurück.6

[…] ein Mono­pol, das aus dem Kapi­ta­lis­mus erwach­sen ist und im all­ge­mei­nen Milieu des Kapi­ta­lis­mus, der Waren­pro­duk­ti­on, der Kon­kur­renz, in einem bestän­di­gen und unlös­ba­ren Wider­spruch zu die­sem all­ge­mei­nen Milieu steht. Den­noch erzeugt es, wie jedes ande­re Mono­pol, unver­meid­lich die Ten­denz zur Sta­gna­ti­on und Fäul­nis.7

Zugleich aber besei­ti­gen die Mono­po­le nicht die freie Kon­kur­renz, aus der sie erwach­sen, son­dern bestehen über und neben ihr und erzeu­gen dadurch eine Rei­he beson­ders kras­ser und schrof­fer Wider­sprü­che, Rei­bun­gen und Kon­flik­te. Das Mono­pol ist der Über­gang vom Kapi­ta­lis­mus zu einer höhe­ren Ord­nung.8

Iro­ni­scher­wei­se sehen sich die­je­ni­gen, die die Kern­aus­sa­gen die­ses Auf­sat­zes bestrei­ten, im All­ge­mei­nen auf einer Linie mit Lenins Kri­tik an Kaut­sky. Der Punkt, auf den Lenin in sei­ner Kri­tik an Kaut­sky uner­müd­lich hin­weist, ist jedoch, dass sich der Kapi­ta­lis­mus nicht vom Impe­ria­lis­mus auf eine weni­ger aggres­si­ve Form zurück­zie­hen und so in einer Art rela­tiv sta­bi­lem Zustand ver­har­ren kann. Der Kon­kur­renz­ka­pi­ta­lis­mus unter­gräbt unauf­hör­lich sei­ne eige­nen Vor­aus­set­zun­gen durch Kon­zen­tra­ti­on und Mono­po­li­sie­rung. Es gibt eine kla­re Ten­denz zur Aus­deh­nung des Mono­pols bis hin zur völ­li­gen Abschaf­fung des Wett­be­werbs­ka­pi­ta­lis­mus: »Das kapi­ta­lis­ti­sche Mono­pol wächst aus dem Kapi­ta­lis­mus her­aus, steht aber den­noch in einem stän­di­gen unauf­lös­li­chen Wider­spruch zu die­ser all­ge­mei­nen Umwelt.«9 Keynes selbst bemerk­te bekannt­lich, dass das, was der Kapi­ta­lis­mus brau­che, »die Eutha­na­sie des Ren­tiers« sei.10 Lenin erkennt auch die regres­si­ve, kon­tra­pro­duk­ti­ve Ten­denz des Mono­pols an, bei­spiels­wei­se eine neue Tech­no­lo­gie zu unter­drü­cken, wenn dies ein ein­fa­che­res Mit­tel zur Erhal­tung sei­ner Posi­ti­on darstellt.

Der wesent­li­che Punkt von Marx, der in dem lan­gen Zitat oben wie­der­holt wird und den Den­gis­ten ein Gräu­el ist, ist, dass die kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se an einem bestimm­ten Punkt der Ent­wick­lung zu einer Fes­sel für die Pro­duk­ti­on wer­den. Wie er im drit­ten Band des Kapi­tals betont, ist […] die wah­re Schran­ke der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on […] das Kapi­tal selbst.11 In den Anfangs­sta­di­en des Kapi­ta­lis­mus för­der­te er die immer grö­ße­re Pro­duk­ti­on von nütz­li­chen Din­gen sehr. Nach Marx‹ Ein­schät­zung hat­te er jedoch in Euro­pa Mit­te des 19. Jahr­hun­derts bereits einen Punkt der Regres­si­on erreicht! (So viel dazu, dass die Aus­beu­ter­be­trie­be von Fox­conn für die Ent­wick­lung der Pro­duk­ti­ons­mit­tel uner­läss­lich sei­en.) Bedeut­sam ist jedoch die Beob­ach­tung von Marx, dass bestimm­te Frak­tio­nen der herr­schen­den Klas­se durch das Kre­dit­sys­tem in der Lage waren, die Gren­zen der Pri­vat­pro­duk­ti­on zu über­win­den, ohne ihre Fähig­keit zur (kol­lek­ti­ven) pri­va­ten Aneig­nung des Über­schuss­pro­dukts zu ver­lie­ren – und die­se sogar noch aus­zu­bau­en.

Lenin beob­ach­te­te, ganz ähn­lich wie Marx, wie dies gera­de durch die Finan­zia­li­sie­rung erreicht wurde:

Aus den zer­split­ter­ten Kapi­ta­lis­ten ent­steht ein ein­zi­ger kol­lek­ti­ver Kapi­ta­list. Die Bank, die das Kon­to­kor­rent für bestimm­te Kapi­ta­lis­ten führt, übt schein­bar eine rein tech­ni­sche, eine blo­ße Hilfs­ope­ra­ti­on aus. Sobald aber die­se Ope­ra­ti­on Rie­sen­di­men­sio­nen annimmt, zeigt sich, daß eine Hand­voll Mono­po­lis­ten sich die Han­dels und Indus­trie­ope­ra­tio­nen der gan­zen kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft unter­wirft, indem sie – durch die Bank­ver­bin­dun­gen, Kon­to­kor­ren­te und ande­re Finanz­ope­ra­tio­nen – die Mög­lich­keit erhält, sich zunächst über die Geschäfts­la­ge der ein­zel­nen Kapi­ta­lis­ten genau zu infor­mie­ren, dann sie zu kon­trol­lie­ren, sie durch Erwei­te­rung oder Schmä­le­rung, Erleich­te­rung oder Erschwe­rung des Kre­dits zu beein­flus­sen und schließ­lich ihr Schick­sal rest­los zu bestim­men, die Höhe ihrer Ein­künf­te zu bestim­men, ihnen Kapi­tal zu ent­zie­hen oder ihnen die Mög­lich­keit zu geben, ihr Kapi­tal rasch und in gro­ßem Umfang zu erhö­hen usw.12

Über das gesam­te Kapi­tal hin­durch betont Marx, dass der Kapi­ta­lis­mus zu einer immer stär­ker ver­ge­sell­schaf­te­ten Pro­duk­ti­on führt, nur eben in pri­va­ter Hand: Die mensch­li­che Arbeit wird immer inte­grier­ter, von­ein­an­der abhän­gig und kol­lek­tiv. Und wie sowohl Marx als auch Lenin, stets opti­mis­tisch, beto­nen, legt die­ser Pro­zess die Grund­la­ge für den Sozia­lis­mus, indem er die ursprüng­li­che Ver­bin­dung in den kapi­ta­lis­ti­schen Bezie­hun­gen zwi­schen dem per­sön­li­chen Pri­vat­ei­gen­tum des Kapi­ta­lis­ten (das heißt sein kon­kre­tes Kapi­tal in Form einer Fabrik, eines Unter­neh­mens und so wei­ter) durch­trennt und durch das (begrenz­te) kol­lek­ti­ve Eigen­tum von Pro­duk­ti­ons­mit­tel­zu­sam­men­schlüs­sen von Kapi­ta­lis­ten (also Akti­en­ge­sell­schaf­ten) ersetzt. Die Ten­denz der Finan­zia­li­sie­rung besteht dar­in, dass sich die­se Zusam­men­schlüs­se aus­wei­ten und gegen­sei­tig durch­drin­gen, so dass die gesam­te Kapi­ta­lis­ten­klas­se über ihren Sta­tus als »Kapi­ta­list«, ihren Besitz von Kapi­tal, ihre Ansprü­che auf Inves­ti­tio­nen und ihren Zugang zu Kre­dit­li­ni­en zum gemein­sa­men Eigen­tum am gesam­ten Sozi­al­pro­dukt gelangt. Man sieht also, wie ein­fach es sein müss­te, die­ses kol­lek­ti­ve Eigen­tum am gesam­ten gesell­schaft­li­chen Reich­tum ein­fach an die Gesamt­heit der Pro­du­zen­ten selbst umzuverteilen.

Auch wenn wir theo­re­tisch die Mög­lich­keit in Betracht zie­hen, dass es den asso­zi­ier­ten Pro­du­zen­ten nicht gelingt, die­se sozia­le Kon­trol­le zu ergrei­fen (sprich den Kom­mu­nis­mus zu ver­wirk­li­chen), bleibt die Tat­sa­che bestehen, dass es eine tie­fe dia­lek­ti­sche Ver­bin­dung zwi­schen dem Kom­mu­nis­mus und dem post­ka­pi­ta­lis­ti­schen impe­ria­lis­ti­schen Sys­tem, oder wie auch immer wir es nen­nen wol­len, gibt. Es ist also durch­aus pas­send, dass die Losung des höchs­ten Punk­tes der mensch­li­chen Befrei­ung – des Moments, in dem der Kom­mu­nis­mus von der fort­schritt­lichs­ten Avant­gar­de der Mensch­heit am ehes­ten erreicht wur­de, näm­lich wäh­rend der Gro­ßen Pro­le­ta­ri­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on – gleich­sam die Losung des impe­ria­lis­ti­schen Finanz­ka­pi­tals war und ist: Poli­tik kom­man­diert die Wirt­schaft.

Denn was die oben skiz­zier­ten Pro­zes­se ermög­li­chen und erfor­dern, ist die immer stär­ke­re direk­te, bewuss­te, poli­ti­sche Bestim­mung der Wirt­schaft durch eine immer klei­ne­re Grup­pe von »Insi­dern«. So haben wir, wie Lenin bemerkt, »[…] es nicht mehr mit dem Kon­kur­renz­kampf klei­ner und gro­ßer, tech­nisch rück­stän­di­ger und tech­nisch fort­ge­schrit­te­ner Betrie­be zu tun. Durch die Mono­pol­in­ha­ber wer­den alle die­je­ni­gen abge­würgt, die sich dem Mono­pol, sei­nem Druck, sei­ner Will­kür nicht unter­wer­fen.«13 Fer­ner führt er aus:

Der Kapi­ta­lis­mus ist so weit ent­wi­ckelt, daß die Waren­pro­duk­ti­on, obwohl sie nach wie vor ›herrscht‹ und als Grund­la­ge der gesam­ten Wirt­schaft gilt, in Wirk­lich­keit bereits unter­gra­ben ist und die Haupt­pro­fi­te den ›Genies‹ der Finanz­ma­chen­schaf­ten zufal­len. Die­sen Machen­schaf­ten und Schwin­de­lei­en liegt die Ver­ge­sell­schaf­tung der Pro­duk­ti­on zugrun­de, aber der gewal­ti­ge Fort­schritt der Mensch­heit, die sich bis zu die­ser Ver­ge­sell­schaf­tung empor­ge­ar­bei­tet hat, kommt den – Spe­ku­lan­ten zugu­te.14

Lenin brach­te die­se Ent­wick­lun­gen außer­dem direkt mit dem ent­ste­hen­den mili­tä­risch-indus­tri­el­len Kom­plex in Ver­bin­dung und stell­te fest:

Das Finanz­ka­pi­tal erzeug­te die Epo­che der Mono­po­le. Die Mono­po­le sind aber über­all Trä­ger mono­po­lis­ti­scher Prin­zi­pen: An Stel­le der Kon­kur­renz auf offe­nem Markt tritt die Aus­nut­zung der ›Ver­bin­dun­gen‹ zum Zweck eines pro­fi­ta­blen Geschäf­tes. Die gewöhn­lichs­te Erschei­nung ist: Bei einer Anlei­he wird zur Bedin­gung gemacht, daß ein Teil der Anlei­he zum Kauf von Erzeug­nis­sen des kre­dit­ge­ben­den Lan­des, vor allem von Waf­fen, Schif­fen usw. ver­aus­gabt wird. Frank­reich hat in den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten (1890 – 1910) sehr oft zu die­sem Mit­tel gegrif­fen.15

Wir sehen hier nichts ande­res als die schritt­wei­se Dik­ta­tur des impe­ria­lis­ti­schen Finanz­ka­pi­tals über den gesam­ten Staat und die Wirt­schaft. Die­se wird, wie Marx oben beton­te, nicht nur gegen die Arbei­ter, son­dern schritt­wei­se gegen alle ande­ren Schich­ten aus­ge­übt: »Die Expro­pria­ti­on erstreckt sich hier von den unmit­tel­ba­ren Pro­du­zen­ten auf die klei­ne­ren und mitt­le­ren Kapi­ta­lis­ten selbst. Die­se Expro­pria­ti­on ist der Aus­gangs­punkt der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se; ihre Durch­füh­rung ist ihr Ziel, und zwar in letz­ter Instanz die Expro­pria­ti­on aller ein­zel­nen von den Pro­duk­ti­ons­mit­teln […]«. Wich­tig ist hier auch, wie Marx betont, dass der Kapi­ta­lis­mus durch die­sen Pro­zess nicht nur sei­ne struk­tu­rel­len öko­no­mi­schen Grund­la­gen abschafft, son­dern auch sei­ne mora­lisch-his­to­ri­sche Legi­ti­ma­ti­on: das Risiko.

Der wesent­li­che Eck­pfei­ler der kapi­ta­lis­ti­schen Ideo­lo­gie, der wirk­sams­te und ver­füh­re­rischs­te Vor­wand, mit dem das Kapi­tal tra­di­tio­nell sei­ne Aneig­nung des Mehr­werts von den Arbei­tern ver­schlei­ert hat, ist das Risi­ko. Die Pries­ter-Wis­sen­schaft­ler des Kapi­ta­lis­mus, die (Polit-)Ökonomen, haben lan­ge Zeit behaup­tet, dass der Kapi­ta­list sein eige­nes Pri­vat­ei­gen­tum, das er durch edlen Kon­sum­ver­zicht erwor­ben habe, ris­kiert, wenn er ein kapi­ta­lis­ti­sches Unter­neh­men ein­geht. Dies beruh­te auf einem Kern von Wahr­heit. In dem Gleich­ge­wicht von Klas­sen­macht und struk­tu­rie­ren­den Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­sen, das wir Kapi­ta­lis­mus nen­nen, muss­ten die ein­zel­nen Kapi­ta­lis­ten Risi­ken ein­ge­hen. Sie muss­ten – oft mit begrenz­ten Infor­ma­tio­nen über die Zukunft – vor­her­sa­gen, dass es einen Ver­brau­cher­markt für ein bestimm­tes Pro­dukt geben wür­de. Sie muss­ten ihr eige­nes Kapi­tal in alle Pro­duk­ti­ons­mit­tel inves­tie­ren, die zur Her­stel­lung die­ses Pro­dukts erfor­der­lich waren, bevor sie es über­haupt auf den Markt brin­gen konn­ten. Und natür­lich ris­kier­ten sie die sehr rea­le Mög­lich­keit, dass zu dem Zeit­punkt, zu dem sie das Pro­dukt auf den Markt brach­ten, die erwar­te­te Nach­fra­ge nicht vor­han­den sein wür­de. Das heißt, sie ris­kier­ten in der Tat ihren Sta­tus als Kapi­ta­lis­ten – denn wenn sie sich wirk­lich ver­kal­ku­liert hat­ten, stan­den sie mög­li­cher­wei­se ohne wei­te­res Kapi­tal da, um es noch ein­mal zu ver­su­chen – oder schlim­mer noch, mit weni­ger als nichts, näm­lich mit einem Ticket ins Schuld­ner­ge­fäng­nis. Der Kapi­ta­lis­mus ist aus einer Situa­ti­on her­aus ent­stan­den, in der bestimm­te Indi­vi­du­en (die­je­ni­gen, die zu Kapi­ta­lis­ten wur­den) die Mög­lich­keit hat­ten, auf die­se Wei­se Macht zu erlan­gen – und nicht auf eine ande­re. Sie konn­ten sich nicht ein­fach selbst dazu brin­gen, Aris­to­kra­ten zu wer­den – sie hät­ten es getan, wenn sie es gekonnt hät­ten, frei nach Marx’ berühm­tem Dik­tum: »Die Men­schen machen ihre eige­ne Geschich­te, aber sie machen sie nicht aus frei­en Stü­cken, nicht unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter unmit­tel­bar vor­ge­fun­de­nen, gege­be­nen und über­lie­fer­ten Umstän­den.«16

Dies ist viel­leicht ein guter Punkt, um auf eine schwer­wie­gen­de Abwei­chung hin­zu­wei­sen, die sich in der bild­schirm­ge­schä­dig­ten soi-dis­ant »Lin­ken« her­aus­ge­bil­det hat. Es han­delt sich um den Kate­go­rien­feh­ler, Begrif­fe wie »Sozia­list« oder »Kom­mu­nist« so zu behan­deln, als hät­ten sie eine ähn­li­che Bedeu­tung oder Ver­wen­dung wie der Begriff »Kapi­ta­list«. Ers­te­re bezeich­nen eine poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Zuge­hö­rig­keit und Aus­rich­tung; letz­te­re bezeich­nen zumin­dest grund­sätz­lich und in der Art, wie sie von Marx ver­wen­det wer­den, eine Posi­ti­on in einem Ver­hält­nis, das heißt jeman­den, der Kapi­tal besitzt, der sei­nen Reich­tum aus kapi­ta­lis­ti­schen Unter­neh­mun­gen bezieht. Er hat über­haupt nichts mit der sub­jek­ti­ven ideo­lo­gi­schen Ori­en­tie­rung zu tun. Es gibt tra­gi­scher­wei­se viel mehr Men­schen als es wirk­li­che Kapi­ta­lis­ten gibt, die dazu ver­lei­tet wur­den, an etwas zu glau­ben und zu unter­stüt­zen, das sie »Kapi­ta­lis­mus« nen­nen. Ande­rer­seits haben vie­le, wenn nicht sogar die meis­ten tat­säch­li­chen Kapi­ta­lis­ten nicht nur kei­ne beson­de­re per­sön­li­che Bin­dung an den Kapi­ta­lis­mus per se, son­dern suchen sogar aktiv nach siche­re­ren und sta­bi­le­ren For­men der Aus­beu­tung, wann immer sie ver­füg­bar sind. Ein Kapi­ta­list zu sein bedeu­tet schließ­lich, eine der unsi­chers­ten und unbe­stän­digs­ten Posi­tio­nen der herr­schen­den Klas­se in der lan­gen Geschich­te der Klas­sen­ge­sell­schaft zu besetzen.

His­to­risch gese­hen wis­sen wir, dass das real exis­tie­ren­de Kapi­tal schon immer all­er­gisch auf Risi­ken reagiert hat: Wann immer es mög­lich war, flüch­te­te das Kapi­tal in jede Form von Ren­te oder direk­ter Ent­eig­nung. Und intern, inner­halb der Dyna­mik des all­ge­mei­nen kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems, über die Mecha­nis­men des Finanz­we­sens, haben die domi­nan­tes­ten, mäch­tigs­ten Kapi­ta­le stets auf die Unter­ord­nung ande­rer, schwä­che­rer Kapi­ta­le gesetzt, auf Plün­de­rung, Ver­skla­vung, Dieb­stahl, Betrug und so fort. Daher noch ein­mal aus obi­gem Mar­x­zi­tat, in dem fol­gen­des betont wird:

Alle Maß­stä­be, alle mehr oder min­der inner­halb der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se noch berech­tig­ten Expli­ka­ti­ons­grün­de ver­schwin­den hier. Was der spe­ku­lie­ren­de Groß­händ­ler ris­kiert, ist gesell­schaft­li­ches, nicht sein Eigen­tum. Eben­so abge­schmackt wird die Phra­se vom Ursprung des Kapi­tals aus der Erspa­rung, da jener gera­de ver­langt, daß and­re für ihn spa­ren sol­len. Der and­ren Phra­se von der Ent­sa­gung schlägt sein Luxus, der nun auch selbst Kre­dit­mit­tel wird, direkt ins Gesicht. Vor­stel­lun­gen, die auf einer min­der ent­wi­ckel­ten Stu­fe der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­on noch einen Sinn haben, wer­den hier völ­lig sinn­los. Das Gelin­gen und Miß­lin­gen füh­ren hier gleich­zei­tig zur Zen­tra­li­sa­ti­on der Kapi­ta­le und daher zur Expro­pria­ti­on auf der enorms­ten Stufenleiter.

Marx deu­tet hier nichts Gerin­ge­res an als das, was die tri­um­phie­ren­de herr­schen­de Klas­se in den letz­ten drei Jahr­zehn­ten immer osten­ta­ti­ver vor­ge­führt hat: »too big to fail«, die Ver­ge­sell­schaf­tung allen Risi­kos, die Pri­va­ti­sie­rung allen Pro­fits. Die Kon­zen­tra­ti­on von finan­zi­el­lem Reich­tum, poli­ti­scher Macht und Infor­ma­tio­nen macht »Spe­ku­la­ti­on« zu einer fal­schen Bezeich­nung für eine »spe­ku­la­ti­ve« Klas­se, die mit­tels der durch ihre schie­re Grö­ßen­ord­nung ermög­lich­ten Mani­pu­la­ti­on die aktivs­te aller Kräf­te bei der Gestal­tung der Wirt­schaft ist. Das ist die Sub­li­mie­rung des Kapi­ta­lis­mus, die Umwand­lung des Groß­bür­ger­tums in eine Kas­te mit direk­ter poli­ti­scher Kon­trol­le über die gesam­te gesell­schaft­li­che Pro­duk­ti­on und Repro­duk­ti­on. Es muss immer wie­der betont wer­den, dass eine sol­che Ent­wick­lung nichts ande­res als ein rie­si­ges Netz von Ver­schwö­run­gen erschei­nen muss. Das ist genau das, was Lenin beschrie­ben hat: »Poli­ti­sche Reak­ti­on auf der gan­zen Linie ist eine Eigen­schaft des Impe­ria­lis­mus. Kor­rup­ti­on, Bestechung im Rie­sen­aus­maß, Pana­ma­skan­da­le jeder Art.«17

Nach­dem wir nun die theo­re­ti­schen Grund­la­gen geschaf­fen haben, die Marx und Lenin für das Ver­ständ­nis der Fra­ge gelegt haben, wie und war­um sich der kapi­ta­lis­ti­sche Impe­ria­lis­mus unter bestimm­ten Bedin­gun­gen zu einer grund­le­gend ande­ren Pro­duk­ti­ons­wei­se ent­wi­ckeln konn­te, müs­sen wir zu den his­to­ri­schen Auf­zeich­nun­gen zurück­keh­ren und die Bewei­se dafür prü­fen, ob eine sol­che Wen­dung tat­säch­lich ein­ge­tre­ten ist. Zunächst müs­sen wir jedoch jene Art von »Ultra­im­pe­ria­lis­mus« erläu­tern, für die wir hier nicht plädieren.

3.1 Vul­gä­rer »Mul­ti­po­la­ris­mus« ist der wah­re moder­ne Kautskyismus

Um zu ver­ste­hen, wie und war­um sich der impe­ria­lis­ti­sche Kapi­ta­lis­mus zu so etwas wie dem Ultra­im­pe­ria­lis­mus ent­wi­ckeln konn­te, müs­sen wir kurz die Grün­de unter­su­chen, die Lenin dazu bewo­gen haben, Kaut­skys Ideen in sei­nem eige­nen his­to­ri­schen Kon­text kor­rek­ter­wei­se abzu­leh­nen. Lenin fin­det in Kaut­sky nicht nur eine, son­dern zwei schein­bar dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setz­te Vari­an­ten des Revi­sio­nis­mus. Auf der einen Sei­te gibt es die Idee, dass der Impe­ria­lis­mus eine bevor­zug­te, aber nicht not­wen­di­ge Stra­te­gie des Kapi­tals sei. Das bedeu­tet, dass man sich dem Impe­ria­lis­mus ent­ge­gen­stel­len und wider­ste­hen kann, ohne den Kapi­ta­lis­mus per se zu bekämp­fen. Die ideo­lo­gi­sche Basis für die­se Abwei­chung sind die Klein­bür­ger, die selbst vom impe­ria­lis­ti­schen Finanz­ka­pi­tal aus­ge­presst wer­den und ger­ne zu einer hei­te­ren Ver­gan­gen­heit zurück­keh­ren wür­den. Wie oben erör­tert, zeigt Lenin rich­tig auf, dass der Kapi­ta­lis­mus unwei­ger­lich die Bedin­gun­gen her­vor­bringt, die Finan­zia­li­sie­rung, Mono­po­le und Impe­ria­lis­mus her­vor­brin­gen: Jede Hoff­nung, die Uhr zurück­dre­hen zu kön­nen, ist rei­ne Nai­vi­tät, ein »from­mer Wunsch«. Schlim­mer noch, sie ver­lei­tet die Arbei­ter dazu, sich den ver­geb­li­chen refor­mis­ti­schen Füh­rern der Klein­bour­geoi­sie unterzuordnen.

Ande­rer­seits ver­trat Kaut­sky auch die Idee, dass der Impe­ria­lis­mus letzt­lich ein fort­schritt­li­cher Schritt auf dem Weg zum welt­wei­ten Kom­mu­nis­mus sein könn­te. Der schein­bar gro­ße Wider­spruch zwi­schen die­sen bei­den Abwei­chun­gen wird deut­lich, wenn man den his­to­ri­schen Kon­text des Refor­mis­mus ver­steht, des­sen Haupt­ver­fech­ter Kaut­sky war. In dem Milieu, in dem die­se Debat­te statt­fand, war eine der drän­gends­ten Fra­gen die nach einer Art von Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa. Lenin selbst hat­te 1915 für ein sol­ches Kon­zept als Zwi­schen­sta­di­um der anti­mon­ar­chi­schen, demo­kra­ti­schen Revo­lu­tio­nen in ver­schie­de­nen Staa­ten Euro­pas gewor­ben. Lenin erreich­te nach ernst­haf­ten Bera­tun­gen mit ande­ren Bol­sche­wi­ki, dass sei­ne eige­ne dies­be­züg­li­che Losung auf der Ber­ner Kon­fe­renz der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­par­tei Russ­lands im Februar/​März 1915 zurück­ge­zo­gen wur­de. Er kam zu der Über­zeu­gung, dass sei­ne Posi­ti­on »ein­sei­tig poli­tisch« war und dass die wirt­schaft­li­chen Fak­to­ren in der Par­tei­pres­se erör­tert wer­den müss­ten. Trotz­ki sei­ner­seits lieb­äu­gel­te, was nicht über­rascht, mit einer schäd­lich chau­vi­nis­ti­schen Ver­si­on die­ser Idee. Ohne sich im Unkraut zu ver­lie­ren, war die wesent­li­che Gefahr, die Lenin in die­ser Hin­sicht in Kaut­sky sah, genau die Idee des Ultra­im­pe­ria­lis­mus als poten­zi­el­ler Aus­druck einer inter­nen (sozi­al­de­mo­kra­ti­schen) Reform der exter­nen kapi­ta­lis­tisch-impe­ria­lis­ti­schen Politik.

Die ent­spre­chen­de Gefahr besteht dar­in, dass die Arbei­ter­klas­se zur Pas­si­vi­tät oder sogar zur Zusam­men­ar­beit mit dem Pro­gramm der herr­schen­den Klas­se – in die­sem Fall so etwas wie die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa – ver­lei­tet wird, in dem Glau­ben, dass der inter­ne refor­mis­ti­sche Kampf sie fort­schritt­lich machen könn­te. Bei­de Abwei­chun­gen rüh­ren in der Tat von dem grund­le­gen­den theo­re­ti­schen Ver­sa­gen her, den inne­ren Zusam­men­hang zwi­schen Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus und Impe­ria­lis­mus zu begrei­fen sowie von dem Behar­ren dar­auf, dass letz­te­rer nur eine poli­ti­sche Opti­on unter vie­len sei, die die Mono­po­lis­ten wäh­len könn­ten. Im Rah­men die­ses Bei­trags lohnt es sich, deut­lich zu machen, dass der grund­le­gen­de Feh­ler von Kaut­skys Theo­rie des Ultra­im­pe­ria­lis­mus in der Vor­stel­lung besteht, dass der Impe­ria­lis­mus eine poli­ti­sche Ent­schei­dung sei. Im Gegen­satz dazu lau­tet die Kern­aus­sa­ge die­ses Bei­trags, dass der Impe­ria­lis­mus jene Umstän­de bezeich­net, unter denen die Gesamt­heit der kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­se grund­sätz­lich einer Art bewuss­ter Steue­rung und Kon­trol­le unter­ge­ord­net ist, die durch­aus als »poli­tisch« ver­stan­den wer­den kann – die aber den Impe­ria­lis­mus not­wen­dig nach sich zieht.

Die moder­ne Form die­ser Form des Revi­sio­nis­mus ist in der Tat kein »Ultra­im­pe­ria­lis­mus«, der im Sin­ne Kaut­skys ohne­hin kaum irgend­wo befür­wor­tet wird, jedoch in einem nicht-kaut­skya­ni­schen Sin­ne wich­ti­gen Wahr­hei­ten nahe kommt. In der Tat sind die bei­den gefähr­lichs­ten Vari­an­ten des Kaut­sky­schen Impe­ria­lis­mus heu­te: 1) Libe­ra­ler Men­schen­rechts­im­pe­ria­lis­mus und 2) Pseu­do-Dis­si­den­ten-Mul­ti­po­la­ris­mus. Der ers­te ist ziem­lich offen­sicht­lich, selbst die schlimms­ten Mar­xis­ten sind weit­ge­hend dage­gen abge­här­tet, und nie­mand, der dar­auf her­ein­fällt, ist den Auf­wand einer Erlö­sung wert. Der zwei­te ist jedoch sub­ti­ler und gehört wahr­schein­lich zu den schäd­lichs­ten, auch weil er sich oft aus­drück­lich in direk­tem Wider­spruch zu einem ahis­to­ri­schen, kari­ka­tur­haf­ten Bild des »Kaut­sky­is­mus« positioniert.

Wenn wir uns jedoch anse­hen, was die mul­ti­po­la­re Stra­te­gie wirk­lich bedeu­tet, sind die Par­al­le­len offen­sicht­lich. Die Haupt­ge­fahr, die Lenin in Kaut­skys Theo­rie des Ultra­im­pe­ria­lis­mus sah, bestand dar­in, dass die Arbei­ter zur Pas­si­vi­tät ver­lei­tet wür­den und sich einem Teil der »guten« refor­mis­ti­schen Bour­geoi­sie anschlie­ßen wür­den, die das kapi­ta­lis­ti­sche Welt­sys­tem intakt hal­ten wür­de, aber in einer net­te­ren, freund­schaft­li­che­ren Art und Wei­se, wodurch die Bedin­gun­gen für den end­gül­ti­gen Kampf zum Sozia­lis­mus geschaf­fen wür­den. Unter­schei­det sich die­ses Bild wirk­lich wesent­lich von dem, das die­je­ni­gen inspi­riert, die ihr Ver­trau­en in Xi oder Putin oder Duter­te oder Lula und ande­re set­zen? Das sind alles kaum unter­scheid­ba­re Vari­an­ten des­sel­ben gif­ti­gen Mythos: dass eini­ge gute Impe­ria­lis­ten (und sie sind alle Impe­ria­lis­ten) die Umstän­de der glo­ba­len Bar­ba­rei mil­dern oder abschwä­chen oder erleich­tern könn­ten, um dem Sozia­lis­mus eine bes­se­re Chan­ce zu geben. Und die­ser Mythos hat genau die glei­chen Fol­gen, die Lenin so scharf­sin­nig vor­aus­sah und bekämpf­te: poli­ti­sche Pas­si­vi­tät und – nach­dem die Betro­ge­nen unwei­ger­lich ver­brannt wer­den – Nai­vi­tät, Nihi­lis­mus, Unter­wer­fung und Nie­der­la­ge. Dies ist der Kaut­sky­is­mus heute.

3.2 Impe­ria­lis­mus im und nach dem Zwei­ten Weltkrieg

Um die his­to­ri­schen Bedin­gun­gen zu ver­ste­hen, die das moder­ne impe­ria­lis­ti­sche Sys­tem als eine qua­li­ta­tiv ande­re Pro­duk­ti­ons­wei­se her­vor­ge­bracht haben, soll­ten wir kurz dar­auf ein­ge­hen, inwie­weit Lenin sehr wohl eine Form des »Ultra­im­pe­ria­lis­mus« in Erwä­gung gezo­gen hat und war­um er sie letzt­lich ablehnte:

Man neh­me Indi­en, Indo­chi­na und Chi­na. Bekannt­lich wer­den die­se drei kolo­nia­len und halb­ko­lo­nia­len Län­der mit einer Bevöl­ke­rung von 600 – 700 Mil­lio­nen Men­schen vom Finanz­ka­pi­tal eini­ger impe­ria­lis­ti­scher Mäch­te – Eng­lands, Frank­reichs, Japans, der Ver­ei­nig­ten Staa­ten usw. – aus­ge­beu­tet. Ange­nom­men, die­se impe­ria­lis­ti­schen Staa­ten schlös­sen Bünd­nis­se, ein Bünd­nis gegen ein ande­res, um ihren Besitz, ihre Inter­es­sen und ›Ein­fluß­sphä­ren‹ in den genann­ten asia­ti­schen Staa­ten zu behaup­ten oder aus­zu­deh­nen. Das wären ›inter­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ oder ›ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ Bünd­nis­se. Ange­nom­men, sämt­li­che impe­ria­lis­ti­schen Mäch­te schlös­sen ein Bünd­nis zur ›fried­li­chen‹ Auf­tei­lung der genann­ten asia­ti­schen Län­der – das wäre ein ›inter­na­tio­nal ver­bün­de­tes Finanz­ka­pi­tal‹. Es gibt in der Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts fak­ti­sche Bei­spie­le eines der­ar­ti­gen Bünd­nis­ses, z.B. im Ver­hal­ten der Mäch­te zu Chi­na. Es fragt sich nun, ist die Annah­me ›denk­bar‹, daß beim Fort­be­stehen des Kapi­ta­lis­mus (und die­se Bedin­gung setzt Kaut­sky gera­de vor­aus) sol­che Bünd­nis­se nicht kurz­le­big wären, daß sie Rei­bun­gen, Kon­flik­te und Kampf in jed­we­den und allen mög­li­chen For­men aus­schlie­ßen würden?

Es genügt, die­se Fra­ge klar zu stel­len, um sie nicht anders als mit Nein zu beant­wor­ten. Denn unter dem Kapi­ta­lis­mus ist für die Auf­tei­lung der Inter­es­sen- und Ein­fluß­sphä­ren, der Kolo­nien usw. eine ande­re Grund­la­ge als die Stär­ke der dar­an Betei­lig­ten, ihre all­ge­mein­wirt­schaft­li­che, finan­zi­el­le, mili­tä­ri­sche und sons­ti­ge Stär­ke, nicht denk­bar. Die Stär­ke der Betei­lig­ten aber ändert sich ungleich­mä­ßig, denn eine gleich­mä­ßi­ge Ent­wick­lung der ein­zel­nen Unter­neh­mun­gen. Trusts, Indus­trie­zwei­ge und Län­der kann es unter dem Kapi­ta­lis­mus nicht geben. Vor einem hal­ben Jahr­hun­dert war Deutsch­land, wenn man sei­ne kapi­ta­lis­ti­sche Macht mit der des dama­li­gen Eng­lands ver­gleicht, eine kläg­li­che Null; eben­so Japan im Ver­gleich zu Ruß­land. Ist die Annah­me ›denk­bar‹, daß das Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen den impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten nach zehn, zwan­zig Jah­ren unver­än­dert geblie­ben sein wird? Das ist abso­lut undenkbar.

›Inter­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ oder ›ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche‹ Bünd­nis­se sind daher in der kapi­ta­lis­ti­schen Wirk­lich­keit, und nicht in der bana­len Spie­ßer­phan­ta­sie eng­li­scher Pfaf­fen oder des deut­schen ›Mar­xis­ten‹ Kaut­sky, not­wen­di­ger­wei­se nur ›Atem­pau­sen‹ zwi­schen Krie­gen – gleich­viel, in wel­cher Form die­se Bünd­nis­se geschlos­sen wer­den, ob in der Form einer impe­ria­lis­ti­schen Koali­ti­on gegen eine ande­re impe­ria­lis­ti­sche Koali­ti­on oder in der Form eines all­ge­mei­nen Bünd­nis­ses aller impe­ria­lis­ti­schen Mäch­te. Fried­li­che Bünd­nis­se berei­ten Krie­ge vor und wach­sen ihrer­seits aus Krie­gen her­vor, bedin­gen sich gegen­sei­tig, erzeu­gen einen Wech­sel der For­men fried­li­chen und nicht fried­li­chen Kamp­fes auf ein und dem­sel­ben Boden impe­ria­lis­ti­scher Zusam­men­hän­ge und Wech­sel­be­zie­hun­gen der Welt­wirt­schaft und der Welt­po­li­tik. Der neun­mal­wei­se Kaut­sky aber trennt, um die Arbei­ter zu beschwich­ti­gen und sie mit den zur Bour­geoi­sie über­ge­gan­ge­nen Sozi­al­chau­vi­nis­ten aus­zu­söh­nen, ein Glied der ein­heit­li­chen Ket­te von dem ande­ren, trennt das heu­ti­ge fried­li­che (und ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche, ja sogar ultra-ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche) Bünd­nis aller Mäch­te zur ›Befrie­dung‹ Chi­nas (man den­ke an die Nie­der­wer­fung des Boxer­auf­stands) von dem mor­gi­gen nicht fried­li­chen Kon­flikt, der über­mor­gen wie­der­um ein ›fried­li­ches‹ all­ge­mei­nes Bünd­nis zur Auf­tei­lung, sagen wir, der Tür­kei vor­be­rei­tet, usw. usf. Statt des leben­di­gen Zusam­men­hangs zwi­schen den Peri­oden des impe­ria­lis­ti­schen Frie­dens und den Peri­oden impe­ria­lis­ti­scher Krie­ge prä­sen­tiert Kaut­sky den Arbei­tern eine tote Abs­trak­ti­on, um sie mit ihren töten Füh­rern aus­zu­söh­nen.18

Zunächst ein­mal ist es inter­es­sant und bezeich­nend, dass eine von Lenin aner­kann­te »ultra-ultra-impe­ria­lis­ti­sche« Alli­anz gera­de als Reak­ti­on auf eine radi­ka­le, ega­li­tä­re, anti­ko­lo­nia­le Revo­lu­ti­on – näm­lich den Boxer­auf­stand – ent­stan­den ist. Inter­es­sant ist auch, dass Lenin sein Argu­ment mit dem Vor­be­halt »unter der Vor­aus­set­zung, dass das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem intakt bleibt« rela­ti­viert, obwohl wir behaup­ten, dass sich sein grund­le­gen­der Cha­rak­ter in einem bedeu­ten­den Sin­ne ver­än­dert hat. Schließ­lich müs­sen wir den Kern von Lenins Argu­ment wirk­lich bewer­ten und prü­fen, ob es tat­säch­lich zutrifft.

Lenin behaup­tet zu Recht, dass die Dyna­mik des Kapi­ta­lis­mus zu einem sich stän­dig ver­schie­ben­den Kräf­te­gleich­ge­wicht zwi­schen den gro­ßen impe­ria­lis­ti­schen Mäch­ten oder – bes­ser gesagt – ihren domi­nie­ren­den Kar­tel­len, füh­ren wird. Die mäch­ti­ge­ren Kar­tel­le wer­den eine Neu­auf­tei­lung der Ein­fluss­sphä­ren for­dern und die­se durch Krieg erzwin­gen. Kein ultra-impe­ria­lis­ti­sches Bünd­nis kann also auf Dau­er Bestand haben. Aber ist das wirk­lich sicher? Ist es nicht mög­lich, dass die über­le­ben­den Kapi­ta­lis­ten nach zwei gewal­ti­gen zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Erschüt­te­run­gen des 21. Jahr­hun­derts, die zwei gewal­ti­ge Revo­lu­ti­ons­wel­len ermög­lich­ten, nicht irgend­ei­nen Weg fin­den konn­ten, um ihre Dif­fe­ren­zen beizulegen?

Natür­lich muss jede Dar­stel­lung des Welt­sys­tems nach dem Zwei­ten Welt­krieg davon aus­ge­hen, dass dies der Fall ist, denn mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert lang haben die impe­ria­lis­ti­schen Groß­mäch­te einen grö­ße­ren zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flikt erfolg­reich ver­mie­den. Die Fra­ge ist also nicht, ob, son­dern wie ein dau­er­haf­ter zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­scher Frie­den zustan­de gekom­men ist – und vor allem, unter wel­chen Bedin­gun­gen für die betrof­fe­nen Par­tei­en. Auch wenn wich­ti­ge Details im Ver­bor­ge­nen blei­ben, so sind die Grund­zü­ge doch offen­sicht­lich und wer­den von den meis­ten in gro­ben Zügen ver­stan­den, wenn auch nicht immer in ihrer gan­zen Bedeu­tung. Eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung die­ses Pro­zes­ses wür­de den Rah­men die­ses Bei­trags bei wei­tem spren­gen. Hier geht es vor allem dar­um, The­men ans Licht zu brin­gen, die von vie­len Mar­xis­ten igno­riert oder unter­schätzt wer­den, obwohl sie für das Ver­ständ­nis unse­rer gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on wesent­lich sind.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wur­den die ver­blie­be­nen kapi­ta­lis­ti­schen Mäch­te zu einem rela­tiv fried­li­chen Block unter der Füh­rung und Vor­herr­schaft der USA zusam­men­ge­schlos­sen. Japan und West­eu­ro­pa bil­de­ten dabei bedeu­ten­de Satra­pen (die Tria­de in Amins Ter­mi­no­lo­gie). Was ist die rich­ti­ge Bezeich­nung für die USA und das Arran­ge­ment, das sie unter die­sen Umstän­den auf­ge­baut haben? Ultra-impe­ria­lis­tisch? Super­im­pe­ria­lis­tisch? Die latei­ni­sche Vor­sil­be ist nicht sehr wich­tig, aber die Tat­sa­che ihrer bei­spiel­lo­sen Vor­herr­schaft über den kapi­ta­lis­ti­schen Block steht außer Fra­ge. Auf brei­ter, makro­öko­no­mi­scher Ebe­ne nahm dies die Form des Bret­ton-Woods-Sys­tems an. Iro­ni­scher­wei­se wur­de es von sei­nen Orga­ni­sa­to­ren als eine wahr­haft kaut­skya­ni­sche, ultra­im­pe­ria­lis­ti­sche Fan­ta­sie kon­zi­piert, die spe­zi­ell dar­auf abziel­te, den Impe­ria­lis­mus und die Finan­zia­li­sie­rung im Inter­es­se des Kapi­ta­lis­mus ein­zu­schrän­ken. Keynes hat­te schließ­lich ein fei­nes Gespür für die Ten­denz der Finan­zia­li­sie­rung, ihre eige­ne kapi­ta­lis­ti­sche Basis zu unter­gra­ben, wie aus sei­nen Bemer­kun­gen über die Not­wen­dig­keit nied­ri­ger Zins­sät­ze her­vor­geht, um die »Eutha­na­sie des Ren­tiers« zu bewir­ken. Es lohnt sich nicht, hier die wich­tigs­ten Ten­den­zen der inter­na­tio­na­len poli­ti­schen Öko­no­mie aus die­ser Zeit durch­zu­ge­hen; sie sind von Amin gut doku­men­tiert und von der Genos­sin Yana in ihrem Arti­kel »Impe­ria­lis­mus und die Spal­tung der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung« sehr kom­pe­tent ver­tei­digt wor­den. Auf jeden Fall wer­den wir auf die­ses The­ma in unse­rer Dis­kus­si­on über die Arbei­ter­aris­to­kra­tie wei­ter unten zurückkommen.

Es ist auch zwei­fel­haft, dass wir hier auf die direk­te­ren Mit­tel ein­ge­hen müs­sen, mit denen die USA ihre Juni­or­part­ner oft zum Nach­teil der letz­te­ren zuneh­mend unter­ord­ne­ten. Die Lis­te der öffent­li­chen und pri­va­ten Orga­ni­sa­tio­nen, durch die dies erreicht wur­de, ist bekannt und wird selbst in sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Krei­sen kaum noch geleug­net: Mar­shall-Plan, NATO, SEA­TO, Tri­la­te­ra­le Kom­mis­si­on, Bil­der­berg-Grup­pe, Welt­wirt­schafts­fo­rum, Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on und so wei­ter – obwohl wich­ti­ge ver­deck­te Aspek­te die­ses Pro­zes­ses im Hin­blick auf die Wie­der­ein­glie­de­rung und Ver­fei­ne­rung der faschis­ti­schen Macht­ar­chi­tek­tur der japa­ni­schen Mili­ta­ris­ten und der Nazis (ins­be­son­de­re über die jewei­li­gen Orga­ni­sa­tio­nen von Bohr­mann und Geh­len) mehr Auf­merk­sam­keit ver­die­nen, als sie oft erhal­ten. Das Wie­der­erstar­ken der euro­päi­schen faschis­ti­schen Kräf­te im Diens­te der Unter­ord­nung Euro­pas unter ein grö­ße­res, anti­kom­mu­nis­ti­sches/ul­tra-impe­ria­lis­ti­sches Pro­gramm, ins­be­son­de­re aller poten­zi­ell rebel­li­schen Tei­le der Arbei­ter­klas­se, wur­de von Danie­le Gan­ser in NATO-Geheim­ar­meen in Euro­pa gut beschrie­ben. Wie Alfred W. McCoy in sei­nem grund­le­gen­den Werk The Poli­tics of Hero­in in Sou­the­ast Asia (Die Poli­tik des Hero­ins in Süd­ost­asi­en) minu­ti­ös doku­men­tiert hat, führ­ten die Erfor­der­nis­se des Zwei­ten Welt­kriegs zu einer nahe­zu voll­stän­di­gen Inte­gra­ti­on der gro­ßen Netz­wer­ke des orga­ni­sier­ten Ver­bre­chens unter der direk­ten Mono­pol­kon­trol­le des ame­ri­ka­ni­schen Geheimdienstapparats.

In der Tat ist es eine unver­meid­li­che logi­sche Kon­se­quenz unse­rer gegen­wär­ti­gen geo­po­li­ti­schen Ord­nung, dass jeder »Schwarz­markt« oder jede kri­mi­nel­le Akti­vi­tät, die über ein tri­via­les Aus­maß hin­aus­geht, ohne eine enge Ein­bin­dung in nach­rich­ten­dienst­lich kon­trol­lier­te Netz­wer­ke kaum funk­tio­nie­ren kann. Dies wird im Fal­le des Dro­gen­han­dels, des ille­ga­len Waf­fen­han­dels und des Söld­ner­mark­tes oft zuge­ge­ben, aber es besteht eine merk­wür­di­ge Zurück­hal­tung, zuzu­ge­ben, dass dies im Hin­blick auf den Men­schen­han­del offen­sicht­lich der Fall ist. So ist es auch der Fall, dass ein Groß­teil des Schut­zes von Wild­tie­ren, ins­be­son­de­re in der Drit­ten Welt, kaum mehr als eine neue silva regis für die herr­schen­de Klas­se dar­stellt, die von pseu­do-kari­ta­ti­ven Orga­ni­sa­tio­nen wie dem WWF (der pas­sen­der­wei­se auch als Deck­man­tel für die Finan­zie­rung von Söld­nern fun­giert) erreicht wird. Wie die Plä­ne der EU, Fir­men­jets von einer geplan­ten künf­ti­gen Treib­stoff­steu­er zu befrei­en, deut­lich machen, wer­den Kri­mi­na­li­sie­rung, Beschrän­kun­gen und Sank­tio­nen in unse­rer real exis­tie­ren­den Ord­nung wei­ter­hin als Mit­tel zur Errich­tung exklu­si­ver Mono­po­le für die herr­schen­de Klas­se über die von ihr kon­trol­lier­ten kri­mi­nel­len oder ver­deck­ten Geheim­diens­te funk­tio­nie­ren (auch hier gibt es, wie McCoy zeigt, kei­nen wirk­li­chen Unterschied).

Die­se Ten­denz, die herr­schen­de Klas­se durch den zuneh­men­den Umfang und die zuneh­men­de Viel­falt staat­li­cher und behörd­li­cher Ein­grif­fe in etwas zu ver­wan­deln, das mehr einer Kas­te ähnelt und immer weni­ger mit der von der revo­lu­tio­nä­ren Bour­geoi­sie hin­ter­las­se­nen his­to­ri­schen libe­ra­len Ord­nung ver­ein­bar ist, erreich­te ihre scham­lo­ses­te Form in den Lock­downs der letz­ten zwei­ein­halb Jah­re. Ana­to­le France bemerk­te ein­mal, dass »das Gesetz in sei­ner majes­tä­ti­schen Gleich­heit den Rei­chen und den Armen glei­cher­ma­ßen ver­bie­tet, unter Brü­cken zu schla­fen, auf der Stra­ße zu bet­teln und ihr Brot zu steh­len«. Die Coro­na-Beschrän­kun­gen unter­sag­ten es sowohl den Besit­zern von Her­ren­häu­sern und gro­ßen Län­de­rei­en als auch den Bewoh­nern von arm­se­li­gen Ein­zim­mer­woh­nun­gen, ihr »Zuhau­se« zu ver­las­sen oder die fri­sche Luft außer­halb ihres »Zuhau­ses« (ob die­ses nun Fel­der und Wäl­der umfass­te oder nicht) ohne Mas­ke zu genie­ßen. In ver­schie­de­nen Fäl­len ver­bann­ten sie Arme wie Rei­che von der Lohn­ar­beit, von öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln und von der öffent­li­chen Gesund­heits­für­sor­ge – vor allem, wenn sie nicht geimpft waren. Rei­sen mit Pri­vat­jets wur­den im Gro­ßen und Gan­zen nicht durch Grenz­be­schrän­kun­gen behin­dert und auf jeden Fall kann sich jeder, der einen Pri­vat­arzt hat, nach Belie­ben »imp­fen« las­sen. Trotz der vie­len Impf­vor­schrif­ten, die man erfül­len muss, um zu leben, zu arbei­ten oder mit sei­ner Fami­lie zusam­men­zu­kom­men, gab es nie eine Impf­pflicht, um ein Unter­neh­men oder ein ande­res Ver­mö­gen zu besit­zen. Und selbst­re­dend war es wäh­rend vie­ler Wel­len wirt­schaft­li­cher Beschrän­kun­gen fast immer der Fall, dass gro­ße Mono­po­le offen blei­ben durf­ten, wäh­rend dies klei­nen und mitt­le­ren Unter­neh­men ver­wehrt blieb – Ska­len­ef­fek­te wur­den durch die schie­re Tyran­nei der Grö­ße, das direk­te poli­ti­sche Erdros­seln jedes auch nur im Ent­fern­tes­ten unab­hän­gi­gen Kapi­tals übertroffen.

Auf die Gefahr hin, dass wir uns an die­ser Stel­le zu weit vor­wa­gen, ist es jedoch wich­tig, in die­sem Abschnitt einen ent­schei­den­den Teil der Genea­lo­gie unse­rer gegen­wär­ti­gen Ord­nung nach­zu­zeich­nen, der von der insti­tu­tio­na­li­sier­ten mar­xis­ti­schen Tra­di­ti­on (mit bedeu­ten­den Aus­nah­men) etwas zu wenig beach­tet wur­de, näm­lich das Mono­pol über die Geld­ver­sor­gung und die wesent­li­che Rol­le, die die Zen­tral­ban­ken bei der Kon­so­li­die­rung der all­ge­mei­nen mono­po­lis­ti­schen Macht spie­len. Die Tat­sa­che, dass Marx starb, bevor er sei­ne geplan­ten Abschnit­te des Kapi­tals über das Kre­dit­sys­tem und die Staats­ver­schul­dung abschlie­ßen konn­te, mag bei die­sem Ungleich­ge­wicht eine gewis­se Rol­le spie­len. Ein schwie­ri­ge­res Pro­blem ist, dass die Kri­tik an den »Ban­kern« oder dem künst­lich iso­lier­ten »Finanz­ka­pi­tal« – das als Para­sit auf dem ansons­ten gesun­den Kör­per des Kapi­ta­lis­mus ange­se­hen wird – eine Haupt­stüt­ze der faschis­ti­schen und faschis­ti­schen Poli­tik war.

Dass sol­che Umstän­de eini­ge zögern las­sen, sich auf eine gründ­li­che Unter­su­chung und Kri­tik der kapi­ta­lis­ti­schen Geld­po­li­tik, des Kre­dits und der Ban­ken­pra­xis ein­zu­las­sen, ist ver­ständ­lich, aber nicht akzep­ta­bel. Mar­xis­ten müs­sen die intel­lek­tu­el­le und mora­li­sche Rei­fe zum kri­ti­schen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen auf­brin­gen und nicht vor allem flie­hen, von dem sie befürch­ten, dass es sie infi­zie­ren könn­te. Die­se Ten­denz ist Teil der glei­chen absur­den Pra­xis west­li­cher mar­xis­ti­scher Par­tei­en in den letz­ten zwei Jah­ren, die größ­te Mas­sen­pro­test­mo­bi­li­sie­rung des letz­ten Jahr­hun­derts ent­we­der zu igno­rie­ren, zu dif­fa­mie­ren oder, schlim­mer noch, dem Staat aktiv dabei zu hel­fen sie zu ver­hin­dern, weil Staats- und Kon­zern­me­di­en die Pro­tes­te als »rechts« bezeich­ne­ten. Der skan­da­lö­se Man­gel an wis­sen­schaft­li­cher Hal­tung unter sol­chen Mar­xis­ten, die sich ent­we­der nicht die Mühe machen konn­ten oder zu fei­ge waren, sich mit den tat­säch­li­chen Teil­neh­mern die­ser Pro­tes­te aus­ein­an­der zu set­zen (und ihre oft weit­hin lin­ken Ver­pflich­tun­gen und Ori­en­tie­run­gen zu ent­de­cken), ist ein Schand­mal für uns alle, das uns bei der wich­ti­gen poli­ti­schen Arbeit, die vor uns liegt, ernst­haft behin­dern wird.

In die­sem Zusam­men­hang sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die viel­leicht wich­tigs­te Infor­ma­ti­ons­quel­le für Lenins Impe­ria­lis­mus­schrift J.A. Hobson’s Impe­ria­lism: A Stu­dy von 1902 war. Hob­son war ein offe­ner Anti­se­mit, des­sen Anti­se­mi­tis­mus sich durch einen Groß­teil sei­nes Werks zieht, auch durch sein Impe­ria­lism: A Stu­dy selbst. Der Anti­se­mi­tis­mus, dem er frön­te, war genau der typi­sche Anti­se­mi­tis­mus der sys­tem­kri­ti­schen Klein­bour­geoi­sie, die dar­in eine Mög­lich­keit sah, den Kapi­ta­lis­mus von sei­nen eige­nen unver­meid­li­chen Ten­den­zen zum Mono­pol zu ent­las­ten und statt­des­sen ein ruch­lo­ses jüdi­sches Kom­plott zu beschul­di­gen. Der Punkt ist, dass Lenin in der Lage war, die nütz­li­chen Infor­ma­tio­nen kri­tisch zu iso­lie­ren und aus dem Text zu extra­hie­ren, ohne Angst vor Kon­ta­mi­na­ti­on zu haben. Er ver­trau­te dar­auf, dass er und sei­ne Mit­strei­ter in der Lage sein wür­den, die­se Art des Den­kens zu besie­gen, indem sie ein­fach eine bes­se­re Ana­ly­se mit Nach­druck vor­an­trei­ben wür­den: den Mar­xis­mus, der die unver­gleich­li­che Anzie­hungs­kraft von Wahr­heit und Gül­tig­keit genießt und sich in der revo­lu­tio­nä­ren Pra­xis unwei­ger­lich als über­le­gen erwei­sen wür­de. In der gegen­wär­ti­gen Kri­se las­sen die Des­in­for­ma­ti­ons­ma­schi­nen der herr­schen­den Klas­se unzäh­li­ge Vari­an­ten des Anti­se­mi­tis­mus wie­der auf­le­ben und erfin­den sie neu, um die zum Klas­sen­be­wusst­sein gelan­gen­den Mas­sen zu umgar­nen, zu ver­wir­ren und in die Irre zu führen.

So ist es Lenin, der uner­bitt­li­che Aus­rot­ter anti­se­mi­ti­scher Hoch­stap­ler-Ana­ly­sen, dem wir nach­ei­fern müs­sen, wenn wir uns mit dem uns zur Ver­fü­gung ste­hen­den Text­ma­te­ri­al und den Inter­ven­tio­nen aus­ein­an­der­set­zen, indem wir uns bemü­hen, sei­ne Fähig­keit und sei­ne Bereit­schaft zu erlan­gen von nicht-mar­xis­ti­schen klein­bür­ger­li­chen Kri­ti­ken des Impe­ria­lis­mus und der Finan­zia­li­sie­rung, wie der von Hob­son, zu ler­nen und sie gleich­zei­tig zu kor­ri­gie­ren und die Ursprün­ge und die Funk­ti­on ihrer Per­ver­sio­nen zu erklä­ren. Er bemerkte:

Aber die unge­heu­er­li­chen Tat­sa­chen. die die unge­heu­er­li­che Herr­schaft der Finanz­olig­ar­chie betref­fen, sprin­gen der­ma­ßen in die Augen, daß in allen kapi­ta­lis­ti­schen Län­dern, in Ame­ri­ka wie in Frank­reich und Deutsch­land, eine Lite­ra­tur ent­stan­den ist, die vom bür­ger­li­chen Stand­punkt aus­geht und den­noch ein annä­hernd wah­res Bild sowie eine natür­lich klein­bür­ger­li­che Kri­tik der Finanz­olig­ar­chie gibt.19

Auch wenn man sich der Gren­zen der klein­bür­ger­li­chen Kri­tik bewusst ist, soll­te man nicht ver­ges­sen, dass sie über weit mehr Res­sour­cen, Frei­zeit und Frei­heit ver­fü­gen als die arbei­ten­den Mas­sen. Mög­li­cher­wei­se haben sie auch ein bes­se­res Ver­ständ­nis für bestimm­te Aspek­te der rea­len Funk­ti­ons­wei­se der Klas­sen­herr­schaft auf der Ebe­ne von Manage­ment, Orga­ni­sa­ti­on und Ver­wal­tung. Die Tei­lung der intel­lek­tu­el­len Arbeit lässt uns kei­ne ande­re Wahl, als uns auf die all­ge­mei­ne Mas­se der kri­ti­schen und sons­ti­gen Ergeb­nis­se einer Viel­zahl von Fach­leu­ten in den Wis­sen­schaf­ten, im Finanz­we­sen, im Jour­na­lis­mus und in der Regie­rung zu ver­las­sen, um das Welt­sys­tem zu ver­ste­hen, das sie und wir reproduzieren.

Im Geis­te Lenins soll­ten wir uns also kri­tisch, aber ernst­haft mit dem Mate­ri­al aus­ein­an­der­set­zen, das von dis­si­den­ten Tei­len der Klein­bour­geoi­sie und sogar der Bour­geoi­sie selbst pro­du­ziert wird. Dabei soll­ten wir größ­te Sorg­falt dar­auf ver­wen­den, dis­si­den­te Nicht-Mar­xis­ten von blo­ßen Hoch­stap­lern und Betrü­gern zu unter­schei­den. Zu ers­te­ren könn­ten wir Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts, John Titus, Robert F. Ken­ne­dy Jr. Ken­ne­dy, Jr., Wall Street On Para­de, Naked Capi­ta­lism oder die oft sehr absto­ßen­den Autoren von Viney­ard Saker und Zero Hedge zäh­len. Zu letz­te­ren Fabio Vighi, Off-Guar­di­an, die Larou­che Orga­ni­sa­tio­nen oder den »Maga-Kom­mu­nis­mus«. Aller­dings lässt sich nicht jeder Fall ein­fach ent­schei­den, denn wer weiß schon, was mit Gior­gio Agam­ben oder Rei­ner Fuell­mich los ist. Aber dass es immer mehr ech­te Dis­si­den­ten in der Finanz­welt, in der Medi­zin und in der Wis­sen­schaft geben muss, scheint durch die mar­xis­tisch-leni­nis­ti­sche Ana­ly­se des Impe­ria­lis­mus gesi­chert, die erklärt, wie sich die domi­nie­ren­den Frak­tio­nen der Bour­geoi­sie auch immer mehr gegen­sei­tig aus­beu­ten und die unver­meid­li­che Fol­ge der Reich­tums­kon­zen­tra­ti­on dar­in besteht, dass immer grö­ße­re Tei­le der Bour­geoi­sie in die Mas­sen hin­ab­ge­sto­ßen wer­den oder zumin­dest die erns­te Aus­sicht dar­auf besteht.

Der fol­gen­de Abschnitt wird sich ins­be­son­de­re auf bür­ger­li­che und klein­bür­ger­li­che Kri­ti­ker der Geld­po­li­tik wie Micha­el Row­bo­t­ham und Alfred Owen Cro­zier sowie auf all­ge­mei­ne­re und radi­ka­le­re, wenn auch »kon­ser­va­ti­ve« oder »rech­te«, Kri­ti­ker des­sen stüt­zen, was sie als den »Finanz-Coup« bezeich­nen, der seit Ende der 90er Jah­re statt­ge­fun­den hat, wie Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts und John Titus. Aus Zeit­grün­den wer­den wir uns auf die USA kon­zen­trie­ren, müs­sen aber fest­stel­len, dass wich­ti­ge Ent­wick­lun­gen von der ehe­ma­li­gen ultra-impe­ria­lis­ti­schen Macht Groß­bri­tan­ni­en, von der die USA den Man­tel der kapi­ta­lis­tisch-impe­ria­lis­ti­schen Hege­mo­nie über­nom­men hat, vor­weg­ge­nom­men wur­den. Mehr als auf wich­ti­ge Momen­te hin­zu­wei­sen wür­de den Rah­men die­ses Bei­trags sprengen.

4. Das Nixon-Gam­bit und sei­ne Vorläufer

Die mehr oder weni­ger voll­stän­di­ge Kar­tel­li­sie­rung der US-Wirt­schaft war zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts abge­schlos­sen – in die­ser Hin­sicht ver­an­schau­li­chen die USA gut den von Lenin erkann­ten Zusam­men­hang zwi­schen Mono­po­li­sie­rung und Impe­ria­lis­mus, als Ame­ri­ka 1898 den Spa­nisch-Ame­ri­ka­ni­schen Krieg begann. Wie Lenin selbst fest­stell­te, rief dies »die Oppo­si­ti­on der ›Anti­im­pe­ria­lis­ten‹ her­vor, der »letz­ten Mohi­ka­ner der bür­ger­li­chen Demo­kra­tie, die die­sen Krieg ein ›Ver­bre­chen‹ nann­ten.»20 Ein sol­cher Wider­stand ohne den Wil­len, die kapi­ta­lis­ti­schen Wur­zeln des Impe­ria­lis­mus zu bekämp­fen, schei­ter­te natür­lich. Auch hier zeigt sich die kla­re Annah­me Lenins, dass die bür­ger­li­che Demo­kra­tie zu sei­ner Zeit bereits im Wesent­li­chen über­wun­den war.

Es gibt gute Grün­de für die Annah­me, dass das Finanz­ka­pi­tal in den letz­ten Jahr­zehn­ten des 19. Jahr­hun­derts in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten einen sol­chen Kon­zen­tra­ti­ons­grad erreicht hat­te, dass Wirt­schafts­kri­sen (zumin­dest kurz- bis mit­tel­fris­tig) eini­ger­ma­ßen gut vor­her­seh­bar waren und durch koor­di­nier­te Anstren­gun­gen der Ban­ken­kar­tel­le gezielt indu­ziert wer­den konn­ten. Der Begriff »indu­ziert« wur­de hier bewusst gewählt und ist in dem Sin­ne gemeint, in dem er in der Medi­zin ver­wen­det wird: Die Kapi­ta­lis­ten­klas­se hat­te kei­nes­wegs die Fähig­keit erwor­ben, den Kapi­ta­lis­mus von sei­ner Ten­denz zu Kri­sen zu befrei­en (wenn sie dies über­haupt gewollt hät­te), aber die seit lan­gem bestehen­de Fähig­keit der domi­nie­ren­den Kapi­tal­frak­tio­nen, Kri­sen aus­zu­nut­zen, wur­de wei­ter ver­fei­nert in die Fähig­keit, sie unter güns­ti­gen Umstän­den bewusst zu beschleu­ni­gen oder zu pro­vo­zie­ren. Alfred Owen Cro­zier ver­tritt die Auf­fas­sung, dass die Finanz­pa­ni­ken von 1873, 1893 und 1907 von den Wall-Street-Ban­kern künst­lich erzeugt wur­den, um ihre kol­lek­ti­ven finan­zi­el­len und/​oder poli­ti­schen Inter­es­sen durchzusetzen.

Zumin­dest im Fall der Panik von 1893 gibt es ein­deu­ti­ge Bewei­se dafür, dass sie pro­vo­ziert wur­de, um den Kon­gress zur Auf­he­bung des Sher­man Anti­trust Act zu drän­gen, ein­schließ­lich einer koor­di­nier­ten Kam­pa­gne der Natio­nal Ban­kers‹ Asso­cia­ti­on, um Kre­di­te zurück­zu­zie­hen.21 Im 20. Jahr­hun­dert konn­ten die Ban­ken nicht nur die Gesetz­ge­bung erzwin­gen, son­dern auch die bestehen­den Geset­ze aus­he­beln. In einem Bericht des Office of the Comp­t­rol­ler of Cur­ren­cy (OCC) aus dem Jahr 1911 wur­de fest­ge­stellt, dass »60 Pro­zent der Ban­ken rou­ti­ne­mä­ßig gegen eine oder meh­re­re Bestim­mun­gen des US-Geset­zes ver­sto­ßen«.22 Titus bemerkt:

In die­sem Licht betrach­tet, bedeu­te­te die gesetz­li­che Grün­dung der pri­va­ten Fede­ral Reser­ve im Jahr 1913 in Wirk­lich­keit die Sal­bung der Eigen­tü­mer der Fede­ral Reser­ve zu den Dons eines mäch­ti­gen kri­mi­nel­len Unter­neh­mens mit Haupt­sitz in New York.«23

Die Grün­dung der Fede­ral Reser­ve ist ein klas­si­scher Fall dafür, dass die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung umge­lenkt wur­de, um das Ziel der Kon­so­li­die­rung der herr­schen­den Klas­se zu för­dern: Die Mas­sen waren nach dem Bör­sen­krach von 1907 über die Ban­ken empört, ins­be­son­de­re über JP Mor­gan Cha­se. Der Auf­schrei der Bevöl­ke­rung nach mehr Regu­lie­rung wur­de aus­ge­nutzt, um die Gewäh­rung einer direk­te­ren Kon­trol­le über Bun­des­kre­di­te, Insi­der­infor­ma­tio­nen und die Geld­men­ge der USA durch genau die­sel­ben Ban­kiers zu recht­fer­ti­gen.24

Als Marx die ent­schei­den­de Rol­le des Staa­tes beim Über­gang vom Feu­da­lis­mus zum Kapi­ta­lis­mus fest­stell­te, merk­te er dazu an: »Die Gewalt ist der Geburts­hel­fer jeder alten Gesell­schaft, die mit einer neu­en schwan­ger geht. Sie selbst ist eine öko­no­mi­sche Potenz.«25 Wie bereits erwähnt, haben die bei­den Welt­krie­ge und die dazwi­schen lie­gen­de Depres­si­on den Ten­den­zen zur Kon­zen­tra­ti­on der herr­schen­den Klas­se, die bereits von Lenin als weit fort­ge­schrit­ten bezeich­net wur­den, einen enor­men Auf­trieb gege­ben. Dazu gehö­ren die Auf­he­bung wich­ti­ger Ele­men­te der bür­ger­li­chen Demo­kra­tie, die stär­ke­re staat­li­che Koor­di­nie­rung der Wirt­schaft, was in einem kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem unwei­ger­lich eine noch enge­re direk­te Ver­flech­tung von Staat und Kapi­tal bedeu­tet, sowie der Aus­bau und die Ermäch­ti­gung von Geheim­diens­ten und Polizei.

Wie wir oben gese­hen haben, haben die Kri­sen des Kapi­ta­lis­mus, die sich in einem zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Krieg mani­fes­tier­ten, die Mög­lich­keit und in der Sowjet­uni­on die Rea­li­tät einer sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on geschaf­fen, die das Kapi­tal stürz­te. Die herr­schen­de Klas­se, das muss immer wie­der betont wer­den, ist nicht pas­siv. Sie pla­nen, orga­ni­sie­ren und koor­di­nie­ren aktiv, um ihre Inter­es­sen vor­an­zu­trei­ben – sie haben in der Tat mehr Mit­tel und mehr Zeit, dies zu tun als alle ande­ren. Indem sie die Arbeit ande­rer aus­beu­ten, kön­nen sie ihre gesam­te Ener­gie in die Tätig­keit der Aus­beu­tung ste­cken, also in den Erhalt, die Ver­tei­di­gung und den Aus­bau ihrer Macht­po­si­ti­on. In dem Maße, wie sich die Wider­sprü­che des Kapi­ta­lis­mus ver­schär­fen, müs­sen wir uns vor­stel­len, dass die Kapi­ta­lis­ten not­wen­di­ger­wei­se danach stre­ben, sie zu über­win­den, zu lösen oder auf­zu­schie­ben. Dabei dür­fen wir uns nicht ein­bil­den, dass sie eine sen­ti­men­ta­le Bin­dung an den Kapi­ta­lis­mus an sich haben. Wir müs­sen uns vor­stel­len, dass ihre Ent­schei­dung von ihren rea­len mate­ri­el­len Inter­es­sen und Ängs­ten dik­tiert wur­de – nicht »unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter unmit­tel­bar vor­ge­fun­de­nen, gege­be­nen und über­lie­fer­ten Umstän­den«, um ein wei­te­res Mal Marx zu zitie­ren.26

Fitts stellt die The­se auf, dass die US-Regie­rung durch eine Rei­he von Mecha­nis­men in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts eine mehr oder weni­ger voll­stän­di­ge Kon­trol­le über die US-Wirt­schaft erlang­te, indem sie eine »beherr­schen­de Stel­lung auf den Kre­dit­märk­ten« ein­nahm.27 Als Zuge­ständ­nis an die rea­le und sys­tem­be­dro­hen­de Unzu­frie­den­heit der Arbei­ter­klas­se in der gro­ßen Depres­si­on und als Mit­tel, dar­aus Kapi­tal zu schla­gen, rich­te­te Frank­lin D. Roo­se­velt 1934 den Exch­an­ge Sta­bi­liza­ti­on Fund (ESF) ein und erließ 1935 die Sozi­al­ver­si­che­rungs­ge­set­ze. Der ESF ist ein nicht offen­ge­leg­ter Fonds, der Bun­des­kre­di­te anzap­fen kann und nur dem Prä­si­den­ten und dem Finanz­mi­nis­ter unter­steht. Es ist wich­tig, an die­ser Stel­le dar­an zu erin­nern, dass die Ein­rich­tung des Wohl­fahrts­staa­tes eine dra­ma­ti­sche Ver­än­de­rung der kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­se mit sich brach­te, da die Bedeu­tung die­ses Begriffs heu­te fast in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist. In die­sem Zeit­raum kam es zu tek­to­ni­schen Ver­schie­bun­gen in der Risi­ko­ver­tei­lung, teils zuguns­ten ver­schie­de­ner Frak­tio­nen der Arbeit, teils zuguns­ten des Kapi­tals. Wie Mol­ly Klein anmerkt, ver­si­chern zum Bei­spiel Lebens­mit­tel­mar­ken die Pro­du­zen­ten von Kon­sum­gü­tern in erheb­li­chem Maße gegen Risi­ken. Vom Stand­punkt des Gesamt­sys­tems aus betrach­tet, muss dies als die direk­te­re Bestim­mung der Ver­tei­lung des Über­schus­ses durch die Regie­rungs­po­li­tik ange­se­hen werden.

Der Vor­gän­ger des Minis­te­ri­ums für Woh­nungs­bau und Stadt­ent­wick­lung (HUD) wur­de eben­falls 1934 mit der Fede­ral Housing Admi­nis­tra­ti­on (FHA) gegrün­det, gefolgt von den staat­lich geför­der­ten Unter­neh­men (Govern­ment-spon­so­red enter­pri­se (GSE)) Fan­nie Mae und Fred­die Mac. Wie Fitts bemerkt, »haben sich die Fede­ral Reser­ve (das heißt das Kar­tell) zur Fest­set­zung des Geld­prei­ses, der ESF, die GSEs und zuletzt das HUD als mäch­ti­ge Kräf­te zur Regu­lie­rung der Geld­strö­me und der Nach­fra­ge in der US-Wirt­schaft erwie­sen.«28 Der Zwei­te Welt­krieg und der Kal­te Krieg brach­ten sowohl die Reform des US-Mili­tärs her­vor, die es mit einem »Mili­tär­bud­get für Kriegs­zei­ten und einer Streit­kräf­te­struk­tur in Frie­dens­zei­ten« aus­stat­te­te, als auch die Ver­ab­schie­dung des CIA-Geset­zes im Jahr 1949, das »einen Haus­halts­me­cha­nis­mus schuf, der es der CIA erlaub­te, so viel Geld aus­zu­ge­ben, wie sie woll­te, »ohne Rück­sicht auf die gesetz­li­chen Bestim­mun­gen und Vor­schrif­ten in Bezug auf die Aus­ga­be von Regie­rungs­gel­dern«.29 Zusam­men­ge­nom­men ermög­li­chen die­se Hebel den­je­ni­gen, die die US-Regie­rung lei­ten (also die Vor­hut der herr­schen­den Klas­se), eine direk­te, aber gehei­me (das heißt ver­deckt plan- und initi­ier­ba­re) Kon­trol­le über die Kom­man­do­hö­hen der US-Wirt­schaft auszuüben.

Die bereits beträcht­li­che wirt­schaft­li­che Kon­trol­le über die Welt­wirt­schaft, die eine sol­che Posi­ti­on mit sich brach­te, wur­de mit der Ablö­sung des Bret­ton-Woods-Sys­tems radi­kal erwei­tert. Wie bereits erwähnt, muss Bret­ton Woods als ein zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­scher Kom­pro­miss unter ame­ri­ka­ni­scher Hege­mo­nie ver­stan­den wer­den, der sich finan­zi­el­ler Repres­si­on bedien­te, um einen pro­duk­ti­ven Kapi­ta­lis­mus zu ermög­li­chen. Das Sys­tem ver­hin­der­te in erheb­li­chem Maße die völ­li­ge Vor­herr­schaft mäch­ti­ger Staa­ten – und genau wie Lenin vor­aus­sag­te, konn­te und hat ein der­ar­ti­ger zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­scher Frie­den nicht gehal­ten. Statt eines offe­nen impe­ria­lis­ti­schen Krie­ges unter­nahm die Avant­gar­de der ame­ri­ka­ni­schen herr­schen­den Klas­se unter Nixon jedoch etwas viel­leicht noch Radi­ka­le­res: die Ein­füh­rung einer tota­len Finanz­dik­ta­tur über den Rest des kapi­ta­lis­ti­schen Blocks.

Was Lenin viel­leicht nicht vor­her­se­hen konn­te, war, dass das Gam­bit erfolg­reich war: Nixon hat­te Erfolg. Und zwar genau des­halb, weil die herr­schen­den Klas­sen Euro­pas, Japans und mit ihnen die Kom­pra­do­ren­eli­te in der gan­zen Welt kei­ne ande­re Wahl hat­ten, als sich zwi­schen den Optio­nen der Dol­lar-Dik­ta­tur oder des revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus in Form der UdSSR, Chi­nas, Viet­nams und der gesam­ten deko­lo­nia­len Wel­le für Ers­te­res zu ent­schei­den. In der Tat war Nixons Schach­zug eine direk­te Reak­ti­on auf die Bedro­hung des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus (und der Klas­sen­ge­sell­schaft im All­ge­mei­nen) durch den hel­den­haf­ten Wider­stand der viet­na­me­si­schen Mas­sen gegen den ame­ri­ka­ni­schen Imperialismus.

In Nixons Gam­bit, das von Peter Gowan in The Glo­bal Gam­ble sehr gut beschrie­ben wird, sehen wir, wie die ame­ri­ka­ni­sche Vor­hut der herr­schen­den Kapi­ta­lis­ten­klas­se auf eine Kri­se (oder in der Tat auf eine Rei­he von Kri­sen, ein­schließ­lich der wirt­schaft­li­chen Bedro­hung der USA durch Japan und Euro­pa, der Gefahr der Abwer­tung des Dol­lars und des Viet­nam­kriegs) mit der Kon­so­li­die­rung und der Über­nah­me von mehr Macht und mehr Kon­trol­le reagiert, wodurch das Sys­tem wei­ter ver­än­dert wird. Ins­be­son­de­re der Erfolg der ame­ri­ka­ni­schen herr­schen­den Klas­se bei der Eta­blie­rung des­sen, was Gowan das »Dol­lar-Wall-Street-Regime« nennt, brach­te sie den­noch in eine äußerst pre­kä­re Posi­ti­on gegen­über einem viel unbe­stän­di­ge­ren Sys­tem, das mit sei­nen eige­nen Wider­sprü­chen gespickt ist. Zu den wich­tigs­ten die­ser Wider­sprü­che gehör­te ihr Ver­hält­nis zu den ein­hei­mi­schen Arbei­ter­aris­to­kra­tien der Tria­de USA-West­eu­ro­pa-Japan, deren Ana­ly­se uns dem Ver­ständ­nis der Kom­ple­xi­tät unse­rer gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on sehr nahe bringt.

5. Die Rol­le der Arbeiteraristokratie

In ihrem Arti­kel »Impe­ria­lis­mus und die Spal­tung der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung« hob die Genos­sin Yana das Niveau der Dis­kus­si­on erheb­lich an, indem sie die Fra­ge der impe­ria­len Arbei­ter­aris­to­kra­tie ernst­haft in ihre Ana­ly­se ein­be­zog. Bis zu die­sem Zeit­punkt war die­se Fra­ge auf­fal­lend wenig dis­ku­tiert wor­den, obwohl Lenins Klar­stel­lung ihrer Rol­le einer der bedeu­tends­ten und wir­kungs­volls­ten Bei­trä­ge war, die aus sei­nem Impe­ria­lis­mus-Pam­phlet her­vor­gin­gen. Beson­ders scharf­sin­nig war ihr Ver­gleich zwi­schen den­je­ni­gen, die im Inter­es­se der »Ein­heit der Arbei­ter­klas­se« die Bedeu­tung des Impe­ria­lis­mus leug­nen und den­je­ni­gen, die im Namen des­sel­ben die Ungleich­heit der Geschlech­ter leug­nen. Yana merkt jedoch an, dass ihr kei­ne Arbei­ten bekannt sind, in denen ver­sucht wird, das Aus­maß der Aus­beu­tung der Mit­glie­der der Arbei­ter­aris­to­kra­tie mit den Divi­den­den zu ver­glei­chen, die sie aus der impe­ria­lis­ti­schen Super­aus­beu­tung der Peri­phe­rie erhalten.

Genau dies hat Zak Cope mit enor­mer Tie­fe und Stren­ge in sei­nen bei­den Tex­ten Divi­ded World, Divi­ded Class (2012) und The Wealth of (some) Nati­ons (2019) getan. Soweit dem Autor bekannt, han­delt es sich dabei um die aktu­ells­te und umfas­sends­te Unter­su­chung der Arbei­ter­aris­to­kra­tie. Obwohl sie Män­gel auf­weist, ist sie von enor­mer Bedeu­tung. Copes Ergeb­nis­se zei­gen, dass die Mehr­heit der Arbei­ter­aris­to­kra­tien in den impe­ria­lis­ti­schen Kern­län­dern seit dem Zwei­ten Welt­krieg streng for­mal-öko­no­misch betrach­tet eine rea­le Aus­beu­tungs­ra­te genos­sen hat. Die­se geht gegen Null – oder ist in man­chen Kon­tex­ten sogar nega­tiv: Tei­le der west­li­chen Arbei­ter­klas­se haben zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten durch den Impe­ria­lis­mus mehr erhal­ten als sie durch die Aus­beu­tung ihrer eige­nen Lohn­ar­beit ver­lo­ren haben. Gro­ße Tei­le der Arbei­ter­aris­to­kra­tie ver­fü­gen über ein gewis­ses Kapi­tal in Form ihrer Erspar­nis­se, ihrer Ren­ten­fonds, ihrer Gewerk­schaf­ten, ihrer Häu­ser, ja in gewis­ser Wei­se sogar in den Staats­kas­sen, auf die sie Anspruch haben. Copes Tex­te sind ein wesent­li­ches Kor­rek­tiv zu der chau­vi­nis­ti­schen Leug­nung der Arbei­ter­aris­to­kra­tie, die man typi­scher­wei­se mit Trotz­kis­ten in Ver­bin­dung bringt, die aber offen­sicht­lich, basie­rend auf Yanas Arti­kel, auch ein The­ma in der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Grie­chen­lands (KKE) ist.

Wer jedoch die Bedeu­tung der Arbei­ter­aris­to­kra­tie im 20. Jahr­hun­dert im Inter­es­se eines zyni­schen, unmit­tel­ba­ren poli­ti­schen Gewinns leug­net, beraubt uns eines wesent­li­chen Mit­tels der poli­ti­schen Klä­rung und Auf­klä­rung. Ohne sie las­sen sich der Chau­vi­nis­mus und Natio­na­lis­mus der impe­ria­len Kern­be­völ­ke­rung nicht erklä­ren. Eben­so wenig kann das Schei­tern des Kom­mu­nis­mus in die­sen Regio­nen wäh­rend des letz­ten Jahr­hun­derts ver­ständ­lich gemacht wer­den. Und in der Tat kön­nen wir ent­schei­den­de Ele­men­te des Zusam­men­bruchs des real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus nicht erklä­ren. Eines der wich­tigs­ten Mit­tel, womit der kapi­ta­lis­tisch-impe­ria­lis­ti­sche Block in der Lage war den Sozia­lis­mus zu unter­gra­ben, bestand dar­in, gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­rung in der sozia­lis­ti­schen Welt davon zu über­zeu­gen, dass der Lebens­stan­dard, den der impe­ria­lis­ti­sche Kern genoss, das Ergeb­nis des »Kapi­ta­lis­mus« und nicht des Impe­ria­lis­mus war. Sowie davon, dass der Lebens­stan­dard in der sozia­lis­ti­schen Welt Ergeb­nis des »Sozia­lis­mus«. Die­se Ver­schleie­rung unter­grub die Legi­ti­mi­tät der sozia­lis­ti­schen Sys­te­me erheb­lich und för­der­te kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Stimmungen.

Den­noch müs­sen wir auch die öko­no­mis­ti­schen und über­mä­ßig dritt­welt­le­ri­schen Schluss­fol­ge­run­gen von Cope kri­ti­sie­ren. Ins­be­son­de­re die Idee, dass west­li­che Arbei­ter, die ihre Inter­es­sen ver­tei­di­gen (gegen Lohn­kür­zun­gen kämp­fen und so wei­ter), es nicht wert sei­en, unter­stützt zu wer­den – oder dass sogar eine gewis­se Lohn­kür­zung für west­li­che Arbei­ter für eine gerech­te Ver­tei­lung des glo­ba­len Reich­tums not­wen­dig sein könn­te. Genos­se Jan Mül­ler hat in sei­nem Text »Kri­ti­sche Anmer­kun­gen zur Theo­rie der ›Arbei­ter­aris­to­kra­tie‹ « rich­tig erkannt, wie sol­che poli­ti­schen Lini­en als Waf­fe ein­ge­setzt wer­den, um der neo­li­be­ra­len Poli­tik einen ultra­lin­ken Deck­man­tel zu geben. Die Auf­recht­erhal­tung des impe­ria­lis­ti­schen Sys­tems ist unge­heu­er teu­er. Teu­er direkt in Bezug auf die Kos­ten für Mili­tär­aus­ga­ben, Pro­pa­gan­da und poli­ti­sche Repres­si­on, Bestechung usw. Für die Rech­nung kom­men in ers­ter Linie die Hoch­lohn­ar­bei­ter und die pro­le­ta­ri­sier­ten Fach­leu­te der Sozi­al­de­mo­kra­tie auf. Teu­er ist die Auf­rechth­ter­hal­tung des impe­ria­lis­ti­schen Sys­tems aber auch im Hin­blick auf das Gesamt­ver­mö­gen, das für die Aneig­nung zur Ver­fü­gung steht, in dem Sin­ne, dass sie sehr oft die Zer­stö­rung von Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten (fixes wie varia­bles Kapi­tal) nach sich zieht. Teu­er ist sie fer­ner im Hin­blick auf die Oppor­tu­ni­täts­kos­ten. In dem Sin­ne, dass der Impe­ria­lis­mus wie der Kapi­ta­lis­mus selbst eine Fes­sel für die mensch­li­che Pro­duk­ti­vi­tät ist, wie Marx beton­te. Wie Samir Amin und ande­re aus­führ­lich doku­men­tiert haben, bestand ein gro­ßer Teil der impe­ria­lis­ti­schen Pra­xis dar­in, die Ver­su­che der Peri­phe­rie zu ver­ei­teln, das Kapi­tal pro­duk­tiv in der auto­zen­tri­schen Akku­mu­la­ti­on ein­zu­set­zen. Für die Arbei­ter­aris­to­kra­tie hat das impe­ria­lis­ti­sche Sys­tem selbst auf dem Höhe­punkt ihrer Pri­vi­le­gi­en enor­me Frus­tra­ti­on und Ent­frem­dung, poli­ti­sche Unter­ord­nung und Unter­drü­ckung sowie mora­li­sche Unzu­frie­den­heit mit sich gebracht. Die Arbei­ter­aris­to­kra­tie lebt sowohl mora­lisch als auch mate­ri­ell schlech­ter, als sie es im Kom­mu­nis­mus könn­te. Das Wich­tigs­te an der Arbei­ter­aris­to­kra­tie für unse­re Zwe­cke ist jedoch, dass sie selbst direkt ange­grif­fen wird.

Lenin erkann­te bereits wich­ti­ge mit dem Auf­bau einer Arbei­ter­aris­to­kra­tie ver­bun­de­ne Spannungen:

Einer­seits haben Bour­geoi­sie und Oppor­tu­nis­ten die Ten­denz, das Häuf­lein der reichs­ten und pri­vi­le­gier­ten Natio­nen in ›ewi­ge‹ Schma­rot­zer am Kör­per der übri­gen Mensch­heit zu ver­wan­deln, ›auf den Lor­bee­ren‹ der Aus­beu­tung der Neger, Inder usw. ›aus­zu­ru­hen‹ und die­se Völ­ker Hil­fe des moder­nen Mili­ta­ris­mus, der mit einer groß­ar­ti­gen Ver­nich­tungs­tech­nik aus­ge­stat­tet ist, in Bot­mä­ßig­keit zu hal­ten. Ander­seits haben Klas­sen, die stär­ker denn je unter­drückt wer­den und alle Qua­len impe­ria­lis­ti­scher Krie­ge erdul­den, die Ten­denz, die­ses Joch abzu­wer­fen und die Bour­geoi­sie zu stür­zen.30

Im Kampf des inter­na­tio­na­len Kapi­tals gegen den revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus nach dem Zwei­ten Welt­krieg erlang­te die Arbei­ter­aris­to­kra­tie eine neue Bedeu­tung: Die Posi­ti­on der herr­schen­den Klas­se war pre­kär. Das Kapi­tal befand sich in der Defen­si­ve. Den ein­hei­mi­schen Arbei­tern muss­ten gro­ße Zuge­ständ­nis­se gemacht wer­den, um sie gefü­gig zu hal­ten und um Pro­pa­gan­da für den »kapi­ta­lis­ti­schen Wohl­stand« zu machen. Die­ses Arran­ge­ment hat­te offen­sicht­li­che Wider­sprü­che: Die Stär­kung jeder ande­ren Klas­se ist für die herr­schen­de Klas­se ungüns­tig. Jede Klas­se, die über unab­hän­gi­ge Mit­tel und Frei­zeit ver­fügt, kann sich leich­ter orga­ni­sie­ren und koor­di­nie­ren, um ihre eige­nen Inter­es­sen durch Gemein­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen, poli­ti­sche Par­tei­en und der­glei­chen durch­zu­set­zen. Daher das geball­te Inter­es­se der herr­schen­den Klas­se, uns arm zu machen und zu hal­ten: Mit Zeit und Geld kön­nen wir unse­re Inter­es­sen ver­tei­di­gen und durch­set­zen. Genau aus die­sem Grund betont Marx, dass die Geschich­te die Geschich­te des Klas­sen­kamp­fes ist. Der Krieg zwi­schen den Mas­sen und der herr­schen­den Klas­se ist ein Null­sum­men­spiel. Ein kür­ze­rer Arbeits­tag bedeu­tet mehr Zeit, nicht nur für die Frei­zeit, son­dern auch für die Pla­nung, die Orga­ni­sa­ti­on und die Revol­te; bes­se­re Lebens­mit­tel oder eine bes­se­re Aus­bil­dung für die Arbei­ter bedeu­ten mehr Ener­gie und grö­ße­re Kapa­zi­tä­ten für die Durch­set­zung unse­rer eige­nen Inter­es­sen. Wie Tony Benn ein­mal fest­stell­te, ist »eine gebil­de­te, gesun­de und selbst­be­wuss­te Nati­on schwe­rer zu regie­ren«. Die herr­schen­de Klas­se dul­de­te also die Errich­tung einer brei­ten Arbei­ter­aris­to­kra­tie nur inso­weit, als sie abso­lut not­wen­dig war. Sobald dies nicht der Fall war, mach­ten sie sich sofort dar­an, sie zu demontieren.

Wie stets sind Wider­sprü­che im Über­fluss vor­han­den. Ins­be­son­de­re in der Zeit nach dem Zwei­ten Welt­krieg hat die west­li­che Arbei­ter­aris­to­kra­tie eine sekun­dä­re, aber äußerst wich­ti­ge Funk­ti­on für das Kapi­tal über­nom­men: die des Kon­su­men­ten der letz­ten Instanz. Als bedeu­ten­der Kno­ten­punkt der Kapi­tal­ver­wer­tung erlang­te sie auch extre­me Bedeu­tung für das Geld- und Finanz­sys­tem: als Steu­er­ba­sis und als Eigentümer/​Käufer von Häu­sern, Ren­ten und Hypo­the­ken. Das von Nixon initi­ier­te Dol­lar-Wall-Street-Regime mach­te die Vor­hut der herr­schen­den Klas­se und die gesam­te kapi­ta­lis­ti­sche Welt­wirt­schaft in erheb­li­chem Maße von der Geld­ver­sor­gung abhän­gig, die zu ihrer Auf­recht­erhal­tung eine recht wohl­ha­ben­de Arbei­ter­aris­to­kra­tie benö­tig­te. Wären die Ame­ri­ka­ner bei­spiels­wei­se nicht wohl­ha­bend genug, um sowohl die per­sön­li­chen Schul­den zu tra­gen, die die Geld­schöp­fung der Ban­ken ermög­li­chen, als auch über ihre Steu­ern das Kapi­tal für die Staats­schul­den zu bezah­len, die die Reser­ven ermög­li­chen, wäre das gesam­te Sys­tem unhaltbar.

Je grö­ßer die­se Arbei­ter­aris­to­kra­tie ist, des­to grö­ßer und pro­duk­ti­ver muss die Klas­se der Super­aus­ge­beu­te­ten sein. Und des­to grö­ßer muss wie­der­um die­se stets pro­ble­ma­ti­sche sub­al­ter­ne Klas­se wer­den. Die herr­schen­de Klas­se kann jedoch nicht unbe­grenzt eine gro­ße rei­che Arbei­ter­aris­to­kra­tie auf­recht­erhal­ten. Die Wider­sprü­che in die­sem Arran­ge­ment sind sicher­lich im neo­li­be­ra­len Pro­gramm deut­lich gewor­den, das einen mehr­stu­fi­gen Angriff auf die glo­ba­le Arbei­ter­klas­se ein­schließ­lich der west­li­chen Arbei­ter­aris­to­kra­tie vor­sah. Viel­leicht hat die Vor­hut der herr­schen­den Klas­se in die­sem Zusam­men­hang, wenn nicht schon frü­her, auf das umge­schwenkt, was Fitts als »Finanz-Coup« bezeich­net hat. Als das Nixon-Gam­bit ein­ge­lei­tet wur­de, muss ihnen bereits klar gewe­sen sein, dass sie sehr viel direk­te­re Mit­tel zur Kon­trol­le der Bevöl­ke­rung benö­ti­gen wür­den (und die­se nun auch wirk­lich erdenken und umset­zen konn­ten). Es ist bemer­kens­wert, dass der Som­mer 1971, in dem die USA die Kon­ver­tier­bar­keit in Gold auf­ga­ben, auch der Som­mer war, in dem Die Gren­zen des Wachs­tums erst­mals in Mos­kau und Rio de Janei­ro vor­ge­stellt wur­de. Der Som­mer ende­te auch mit einer gro­ßen Tra­gö­die für den Kom­mu­nis­mus welt­weit, dem Lin Biao-Vorfall.

Die­se drei Punk­te hel­fen uns beim Ver­ständ­nis der der­zei­ti­gen Aus­rich­tung der herr­schen­den Klas­se, der Risi­ken und die Chan­cen, die sich ihr bie­ten. Wie fast immer, wenn die herr­schen­de Klas­se einen bedeu­ten­den Schritt macht und man sich fragt »war­um?«, lau­tet die Ant­wort sowohl »weil sie kann« als auch »weil sie muss«. Der Sieg der Kapi­ta­lis­ten – natür­lich unter­stützt von Kis­sin­ger und Nixon mit reich­lich Gold der Gol­de­nen Lilie via Mar­cos – soll­te viel­leicht als der Anfang vom Ende der ers­ten Wel­le der glo­ba­len kom­mu­nis­ti­schen Revo­lu­ti­on gese­hen wer­den. Die Nie­der­schla­gung der revo­lu­tio­nä­ren Mas­sen und die Unter­wer­fung der vom Wes­ten unter­stütz­ten Deng-Cli­que wur­de von der west­li­chen herr­schen­den Klas­se mit Sicher­heit als sol­che inter­pre­tiert und spiel­te eine gro­ße Rol­le bei ihrer Zuver­sicht zur Ein­lei­tung des neo­li­be­ra­len Angriffs. Sie bot auch direkt die Gele­gen­heit, Süd­ost­asi­en als eine wich­ti­ge Zone für pro­duk­ti­ve Kapi­tal­in­ves­ti­tio­nen zu eta­blie­ren, um die Deindus­tria­li­sie­rung zu erset­zen, die im innen­po­li­ti­schen Kampf gegen die impe­ria­le Arbei­ter­aris­to­kra­tie not­wen­dig war.

Die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on in Chi­na ver­mit­tel­te der herr­schen­den Klas­se, wie Mol­ly Klein betont hat, ganz wesent­lich auch die Erfah­rung einer radi­kal gefes­tig­ten Kon­troll­po­si­ti­on und eines gut inte­grier­ten, brei­ten, tie­fen, sozi­al leben­di­gen Netz­werks für die Schaf­fung und Ver­tei­lung poli­ti­scher Macht. Die hoch­gra­dig funk­tio­nie­ren­de kom­mu­nis­ti­sche Gesell­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on konn­te an den ent­schei­den­den Kno­ten­punk­ten – mit ent­spre­chen­der Gewalt und Täu­schung – so modi­fi­ziert wer­den, dass sie für ihre Zwe­cke bes­ser geeig­net war, als es den kapi­ta­lis­ti­schen herr­schen­den Klas­sen in den impe­ri­al-kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten mög­lich gewe­sen war. An die­ser Stel­le ist es ange­bracht, auf die völ­li­ge Absur­di­tät hin­zu­wei­sen, die von so vie­len unse­rer Genos­sen ver­tre­ten wird: dass die Nach­kom­men der Cli­que, die den chi­ne­si­schen Kom­mu­nis­mus zer­schla­gen, die chi­ne­si­schen Mas­sen ver­sklavt und ihren kol­lek­ti­ven Reich­tum auf dem Sil­ber­ta­blett ihren ame­ri­ka­ni­schen Her­ren in Form von Kre­di­ten ser­viert hat, die die chi­ne­si­schen Mas­sen nie wie­der zurück­be­kom­men wer­den, ein bedeu­ten­der Gegen­spie­ler der Avant­gar­de der herr­schen­den Klas­se im Wes­ten sind. Das Glei­che stellt man sich in Bezug auf Wla­di­mir Putin und die Cli­que um ihn her­um vor. Putin, der die mör­de­ri­sche Aus­plün­de­rung der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on beauf­sich­tig­te und der von Jel­zin aus­ge­wählt wur­de, in stän­di­ger Abstim­mung mit Clin­ton arbei­tend, um die Kon­trol­le über die rus­si­sche Bevöl­ke­rung nach der Rubel­kri­se (die ihrer­seits in erheb­li­chem Maße ein Ergeb­nis der durch das Dol­lar-Wall-Street-Regime ver­ur­sach­ten Tur­bu­len­zen war) abzu­si­chern und zu kon­so­li­die­ren. Die Kri­se hat gezeigt, dass das Kapi­tal so raub­gie­rig war, dass es einen Staat hin­ter­las­sen hat, der zu schwach war, um eine nach­hal­ti­ge Aus­beu­tung des­sen, was von der UdSSR übrig geblie­ben war, durch­zu­set­zen. Putin hat­te offen­sicht­lich den Auf­trag, dies zu kor­ri­gie­ren. Die Vor­stel­lung, dass Putin oder Xi trotz ihrer rea­len poli­ti­schen Geschich­te, ihrer Poli­tik, ihrer Stel­lung in den Eigen­tums­ver­hält­nis­sen und ihrer rea­len mate­ri­el­len Grund­la­gen poli­ti­scher Macht ein wirk­lich ant­ago­nis­ti­sches Ver­hält­nis zu der herr­schen­den Klas­se haben, die sie an die Macht gebracht hat, ist absurd. Sei es in der Form, dass sie sich ein­bil­den, sie wür­den ihre eige­nen diver­gie­ren­den impe­ria­lis­ti­schen Inter­es­sen ver­fol­gen oder eine Art (viel­leicht wider­wil­li­gen) anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kampf mit dem Wes­ten füh­ren. Die Tat­sa­che, dass sie den mons­trö­sen Angriff der herr­schen­den Klas­se auf die Mensch­heit in den letz­ten zwei Jah­ren unter dem Deck­man­tel die­ser lächer­li­chen »Coronavirus«-Fabel im Gleich­schritt durch­ge­setzt haben, lässt kei­nen Zwei­fel dar­an aufkommen.

Was viel­leicht noch skan­da­lö­ser ist, ist die Tat­sa­che, dass die Mas­sen des impe­ria­len Kerns mit all ihren rudi­men­tä­ren arbei­ter­aris­to­kra­ti­schen Pri­vi­le­gi­en in vie­ler­lei Hin­sicht wei­ter sind als die Kom­mu­nis­ten, die vor­schla­gen wür­den jene zu füh­ren. Dies äußert sich vor allem in Form von »Ver­schwö­rungs­theo­rien«, die selbst in ihrer vul­gärs­ten Form, wenn sie orga­nisch sind, die wirk­li­che Intui­ti­on der Mas­sen zum Aus­druck brin­gen, dass die herr­schen­de Klas­se immer weni­ger zurech­nungs­fä­hig ist und dass sie, die Mas­sen, ent­rech­tet und ent­eig­net wer­den. Die gro­ße Mehr­heit der Arbei­ter auf der gan­zen Welt ist nie­mals scho­ckiert oder ent­setzt über »Ver­schwö­rungs­theo­rien« – sie wer­den sie im All­ge­mei­nen in Betracht zie­hen, die Bewei­se prü­fen und sie gege­be­nen­falls zurück­wei­sen. Aber klas­sen­be­wuss­te Arbei­ter leh­nen die Vor­stel­lung, dass die herr­schen­de Klas­se sich (größ­ten­teils ver­deckt und oft auf kri­mi­nel­le Wei­se) ver­schwo­ren hat, um sie zu unter­jo­chen, nie­mals von vorn­her­ein ab – ihre täg­li­che Erfah­rung ist eine stän­di­ge Erin­ne­rung an die end­lo­se Ket­te von Ver­schwö­run­gen der herr­schen­den Klas­se gegen ihre Interessen.

In der Tat ist die ein­zi­ge Klas­se in der Welt, die die­sen krei­schen­den Ter­ror vor »Ver­schwö­rungs­theo­rien« an den Tag legt, die impe­ria­le Klein­bour­geoi­sie, die Klas­se, die fast aus­schließ­lich davon lebt, der Bour­geoi­sie zu schmei­cheln. Dass Ange­hö­ri­ge die­ser Klas­se einen über­gro­ßen Ein­fluss in mar­xis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen gewon­nen haben, ist offen­sicht­lich. Und die ideo­lo­gi­schen Vor­ur­tei­le, die sie – oft unbe­wusst – durch­set­zen, sind pures Gift für die kom­mu­nis­ti­sche Bewe­gung. Es ist die­se Klas­se, die for­dert, dass wir Ver­schwö­rungs­theo­rien ableh­nen oder igno­rie­ren sol­len, weil wir damit die Öffent­lich­keit ver­prel­len wür­den. Mit die­sen For­de­run­gen tun sie das, was man ihnen bei­gebracht hat. Damit bezie­hen sie sich nicht auf die rea­le, kon­kre­te Öffent­lich­keit, son­dern auf die künst­li­che, fabri­zier­te, durch das Spek­ta­kel geschaf­fe­ne »Öffent­lich­keit« im Spie­gel­saal. In der rea­len Mas­se ist die »Ver­schwö­rungs­theo­rie« kein Tabu. 90 Pro­zent der Deut­schen glau­ben nicht, dass die US-Regie­rung die vol­le Wahr­heit über 9/11 sagt – 40 Pro­zent glau­ben an eine gehei­me Welt­re­gie­rung, noch mehr glau­ben, dass die Regie­rung kri­mi­nell ist. Tele­fon­um­fra­gen zei­gen häu­fig, dass etwa die Hälf­te der Ame­ri­ka­ner der Dar­stel­lung des Bush-Che­ney-Regimes über die Anschlä­ge vom 11. Sep­tem­ber nicht glau­ben. Dabei ist zu beden­ken, dass Tele­fon­um­fra­gen in ers­ter Linie älte­re und wohl­ha­ben­de­re Ame­ri­ka­ner betref­fen, die der Regie­rung eher glau­ben und eher die Fern­seh­nach­rich­ten kon­su­mie­ren. Eine Umfra­ge aus dem Jahr 2007, kurz bevor Barack Oba­ma ein­ge­setzt wur­de, um die Legi­ti­mi­tät der Regie­rung in der Bevöl­ke­rung mas­siv zu stär­ken, ergab, dass mehr als die Hälf­te der Befrag­ten wünsch­te, dass der Kon­gress Bush und Che­ney wegen der Anschlä­ge abset­zen soll­te. 67 Pro­zent sag­ten, die 9/11-Kom­mis­si­on hät­te den Ein­sturz von Gebäu­de 7 unter­su­chen sol­len. Wie­der­hol­te Umfra­gen, die gemein­sam von der New York Times und dem Fern­seh­sen­der CBS – gewiss kei­ne Sys­tem­kri­ti­ker – durch­ge­führt wur­den, erga­ben, dass eine klei­ne Min­der­heit von Ame­ri­ka­nern – nie mehr als ein Vier­tel und im April 2004 sogar nur 16 Pro­zent – glaub­te, dass das Bush-Regime die Wahr­heit sag­te, als es bestritt, von den Anschlä­gen gewusst zu haben. Eine Umfra­ge aus dem Jahr 2007 ergab, dass mehr als 60 Pro­zent der Ame­ri­ka­ner es für eini­ger­ma­ßen oder sehr wahr­schein­lich hiel­ten, dass Leu­te in der Bun­des­re­gie­rung von den Anschlä­gen wuss­ten und sich ent­schie­den, nicht zu reagie­ren.31

Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts, ein ech­tes (inzwi­schen abtrün­ni­ges) Mit­glied der herr­schen­den Klas­se, hat ein­mal festgestellt:

Wis­sen Sie, ich bin ein Ver­schwö­rungs-Fuß­sol­dat, wis­sen Sie, ich wur­de mein gan­zes Leben lang dazu erzo­gen, Ver­schwö­run­gen zu pla­nen. Ich war mein gan­zes Leben lang Teil von Tau­sen­den von Ver­schwö­run­gen. Ich bin in einer Welt auf­ge­wach­sen, in der die Men­schen mäch­tig waren und Ver­schwö­run­gen nutz­ten, um ihre Zukunft zu gestal­ten. Man baut die Zukunft auf, eine Trans­ak­ti­on und ein Pro­jekt nach dem ande­ren – und es geht immer um Inves­ti­tio­nen, es geht immer um Res­sour­cen, es geht immer um Geld. Und selbst­ver­ständ­lich macht man das immer als Ver­schwö­rung, weil man den Mund hal­ten muss, weil man sonst von ande­ren auf­ge­hal­ten wird – ich sage nicht, dass das ille­gal ist – ich sage nur, dass die Ver­schwö­rung das grund­le­gen­de Werk­zeug ist, das die Men­schen benut­zen, um ihre Zukunft auf­zu­bau­en. Wenn du sie jetzt ver­un­glimpfst, wirst du hilf­los und macht­los sein und nicht wis­sen, wie die Welt funk­tio­niert. Also hören Sie ein­fach damit auf, denn Sie wis­sen, dass wir uns dar­auf kon­zen­trie­ren müs­sen, erfolg­rei­che Ver­schwö­run­gen zu star­ten und durch­zu­füh­ren, denn das ist es, was gewinnt.32

Die an der Spit­ze wis­sen, dass sie sich ver­schwö­ren. Die am Boden wis­sen, dass jene sich gegen sie ver­schwö­ren. Wir soll­ten uns nicht mit der – glo­bal gese­hen – extre­men Min­der­heit befas­sen, die ver­sucht den Ers­te­ren zu schmei­cheln, indem sie sich ein­re­det, dass sie sich nicht verschwören.

6. Der Finanz-Coup

Lei­der muss die­ser Abschnitt im Inter­es­se der recht­zei­ti­gen Ver­öf­fent­li­chung die­ses Bei­trags zum Kom­mu­nis­mus-Kon­gress in Ber­lin stark gekürzt und mit weni­gen Zita­ten ver­se­hen bleiben.

Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts hat, nach­dem sie sich erfolg­reich aus einem zehn­jäh­ri­gen Rechts­streit wegen poli­ti­scher Ver­fol­gung mit dem Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um her­aus­ge­ar­bei­tet hat, weil sie die Machen­schaf­ten des ers­ten Bush-Regimes auf­ge­deck­te, dar­an gear­bei­tet, das auf­zu­de­cken, was sie als Finanz-Coup bezeich­net. Im Wesent­li­chen hat sie die die Auf­fas­sung unter­mau­ert, dass spä­tes­tens ab Ende der 90er-Jah­re die grund­le­gen­de Ent­schei­dung getrof­fen wor­den sei die Ver­ei­nig­ten Staa­ten »auf­zu­ge­ben«. Man kann sich schließ­lich kaum vor­stel­len, dass die herr­schen­de Klas­se nach der erfolg­rei­chen Erobe­rung der kom­mu­nis­ti­schen Welt die Absicht hat­te die sozi­al­staat­li­chen Ver­pflich­tun­gen, zu denen sie unter den ungüns­ti­gen Ver­hand­lungs­be­din­gun­gen des Kal­ten Krie­ges gezwun­gen war, ein­zu­hal­ten. Dies geschah zum Teil durch ein kon­zer­tier­tes Dere­gu­lie­rungs­pro­gramm, das Fitts als die »gro­ße Ver­gif­tung« bezeich­net und die Ver­brau­cher mit lebens­ver­kür­zen­den, gif­ti­gen Pro­duk­ten (ein­schließ­lich Impf­stof­fen) überschwemmt.

Noch wich­ti­ger ist jedoch, dass dies die Her­bei­füh­rung der Zah­lungs­un­fä­hig­keit des Finanz­mi­nis­te­ri­ums bedeu­te­te, das die Ver­pflich­tun­gen gegen­über der Öffent­lich­keit über­nom­men hat. Eine Fol­ge war die Per­ver­si­on oder Ein­stel­lung aller ande­ren staat­li­chen Funk­tio­nen aus­ge­nom­men der Unter­drü­ckung und Plün­de­rung. Die­ses Pro­gramm, die Essenz des Rea­ganis­mus, wur­de in allen Berei­chen des öffent­li­chen Diens­tes umge­setzt. Doch Fitts kon­zen­triert ihre Auf­merk­sam­keit auf einen Kno­ten­punkt, der mit der Wall Street und ihrem kon­kre­ten Betrug am ame­ri­ka­ni­schen Staat, dem mas­si­ven Trans­fer von Reich­tum an nicht offen­ge­leg­te Quel­len, ver­bun­den ist. Die Ana­ly­se von Fitts ist natür­lich durch ihre Klas­sen­la­ge, ihren Beruf und ihr poli­ti­sches Enga­ge­ment äußerst begrenzt. Nichts­des­to­trotz lie­fert sie eine sol­che Fül­le von Erkennt­nis­sen zu so vie­len The­men, die von der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung unter­schätzt wer­den, dass es sich lohnt, sie hier aus­führ­lich zu zitie­ren. Was folgt, ist ein Tran­skript aus einem Pod­cast-Inter­view. Sie beginnt mit der inzwi­schen wohl­be­kann­ten Tat­sa­che, dass die der­zei­ti­ge, angeb­lich durch eine Pan­de­mie aus­ge­lös­te Kri­se in wirt­schaft­li­cher Hin­sicht auf den Repo-Märk­ten im Som­mer 2019 sicht­bar war, bevor das Virus selbst ange­kün­digt wurde:

Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts: Die G7-Zen­tral­ban­ker kamen zusam­men – in ers­ter Linie ver­sam­meln sich die G7-Ban­kiers jedes Jahr in Jack­son Hole bei einer der Fed-Mit­glieds­ban­ken, wo sie ihre Poli­tik dis­ku­tie­ren und ent­wi­ckeln. Bei dem Tref­fen in Jack­son Hole im August 2019 tra­fen sich die Zen­tral­ban­ker und stimm­ten über einen Plan namens ›Going Direct Reset‹ ab. Das Welt­wirt­schafts­fo­rum, das eine – Sie wis­sen schon, die Davos-Grup­pe, ist für mich nur ein Mar­ke­ting­arm des Going Direct Reset. Der eigent­li­che Plan wird von den Zen­tral­ban­kern vor­an­ge­trie­ben. Es han­delt sich um eine Umge­stal­tung der Funk­ti­ons­wei­se des Regie­rungs­sys­tems und des Finanz­sys­tems auf dem Pla­ne­ten Erde. Für mich begann dies in den 90er-Jah­ren. Ich nen­ne es den Finanz-Coup. Jetzt beschleu­nigt er sich zu einem viel aggres­si­ve­ren Coup. Der Finanz-Coup, der 1998 begann, soll­te für vie­le Men­schen unsicht­bar sein. Wir über­schwemm­ten die Wirt­schaft mit Schul­den, so dass alle dach­ten, die Zei­ten sei­en gut. Die Ver­än­de­run­gen in der Kon­trol­le, die im Stil­len hin­ter den Kulis­sen durch­ge­führt wur­den, wur­den nicht bemerkt. Sie stimm­ten also über die­sen Plan ab, der aus meh­re­ren Tei­len besteht. Einer davon ist das mas­si­ve Dru­cken von Geld und Ver­schul­dung, sodass das Geld zu den Insi­dern fließt, die dann alles auf dem Mono­po­ly­brett auf­kau­fen kön­nen und die Zer­stö­rung der Unter­neh­men und Geschäf­te und Cash­flows der Außen­sei­ter fordern …

Neh­men wir an, in einem Häu­ser­block gibt es ein gro­ßes bör­sen­no­tier­tes Unter­neh­men mit einem gro­ßen Kauf­haus, dann gibt es noch hun­dert klei­ne Geschäf­te: Sie erklä­ren die hun­dert klei­nen Geschäf­te für unwich­tig. Dann gehen alle Kun­den zu dem bör­sen­no­tier­ten gro­ßen Kauf­haus, was des­sen Gewin­ne in die Höhe treibt, was wie­der­um den Akti­en­markt in die Höhe treibt. Sie spie­len also ein Spiel der Kon­so­li­die­rung des gesam­ten Reich­tums in – wie Geor­ge H.W. Bush es nann­te – ›immer fes­te­ren Hän­den‹. Wäh­rend Sie damit beschäf­tigt sind, eine Mil­li­on klei­ner Unter­neh­men in Ame­ri­ka zu zer­stö­ren, wol­len Sie die Men­schen so ver­wir­ren, dass sie nicht mer­ken, was pas­siert. Also erzählt man ihnen, es gäbe die Pest und eine Krank­heit und sie wür­den alle ster­ben. Man mache das alles nur um zu hel­fen. Es ist im Grun­de ein Spiel der Wirt­schafts­kriegs­füh­rung. Je mehr man die Leu­te dumm hält, damit sie sich im Kreis dre­hen und nicht ver­ste­hen, was vor sich geht und je mehr Angst sie haben, des­to schnel­ler und bil­li­ger kann man es machen.

Trish Wood: Was ist letzt­end­lich der Zweck davon, was wol­len sie erreichen?

Cathe­ri­ne Aus­tin Fitts: Was sie also errei­chen wol­len, ist eine Gesell­schaft, in der der Res­sour­cen­ver­brauch eines Indi­vi­du­ums viel gerin­ger ist. Die obers­ten – je nach­dem, wo man die Zahl ansetzt, sagen wir, das obers­te eine Pro­zent – wer­den hun­dert­fünf­und­vier­zig Jah­re alt, weil die Bio­tech­no­lo­gie das mög­lich macht, wäh­rend die Men­schen, die nicht zu die­sem Pro­zent­satz gehö­ren, ein poli­tisch weni­ger ein­fluss­rei­ches, weni­ger res­sour­cen­rei­ches Leben fris­ten wer­den. Wenn man sich die Geschich­te der Skla­ve­rei ansieht, muss man wis­sen, dass die Skla­ve­rei das pro­fi­ta­bels­te Geschäft aller Zei­ten ist, das bes­te Inves­ti­ti­ons­ge­schäft, das je geschaf­fen wur­de. Aber die Skla­ve­rei wur­de beim letz­ten Mal abge­schafft, weil man die Sicher­hei­ten nicht per­fek­tio­nie­ren konn­te – man konn­te eini­ge der Skla­ven­auf­stän­de nicht nie­der­schla­gen. Die Digi­tal­tech­nik gibt ihnen die Mög­lich­keit, die Sicher­hei­ten zu per­fek­tio­nie­ren und alle Rebel­lio­nen nie­der­zu­schla­gen – wenn sie ein voll­stän­di­ges Kon­troll­netz ein­rich­ten kön­nen. Und so gibt es ihnen die tech­no­lo­gi­sche Fähig­keit, jeden im Wesent­li­chen auf Skla­ve­rei zu redu­zie­ren – eine bewusst­seins­ge­steu­er­te Skla­ve­rei: Im Jahr 2030 wer­den Sie kein Ver­mö­gen haben und Sie wer­den glück­lich sein. Das ist die Visi­on. Und das eine Pro­zent kann es sich leis­ten bis 145 Jah­re alt zu wer­den und ein sehr wohl­ha­ben­des Leben zu füh­ren, weil der Res­sour­cen­ver­brauch in der All­ge­mein­be­völ­ke­rung so stark redu­ziert wur­de.33

Natür­lich folgt das, was Fitts beschreibt, logisch aus Lenins Ana­ly­se. Er beob­ach­te­te zu sei­ner Zeit folgendes:

Damals war es mög­lich, die Arbei­ter­klas­se eines Lan­des zu bestechen, für Jahr­zehn­te zu kor­rum­pie­ren. Heu­te ist das unwahr­schein­lich und eigent­lich kaum mög­lich, dafür aber kann jede impe­ria­lis­ti­sche ›Gro­ß’­macht klei­ne­re (als in Eng­land 1848 – 1868) Schich­ten der ›Arbei­ter­aris­to­kra­tie‹ bestechen und besticht sie auch. Damals konn­te sich die ›bür­ger­li­che Arbei­ter­par­tei‹, um das außer­or­dent­lich tref­fen­de Wort von Engels zu gebrau­chen, nur in einem ein­zi­gen Land, dafür aber für lan­ge Zeit, her­aus­bil­den, denn nur ein Land besaß eine Mono­pol­stel­lung. Jetzt ist die ›bür­ger­li­che Arbei­ter­par­tei‹ unver­meid­lich und typisch für alle impe­ria­lis­ti­schen Län­der, aber in Anbe­tracht des ver­zwei­fel­ten Kamp­fes die­ser Län­der um die Tei­lung der Beu­te ist es unwahr­schein­lich, daß eine sol­che Par­tei auf lan­ge Zeit in meh­re­ren Län­dern die Ober­hand behal­ten könn­te. Denn die Trus­te, die Finanz­olig­ar­chie, die Teue­rung usw., die die Bestechung einer dün­nen Ober­schicht ermög­li­chen, unter­drü­cken, unter­jo­chen, rui­nie­ren und quä­len die Mas­se des Pro­le­ta­ri­ats und Halb­pro­le­ta­ri­ats immer mehr.34

Mol­ly Klein hat in der Tat mit bemer­kens­wer­ter Prä­zi­si­on vor­aus­ge­sagt35, dass sich die herr­schen­de Klas­se auf etwas Ähn­li­ches wie das, was unter dem Vor­wand »Coro­na« ein­ge­führt wur­de, vor­be­rei­tet hat, lan­ge bevor die Pest im Jahr 2019 über­haupt erwähnt wurde.

Wie oben gezeigt wur­de, zwan­gen die außer­ge­wöhn­li­chen poli­ti­schen Umstän­de des Kal­ten Krie­ges, des exis­ten­zi­el­len Kamp­fes mit dem revo­lu­tio­nä­ren Kom­mu­nis­mus, die herr­schen­de Klas­se dazu, eine brei­te Arbei­ter­aris­to­kra­tie zu kul­ti­vie­ren. Unter den Bedin­gun­gen des kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Kamp­fes und des zwi­schen­im­pe­ria­lis­ti­schen Kamp­fes inner­halb der Tria­de USA-West­eu­ro­pa-Japan (sowie inne­rer wider­sprüch­li­cher Ten­den­zen in der Geld­ver­sor­gung) wur­de von der Avant­gar­de der herr­schen­den Klas­se eine Stra­te­gie gewählt, die es ihr ermög­lich­te über den ame­ri­ka­ni­schen Dol­lar, das ame­ri­ka­ni­sche Mili­tär und die von den USA kon­trol­lier­ten ver­deck­ten Geheim­dienst­net­ze eine noch nie dage­we­se­ne Macht über den kapi­ta­lis­ti­schen Block und in der Fol­ge über die Welt zu erlangen.

Dia­lek­tisch ver­floch­ten mit der Kon­so­li­die­rung der Macht über den Glo­bus durch die von den USA geführ­te kapi­ta­lis­ti­sche herr­schen­de Klas­se war die Kon­so­li­die­rung und Kon­zen­tra­ti­on der Macht inner­halb der herr­schen­den Klas­se selbst. So wie die kapi­ta­lis­ti­schen Natio­nen auf der Makro­ebe­ne gezwun­gen waren, sich der ame­ri­ka­ni­schen Füh­rung unter­zu­ord­nen, wenn sie die revo­lu­tio­nä­re kom­mu­nis­ti­sche Alter­na­ti­ve nicht akzep­tier­ten, so bedeu­te­te die Dyna­mik die­ses Pro­zes­ses, dass die Kon­zen­tra­ti­on der glo­ba­len Macht eine zuneh­mend kon­so­li­dier­te und ver­deck­te rea­le Füh­rung inner­halb der Vor­hut der Ver­ei­nig­ten Staa­ten her­vor­brach­te. Die Macht hier­ar­chisch orga­ni­sier­ter, nach­rich­ten­dienst­lich geführ­ter Macht­struk­tu­ren zur Erlan­gung der Vor­herr­schaft unter sol­chen Umstän­den war, wenn man das gro­ße Gan­ze betrach­tet, unver­meid­lich. Es ist daher nicht son­der­lich über­ra­schend, dass die mäch­tigs­ten »Kapi­ta­lis­ten« heu­te in Wirk­lich­keit gar kei­ne Kapi­ta­lis­ten sind, son­dern direk­te Geschöp­fe des ultra­im­pe­ria­lis­ti­schen mili­tä­risch-geheim­dienst­lich-indus­tri­el­len Kom­ple­xes. Men­schen wie Gates, Musk oder Bezos lei­ten kei­ne kapi­ta­lis­ti­schen Unter­neh­men, die Risi­ken ein­ge­hen und Waren für einen Ver­brau­cher­markt pro­du­zie­ren. Ihr Reich­tum stammt aus erzwun­ge­nem Kon­sum – erzwun­gen in dem Sin­ne, dass die Steu­er­zah­ler die Pro­duk­te über die Staats­haus­hal­te »kau­fen« müs­sen oder buch­stäb­lich gezwun­gen wer­den, sie mit recht­li­chen und poli­ti­schen Mit­teln zu kon­su­mie­ren. Ein Unter­neh­men wie Ama­zon, das nie einen Gewinn erwirt­schaf­tet hat, in das aber die­je­ni­gen, die über Insi­der­wis­sen ver­fü­gen, wei­ter­hin inves­tie­ren und das erst Gewin­ne erziel­te, als es staat­li­che Auf­trä­ge erhielt, kann nicht als kapi­ta­lis­ti­sches Unter­neh­men ver­stan­den wer­den. Es ist ein direk­ter Mecha­nis­mus der ultra­mo­no­po­lis­ti­schen Kon­so­li­die­rung.

Die­se Rück­kehr zu immer nack­te­ren und direk­te­ren For­men der Aus­beu­tung geht ein­her mit einer ent­spre­chen­den Explo­si­on des Spek­ta­kels, das not­wen­dig ist, um sie zu ver­schlei­ern – die mas­si­ve Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tur, die end­lo­se Des­in­for­ma­ti­on. Ele­men­te die­ses Wan­dels wer­den durch die fort­be­stehen­den Hül­len der kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­se ver­schlei­ert, aber die grund­le­gend ande­re Ord­nung, unter der wir jetzt leben, wird beim gerings­ten ernst­haf­ten Nach­den­ken deut­lich. Ein Groß­teil der Über­wa­chungs- und Kon­troll­tech­no­lo­gien, denen wir zuneh­mend unter­wor­fen sind, wird bei­spiels­wei­se durch eine fau­le, unaus­ge­go­re­ne Art der Ana­ly­se als ver­zwei­fel­te Suche nach »Klicks« und »Daten« erklärt. Wenn dies zuträ­fe, müss­te die Kon­sum­macht der so unter­stell­ten Bevöl­ke­rung so groß sein, dass ihre dif­fe­ren­zier­ten Käu­fe sol­che mas­si­ven Kapi­tal­aus­ga­ben recht­fer­ti­gen – und ren­ta­bel machen – wür­den. Dies geschieht jedoch, wäh­rend die brei­te Mas­se, selbst im Wes­ten, ihre Kauf­kraft expo­nen­ti­ell schrump­fen sieht. Noch ein­mal: All die­se Über­wa­chun­gen und Daten sind nicht auf­grund eines ech­ten kapi­ta­lis­ti­schen Mark­tes »pro­fi­ta­bel«, son­dern weil jemand (die Regie­rung und »pri­va­te« Geheim­diens­te) sie wegen ihres Nut­zens für die Aus­übung direk­ter Kon­trol­le kauft. Daten sind nicht das »neue Öl«: Das »neue Öl« ist die mas­siv erwei­ter­te Fähig­keit der herr­schen­den Klas­se, Sie aus­zu­beu­ten, indem sie die Daten, die sie über Sie gesam­melt hat, direkt und indi­rekt nutzt. Wir und unse­re kol­lek­ti­ve, dro­hen­de Ver­skla­vung sind das »neue Öl«.

Eine ange­mes­se­ne Dar­stel­lung der Ent­wick­lung des Impe­ria­lis­mus seit den 1970er-Jah­ren, die in naher Zukunft in einem ergän­zen­den Bei­trag zu die­sem Essay behan­delt wer­den wird, müss­te sich ins­be­son­de­re mit der Kon­so­li­die­rung der Macht der herr­schen­den Klas­se befas­sen, die durch den 11. Sep­tem­ber 2001 und den »Krieg gegen den Ter­ror«, die Finanz­kri­se von 2008 und natür­lich das fabri­zier­te Spek­ta­kel »Pan­de­mie« der letz­ten zwei Jah­re erreicht wur­de. Sie müss­te auch die BRICS-Staa­ten, vor allem Chi­na, als wich­ti­ge Labo­ra­to­ri­en für Expe­ri­men­te der herr­schen­den Klas­se bei der Ver­klei­ne­rung und Neu­ver­tei­lung der Pri­vi­le­gi­en der Arbei­ter­aris­to­kra­tie betrach­ten, viel­leicht ent­lang der nack­ten Ras­sen- oder Kastengrenzen.

Es ist jedoch hof­fent­lich genug gezeigt wor­den, um dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die extre­me Kon­so­li­die­rung, Dis­zi­plin und Geschlos­sen­heit der gegen­wär­ti­gen inter­na­tio­na­len herr­schen­den Klas­se kaum über­schätzt wer­den kann. Und in ihrem (bis­her) erfolg­rei­chen Kampf gegen die revo­lu­tio­nä­ren Mas­sen sowie die nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Schich­ten unter ihnen haben sie die glo­ba­le Ord­nung grund­le­gend ver­än­dert. Sie sind jetzt in einer Posi­ti­on, in der sie eine viel direk­te­re Kon­trol­le über die Bevöl­ke­rung aus­üben kön­nen und müs­sen – in der sie kein auch nur annä­hernd frei­es oder unab­hän­gi­ges Kapi­tal mehr dul­den können.

Die größ­te Her­aus­for­de­rung für die herr­schen­de Klas­se in die­sem Über­gang ist natür­lich die Volks­re­vo­lu­ti­on. Sie voll­füh­ren den hei­kels­ten Tanz bei der kon­trol­lier­ten Zer­stö­rung pri­vi­le­gier­ter Sozi­al­de­mo­kra­tien, die sie nicht mehr brau­chen, die aber die Grund­la­ge für die mili­tä­ri­sche Macht bil­de­ten, mit der sie ihre Herr­schaft auf dem gan­zen Glo­bus durch­setz­ten. Sie jon­glie­ren mit der heik­len Fra­ge, wie sie die Kon­trol­le über ihr Ver­mö­gen behal­ten kön­nen, wäh­rend sie uns alle betrü­gen. Offen­sicht­lich beab­sich­ti­gen sie eine mas­si­ve Redu­zie­rung der Gesamt­be­völ­ke­rung sowie eine dra­ma­ti­sche Sen­kung des Lebens­stan­dards der­je­ni­gen, die für sie arbei­ten müs­sen. Es lohnt sich, dar­an zu erin­nern, dass dies nicht unbe­dingt immer bedeu­tet, die am wenigs­ten Pri­vi­le­gier­ten anzu­grei­fen, vor allem nicht die, über die sie eine eini­ger­ma­ßen soli­de Kon­trol­le haben. Das Nazi­pro­gramm hat sich durch die Aus­plün­de­rung (»Ari­sie­rung«) des bür­ger­li­chen und klein­bür­ger­li­chen jüdi­schen Besit­zes wesent­lich liqui­des Kapi­tal ver­schafft. Die herr­schen­de Klas­se ver­folgt die­se Zie­le durch ver­schie­de­ne Stra­te­gien, nicht »unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter unmit­tel­bar vor­ge­fun­de­nen, gege­be­nen und über­lie­fer­ten Umstän­den«.36 Zu den größ­ten Risi­ken in die­ser Ent­wick­lung gehö­ren die post­so­wje­ti­schen (und chi­ne­si­schen) Mas­sen mit einer ech­ten leben­di­gen Erin­ne­rung an den Sozia­lis­mus und mit einem weit­aus gerin­ge­ren Anteil an der gegen­wär­ti­gen Ord­nung als die west­li­chen Mas­sen, die sich immer noch ver­zwei­felt an ihre immer elen­der wer­den­den »Pri­vi­le­gi­en« klammern.

Die herr­schen­de Klas­se kann ihren Wil­len in die­sem gro­ßen wogen­den Meer der Mas­sen nie­mals direkt durch­set­zen. Sie muss ihre Zie­le durch die Kana­li­sie­rung unse­rer eige­nen Ener­gie errei­chen. Wie Lenin schon sagte:

Ohne Wäh­len geht es in unse­rem Zeit­al­ter nicht; ohne die Mas­sen kommt man nicht aus, die Mas­sen aber kön­nen im Zeit­al­ter des Buch­drucks und des Par­la­men­ta­ris­mus nicht geführt wer­den ohne ein weit­ver­zweig­tes, sys­te­ma­tisch ange­wand­tes, soli­de aus­ge­rüs­te­tes Sys­tem von Schmei­che­lei Lüge, Gau­ne­rei […].37

In unse­rer Zeit geht nichts mehr ohne Spek­ta­kel. Ein gro­ßer Teil des geplün­der­ten Reich­tums der zurück­er­ober­ten sozia­lis­ti­schen Welt floss in den »Dot-Com-Boom«, in die mas­si­ven Inves­ti­tio­nen in Tech­no­lo­gien zur Über­wa­chung, Pro­pa­gan­da, Bewusst­seins­kon­trol­le wie »Ent­rain­ment«, Des­in­for­ma­ti­on und Mani­pu­la­ti­on. In ihrer effek­tivs­ten Form mobi­li­siert dies die stärks­ten Ener­gien der Mas­sen. Dies ist mit dem gro­ßen Risi­ko ihrer Akti­vie­rung ver­bun­den. Der Coro­na-Betrug funk­tio­nier­te nicht nur durch Ter­ror und Gewalt, son­dern auch durch die Irre­füh­rung der bes­ten mensch­li­chen Instink­te, der Soli­da­ri­tät und unse­rer rich­ti­gen Intui­ti­on, dass das Kapi­tal uns um des Pro­fits wil­len unnö­ti­gen Risi­ken aus­set­zen wür­de. Die Mas­sen in Russ­land und der Ukrai­ne – wie in den meis­ten ehe­mals sozia­lis­ti­schen Län­dern – haben den Coro­na-Betrug weit­ge­hend durch­schaut und gehö­ren zu den am wenigs­ten geimpf­ten oder ander­wei­tig will­fäh­ri­gen Bevöl­ke­run­gen der Welt. Sie stel­len Gebie­te mit einem enor­men revo­lu­tio­nä­ren Poten­zi­al dar, das sich natür­lich gegen ihre eige­nen Kom­pra­do­ren­re­gie­run­gen rich­ten soll­te. Der wirk­lich revo­lu­tio­nä­re Wunsch der rus­si­schen Mas­sen, den rea­len Faschis­mus zu bekämp­fen, wird in einen Kon­flikt gelenkt, von dem wir als aller­letz­tes anneh­men soll­ten, dass er sich tat­säch­lich um einen rea­len Grund­kon­flikt zwi­schen den jewei­li­gen herr­schen­den Klas­sen­frak­tio­nen dreht, die ihn orches­trie­ren. Unse­re ers­te Fra­ge soll­te lau­ten: Was sind die Zie­le des gemein­sa­men (oder Ultra‑, Super- oder Kol­lek­tiv-) Impe­ria­lis­mus in die­sem Kon­flikt. Wel­che Aspek­te ihres Pro­gramms wer­den vor­an­ge­trie­ben? Wie wer­den die für sie gefähr­lichs­ten Mas­sen durch den Fleisch­wolf gedreht, wie wird die Mili­ta­ri­sie­rung und der anhal­ten­de »Aus­nah­me­zu­stand« gerecht­fer­tigt? Wie wird der Lebens­stan­dard der Mas­sen wei­ter gesenkt und die direk­te Kon­trol­le der herr­schen­den Klas­se über die Wirt­schaft vorangetrieben?

Oder viel­leicht könn­te man mit einer ein­fa­che­ren Fra­ge begin­nen. Die Genos­sin Yana beschreibt in her­vor­ra­gen­der Wei­se den kom­pra­do­ren­haf­ten Cha­rak­ter der rus­si­schen Bour­geoi­sie und des Staa­tes. Sie zeigt, wie effek­tiv Mehr­wert und Res­sour­cen aus Russ­land zum Nut­zen der impe­ria­lis­ti­schen herr­schen­den Klas­se abge­zo­gen wer­den. Jeder kann sehen, wie die Show des guten Bul­len und des bösen Bul­len zwi­schen Putin und dem Wes­ten ein Dau­er­bren­ner der Pro­pa­gan­da für die wich­tigs­ten Ziel­grup­pen bei­der Par­tei­en ist: Nichts macht Putin für die rus­si­schen Mas­sen attrak­ti­ver als die in den west­li­chen Medi­en end­los ver­brei­te­te Lüge, dass er den Wes­ten bekämpft. Aber man muss sich nach Yanas Ana­ly­se wirk­lich fra­gen: Wel­che bes­se­re Ord­nung könn­te sich das Impe­ri­um für Russ­land über­haupt vor­stel­len? Gibt es eine denk­ba­re Ord­nung, die die rei­bungs­lo­se und dau­er­haf­te Aus­beu­tung der rus­si­schen Mas­sen effek­ti­ver gewähr­leis­tet als die, die es unter Putins Füh­rung bereits genießt?

Lenin sag­te einst: »Der Kapi­ta­lis­mus, der sei­ne Ent­wick­lung als klei­nes Wucher­ka­pi­tal begann, been­det sei­ne Ent­wick­lung als rie­si­ges Wucher­ka­pi­tal.«38 Wir könn­ten hier auch anmer­ken, dass der Kapi­ta­lis­mus, der mit Pira­te­rie und Skla­ven­han­del begann, zu die­sem zurück­kehrt. In der Tat ver­glich Isa Blu­mi in einem äußerst scharf­sin­ni­gen Inter­view im März 2022 die Pra­xis der der­zei­ti­gen herr­schen­den Klas­se mit Pira­te­rie. Mol­ly Klein hat in der Ver­gan­gen­heit von Neo-Bar­ba­rei gespro­chen. In Anleh­nung an Lenins spöt­ti­sche Bemer­kung, dass die ein­zi­ge Ver­bes­se­rung, die Kaut­sky an Hob­son vor­ge­nom­men hat­te, dar­in bestand, »Inter­im­pe­ria­lis­mus« durch »Super- oder Ultra­im­pe­ria­lis­mus« zu erset­zen, könn­ten wir fest­stel­len, dass die Seman­tik hier unwich­tig ist. Klar ist, dass die herr­schen­de Klas­se auf eine noch unver­hüll­te­re Aus­beu­tung zurück­grei­fen kann und muss, die nur durch die aus­ge­klü­gel­te Maschi­ne­rie des Spek­ta­kels ver­schlei­ert wird. Als sol­che waren sie noch nie so ver­wund­bar; der Kom­mu­nis­mus war viel­leicht noch nie so leicht zu erreichen.

Indem die herr­schen­de Klas­se in Russ­land die tie­fe Nost­al­gie und die kol­lek­ti­ve Erin­ne­rung an den Sozia­lis­mus und den Kampf gegen den Hit­ler­fa­schis­mus aus­nutzt, spielt sie mit dem Feu­er. Viel­leicht kön­nen sie in ihrer Hybris und in ihrer Bös­ar­tig­keit die mensch­li­che Macht nicht begrei­fen, die sie mit die­sem Schach­zug zu usur­pie­ren ver­su­chen. Unse­re größ­ten Hoff­nun­gen ruhen auf den rus­si­schen und ukrai­ni­schen Mas­sen, die die herr­schen­de Klas­se mit äußers­ter Vor­sicht, ja sogar auf ihre äußers­te Gefahr hin auf­rüs­tet. Eine der offen­sicht­li­chen Funk­tio­nen des Krie­ges besteht dar­in, eine umfang­rei­che mili­tä­ri­sche Auf­rüs­tung in Euro­pa zu recht­fer­ti­gen und zu ver­schlei­ern, denn schließ­lich besteht in Euro­pa tat­säch­lich die Aus­sicht auf eine Revo­lu­ti­on. Der hel­den­haf­te Kampf der Men­schen im Don­bass zeigt uns den Weg nach vor­ne. Als Reak­ti­on auf den Nazi-Putsch schlos­sen sich die Mas­sen des Don­bass 2014 einem Auf­ruf an, sich nicht Russ­land anzu­schlie­ßen, son­dern die Sowjet­re­pu­blik Donezk-Kri­woj Rog wie­der zu errich­ten. Dies war ein bewuss­ter Schritt zum Auf­bau des uni­ver­sel­len Sowjets, der unse­re ein­zi­ge denk­ba­re und rea­li­sier­ba­re Hoff­nung ist ange­sichts der nahe­zu flä­chen­de­cken­den Beherr­schung der Welt durch die herr­schen­de Klas­se und ihres unge­zü­gel­ten Angriffs auf prak­tisch die gesam­te Welt­be­völ­ke­rung. Wir müs­sen uns nur von dem Spek­ta­kel los­rei­ßen, das Drop-Down-Menü des Tages zurück­wei­sen, das uns die all­ge­gen­wär­ti­ge Ton- und Licht­show der herr­schen­den Klas­se prä­sen­tiert. Wir müs­sen unse­ren eige­nen Weg bestimmen.

Lan­ge Zeit ließ sich die kom­mu­nis­ti­sche Bewe­gung in Euro­pa von den eta­blier­ten Struk­tu­ren der kapi­ta­lis­tisch-impe­ria­lis­ti­schen Gesell­schaft abhän­gig machen – nicht nur im Hin­blick auf Infor­ma­tio­nen, son­dern auch auf vie­les ande­re. Das war ver­ständ­lich, denn der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Kom­pro­miss, der in der Arbei­ter­aris­to­kra­tie ver­an­kert war, ver­lieh den eta­blier­ten Ein­rich­tun­gen einen ech­ten, wenn auch abge­schwäch­ten demo­kra­ti­schen Inhalt. Sie waren gegen­über einer (wenn auch nur teil­wei­se) frei­en Bevöl­ke­rung tat­säch­lich und in erheb­li­chem Maße rechen­schafts­pflich­tig. Dies ist schon lan­ge nicht mehr der Fall. Die Main­stream-Medi­en im wei­tes­ten Sin­ne sind heu­te völ­lig aus­ge­höhlt, kon­trol­liert und feind­lich gegen­über den Inter­es­sen der brei­ten Mas­se über­all. Ande­rer­seits wer­den täg­lich immer grö­ße­re Mas­sen aus der Sys­tem­kon­for­mi­tät geris­sen. Die Kapa­zi­tät, uns hier im Wes­ten mas­sen­haft zu orga­ni­sie­ren, um unse­re Inter­es­sen durch­zu­set­zen, ist so groß wie seit Jahr­zehn­ten nicht mehr.

Ver­schwö­rung kommt vom latei­ni­schen con-spi­ra­re: gemein­sam atmen. Das heißt, das zu tun, was die herr­schen­de Klas­se in den letz­ten zwei Jah­ren mit Haus­ar­rest, Ein­schrän­kun­gen, Distanz und Mas­ken ver­bo­ten hat. Oder bes­ser gesagt – wie bei den unzäh­li­gen Gele­gen­hei­ten, bei denen wir sie hin­ter den Kulis­sen erwi­schen, immer unmas­kiert und intim –, was die herr­schen­de Klas­se sich als ihr aus­schließ­li­ches Recht vor­be­hal­ten hat. Es ist an der Zeit, dass wir ihre Beschrän­kun­gen unse­res Han­delns und Den­kens zurück­wei­sen, dass wir die Rea­li­tät der Pra­xis der herr­schen­den Klas­se aner­ken­nen und dass wir uns zur Durch­set­zung unse­rer eige­nen Inter­es­sen zusammenschließen.

Beson­de­re Aner­ken­nung gebührt Mol­ly Klein, die nicht nur die Quel­le für einen Groß­teil der hier vor­ge­stell­ten Ana­ly­sen ist, son­dern auch bei der Zusam­men­stel­lung und Bear­bei­tung die­ses Auf­sat­zes eine gro­ße Hil­fe war. Die­se Arbeit ver­dankt sich außer­dem ins­be­son­de­re den Ana­ly­sen von Phil Gre­a­ves, Jacob Levich und Hieropunk.

Die eng­li­sche Ori­gi­nal­ver­si­on die­ses Tex­tes erschien am 24. Sep­tem­ber 2022 in der Mag­Ma Eng­lish. Außer­dem liegt eine tür­ki­sche Über­set­zung vor: Emperya­lizm Günümüz­de Bir Kom­plo Uygulamasıdır

Ver­wei­se

3 Karl Marx – Fried­rich Engels – Wer­ke, Band 25, »Das Kapi­tal«, Bd. III, Fünf­ter Abschnitt, S. 451 – 457
Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1983, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​2​5​/​m​e​2​5​_​4​5​1​.​htm

8 Lenin, Impe­ria­lis­mus, Kap. VII, http://​www​.mlwer​ke​.de/​l​e​/​l​e​2​2​/​l​e​2​2​_​2​6​9​.​htm

10 John May­nard Keynes, All­ge­mei­ne Theo­rie der Beschäf­ti­gung, des Zin­ses und des Gel­des, Dun­cker & Hum­blot, München/​Leipzig 1936 (Zitat ist aus dem letz­ten Kapitel).

11 Karl Marx – Fried­rich Engels – Wer­ke, Band 25, »Das Kapi­tal«, Bd. III, Drit­ter Abschnitt, S. 251 – 277
Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1983, Kap. 15, II [Her­vor­he­bung im Ori­gi­nal], http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​2​5​/​m​e​2​5​_​2​5​1​.​htm

12 Lenin, Impe­ria­lis­mus, Kap. II [Her­vor­he­bung im Ori­gi­nal], http://​www​.mlwer​ke​.de/​l​e​/​l​e​2​2​/​l​e​2​2​_​2​1​4​.​htm

14 Ebenda.

16 Karl Marx/​Friedrich Engels – Wer­ke, Band 8, »Der acht­zehn­te Bru­mai­re des Lou­is Bona­par­te«, S. 115 – 123, Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1972, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​0​8​/​m​e​0​8​_​1​1​5​.​htm

17 W.I. Lenin, »Der Impe­ria­lis­mus und die Spal­tung des Sozia­lis­mus« (Okto­ber 1916), Lenin, Wer­ke, Bd.23, Ber­lin 1957, S.102 – 118, https://​www​.mar​xists​.org/​d​e​u​t​s​c​h​/​a​r​c​h​i​v​/​l​e​n​i​n​/​1​9​1​6​/​1​0​/​s​p​a​l​t​u​n​g​.​h​tml

18 Lenin, Impe­ria­lis­mus, Kap. IX.

21 John Titus, »2021 Annu­al Wrap Up: Sove­reig­n­ty with John Titus,« Sola­ri Report, Febru­ary 2022, S. 42.

22 Eben­da, S. 51.

23 Ebenda.

24 Sie­he Chris San­ders und Cath­rin Aus­tin Fitts, »The Black Bud­get of the United Sta­tes«, in: World Affairs: The Jour­nal of Inter­na­tio­nal Issues, Vol. 8, No. 2 (APRIL-JUNE 2004), pp. 17 – 34, https://​www​.jstor​.org/​s​t​a​b​l​e​/​4​8​5​0​4​790

25 Karl Marx – Fried­rich Engels – Wer­ke, Band 23, »Das Kapi­tal«, Bd. I, Sie­ben­ter Abschnitt, S. 741 – 791
Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1968, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​2​3​/​m​e​2​3​_​7​4​1​.​h​t​m​#​K​a​p​_​2​4_6

26 Karl Marx/​Friedrich Engels – Wer­ke, Band 8, »Der acht­zehn­te Bru­mai­re des Lou­is Bona­par­te«, S. 115 – 123, Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1972, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​0​8​/​m​e​0​8​_​1​1​5​.​htm

27 Sie­he Chris San­ders und Cath­rin Aus­tin Fitts, »The Black Bud­get of the United Sta­tes«, in: World Affairs: The Jour­nal of Inter­na­tio­nal Issues, Vol. 8, No. 2 (APRIL-JUNE 2004), pp. 17 – 34, https://​www​.jstor​.org/​s​t​a​b​l​e​/​4​8​5​0​4​790

28 Ebenda.

29 Ebenda.

32 Minu­te 1:13 Trish Wood is Cri­ti­cal, May 7, 2022

36 Karl Marx/​Friedrich Engels – Wer­ke, Band 8, »Der acht­zehn­te Bru­mai­re des Lou­is Bona­par­te«, S. 115 – 123, Dietz Ver­lag, Berlin/​DDR 1972, http://​www​.mlwer​ke​.de/​m​e​/​m​e​0​8​/​m​e​0​8​_​1​1​5​.​htm

38 Lenin, Impe­ria­lis­mus, Kap. III.

Bild: »Tod dem Impe­ria­lis­mus« von Dim­triy Moor

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