»Bieten uns die internationalen Kartelle, die Kautsky Keime des ›Ultraimperialismus‹ zu sein scheinen (wie man auch die Erzeugung von Tabletten im Laboratorium als einen Keim der Ultralandwirtschaft ansprechen ›kann‹), etwa nicht ein Beispiel der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt, des Übergangs von friedlicher Aufteilung zu nicht friedlicher und umgekehrt?«
Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917)
Inhalt
2. Der Imperialismus nach der Gründung der UdSSR
3. Exkurs: Imperialismus als eigenständige Produktionsweise – eine theoretische Möglichkeit?
3.1 Vulgärer »Multipolarismus« ist der wahre moderne Kautskyismus
3.2 Imperialismus im und nach dem Zweiten Weltkrieg
4. Das Nixon‐Gambit und seine Vorläufer
1. Einleitung
Vor mehr als einem Jahrhundert hat Lenin mit seinem Pamphlet Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus das marxistische Denken entscheidend weiterentwickelt und klarer herausgearbeitet. Lenins Intervention ermöglichte ein wissenschaftliches Verständnis von Entwicklungen, die Marx und Engels zwar im Ansatz erkannt hatten, die aber zu ihrer Zeit noch nicht so weit entwickelt waren, als dass sie vollständig verstanden werden konnten. Lenin machte sich daran zu zeigen, dass in dem knappen Vierteljahrhundert seit dem Tod von Engels eine qualitative Veränderung im Wesen des Kapitalismus stattgefunden hatte: Der Kapitalismus war zum Imperialismus geworden. Zwischen Lenin und uns liegen heute der Aufstieg des Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die Chinesische Revolution, die Dekolonialisierung und natürlich die Rückeroberung mehr oder weniger des gesamten Erdballs durch die triumphierende herrschende Klasse. Kurzum: die Welt hat sich stark verändert. Lenins Erkenntnisse sind von großer Relevanz, aber man kann sie nicht aus ihrem lebendigen Zusammenhang herausreißen und mechanisch auf den unseren übertragen.
In der Debatte, die die Kommunistische Organisation (KO) bisher veranstaltet hat, gab es eine Reihe von durchdachten Versuchen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen: Wie hat die Erfahrung von einem halben Jahrhundert Sozialismus die Struktur der Wirtschaft in den jetzt postsozialistischen Ländern beeinflusst. Dabei hat man sich natürlich weitgehend auf Russland konzentriert, aber es hat offensichtliche und interessante Implikationen für das Verständnis Chinas und des übrigen ehemals befreiten Drittels der Menschheit, das nun wieder unter dem Joch der herrschenden Klasse steht. Was jedoch schmerzlich vermisst wird, ist eine angemessene Auseinandersetzung mit der folgenden, ergänzenden Frage: Wie hat der Kampf gegen ein halbes Jahrhundert Sozialismus die Struktur des Kapitalismus verändert?
Diese Frage wird im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Ausgangspunkt ist die scharfsinnige Feststellung Lenins im zehnten Kapitel seiner Imperialismusschrift, dass der Imperialismus als »als parasitäre[r] oder in Fäulnis begriffene[r] Kapitalismus« verstanden werden müsse. Der Imperialismus ist das höchste, das heißt das letzte Stadium des Kapitalismus. Lenin ist sich darüber im Klaren: Das System als Ganzes würde nicht eine Stufe zurückfallen, nicht zum nicht‐imperialistischen Kapitalismus zurückkehren (dies ist der Kern seiner Kontroverse mit Kautsky). Für Lenin deutete der Imperialismus also nicht nur auf das Ende des Kapitalismus hin, sondern war tatsächlich bereits der Anfang dieses Endes. Das »Monopol« sobald verallgemeinert, das Lenin richtigerweise als gleichbedeutend mit dem Imperialismus identifiziert, ist »Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung«.1 Die Grundannahme, die dem größten Teil der bisherigen Debatte zugrunde liegt, ist, dass Lenins Analyse richtig war, aber sein Timing zu optimistisch war: Der Imperialismus ist das letzte Stadium des Kapitalismus, aber er hat viel länger überdauert, als es Lenin offensichtlich für wahrscheinlich hielt.
Aber Lenins Einschätzung, dass der Imperialismus seiner Zeit bereits die Überwindung des Kapitalismus darstellte, war tatsächlich richtig. Sein übertriebener Optimismus lag nicht in seiner Chronologie, sondern in seiner Teleologie begründet: der Annahme, dass das Ende des Kapitalismus das Ende der Klassengesellschaft im Allgemeinen bedeuten müsse. Das ist aber nicht der Fall. Kein ernsthafter theoretischer Materialist kann zumindest das Prinzip leugnen, dass eine Alternative möglich ist. Dies ist in der Tat implizit in unserer gesamten politischen Arbeit enthalten: Wenn Sozialismus und Kommunismus wirklich unvermeidlich wären, warum dann so viel Zeit und Mühe aufwenden, um eine Revolution durchzuführen? Ungeduld? Natürlich nicht: Wir engagieren uns im politischen Kampf, weil wir wissen, dass wir verlieren können – wir wissen, dass die herrschende Klasse gewinnen kann. In der Tat sind sie sehr nahe daran, genau das zu tun.
Und wenn viele selbsternannte Marxisten vergessen haben, dass wir Politik machen – die Welt bewusst in unserem eigenen Interesse gestalten –, so haben noch mehr einen weit größeren Fehler begangen: Sie haben nicht erkannt, dass die herrschende Klasse ebenfalls Politik macht. Die conditio sine qua non für das Vorankommen des kommunistischen Projekts der Befreiung des Menschen wird darin bestehen, uns von den kleinbürgerlichen Pathologien zu befreien, die den Marxismus so korrumpiert und verkrüppelt haben: Akademismus, Mystifikationen, Obskurantismus, Strukturalismus und dergleichen mehr. Wir müssen zu dem scharfen Bewusstsein für Politik zurückkehren, das bei Marx, Engels, Lenin, Stalin, Gramsci, Mao, Hoxha, Sankara, Newton und allen anderen großen Marxisten zu finden ist und das heute so schmerzlich fehlt. Wir müssen die bewussten, aktiven und absichtlichen Gegenmaßnahmen verstehen, die die herrschende Klasse als Reaktion auf den teilweisen Erfolg der ersten Welle der sozialistischen Revolution und den sich ständig verändernden, täglichen Kampf zwischen Kapital und Arbeit ergriffen hat.
Die ungeheuerlichste, am meisten anti‐materialistische Abweichung, die den Marxismus heute untergräbt, ist die hysterische Allergie gegen »Verschwörungstheorien«. Selbst wenn Lenin die Möglichkeit einer anhaltenden Massenkooperation der Weltbourgeoisie auf höchster Ebene (das heißt Ultra‐ oder Interimperialismus) ausschloss, geht seine Analyse notwendigerweise davon aus, dass, solange der kapitalistische Imperialismus fortbesteht, die interne Konzentration der Macht in immer weniger Händen weitergehen muss. In seinem Imperialismus erklärte er bereits, dass »Deutschland […] von höchstens 300 Kapitalmagnaten regiert [wird], und ihre Zahl wird stetig geringer.« Wie viele Kapitalmagnaten dürften heute in Deutschland oder einem anderen kapitalistischen Land tatsächlich regieren? Und wie könnte die koordinierte Kontrolle durch eine so kleine Anzahl, eine Anzahl, deren Macht illegitim ist und sich hinter einer demokratischen Fassade verstecken muss, anders aussehen als vermittel durch endlose Verschwörungen?
2. Der Imperialismus nach der Gründung der UdSSR
Die einschneidenden Entwicklungen im Weltsystem seit Lenins Zeit haben die Tendenz zur Machtkonzentration und damit die Verschwörung als ihre Erscheinungsform nur verstärkt. Vor allem ist es tragisch, dass die Revolution, die Lenin zu Recht als notwendige Reaktion auf die Tendenzen des Imperialismus voraussah (von der er also annahm, dass sie diese aufhalten würde), zwar stattfand, aber unvollständig blieb. Die zentralen Machtzentren, die in den Händen der herrschenden Kapitalistenklasse verblieben, wurden in Festungen zur Rückeroberung der Erde verwandelt.
Dies ist ein Zustand, den sich Lenin nicht vollständig vorstellen konnte. Er stellt fest, dass eine dauerhafte und nachhaltige Zusammenarbeit zwischen den imperialistischen Bourgeoisien bei der gegenseitigen Aufteilung und Ausbeutung der Welt auf Dauer unmöglich sei, weil das Kräfteverhältnis zwischen ihnen dynamisch ist und sich ständig verschiebt. Wenn die Teilung des Territoriums der realen Machtdynamik widerspricht, fragt Lenin in Kapitel XII seiner Imperialismusschrift, »wie können dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt?« Nun, aus semantischen Gründen könnte man sagen: Es stimmt schon: Wenn die Imperialisten diese Widersprüche untereinander ohne zwischenimperialistischen Krieg lösen können, dann haben wir vielleicht Recht, wenn wir sagen, dass wir in einem System leben, das sich grundlegend von dem unterscheidet, das Marx beschrieben hat.
Aber abgesehen von der Semantik, gibt es nicht eine Entwicklung, die diesen Sachverhalt tatsächlich möglich macht? Gibt es nicht eine Sache, die die wundersame Kraft hat, den Imperialisten dabei zu helfen, ihre Differenzen beizulegen und Frieden zu schließen – nämlich die Revolution der Arbeiterklasse? Wie Marx bereits 1848 feststellte, vereinte der Pariser Juni‐Aufstand
[…] im kontinentalen Europa so in England, alle Fraktionen der herrschenden Klassen, Grundeigentümer und Kapitalisten, Börsenwölfe und Krämer, Protektionisten und Freihändler, Regierung und Opposition, Pfaffen und Freigeister, junge Huren und alte Nonnen, unter dem gemeinschaftlichen Ruf zur Rettung des Eigentums, der Religion, der Familie, der Gesellschaft (Kapital, Bd. 1, Kap. 8, Abschnitt 6)!
Gleich zu Beginn des Manifests wird derselbe Punkt mit noch größerer Bedeutung angeführt: »Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd« gegen das »Gespenst des Kommunismus« verbündet: »der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten«. Zu Lenins Zeiten war die Tendenz, sich gegen die Revolution zu verbünden, natürlich nicht stark genug, um die Tendenz zu gewaltsamen zwischenimperialistischen Konflikten zu überwinden. Die Unfähigkeit der Kapitalisten‐Imperialisten, ihre Differenzen zu überwinden und der daraus resultierende Erste Weltkrieg führten in der Tat zu nichts weniger Verheerendem für alle Kapitalisten als zur ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution und der Gründung der UdSSR.
Zeitgleich mit der Dynamik des zwischenimperialistischen Krieges und des ultraimperialistischen konterrevolutionären Kampfes (vor allem gegen die UdSSR) und zum Teil durch diese Dynamik angetrieben, traten Faktoren auf, die das Wesen und die Fähigkeit der imperialistischen herrschenden Klasse entscheidend veränderten – alles im Wesentlichen in Form von Monopolen oder Ultramonopolen: Die Luftwaffe, ein Monopol über den Himmel; die Kommunikationsindustrie und die ständig wachsende monopolistische Kontrolle über die menschliche Kommunikation; die Entwicklung hochentwickelter und zentralisierter Nachrichtendienste, die ein Informationsmonopol und vielleicht allmählich auch ein allgemeines Macht‐ und Gewaltmonopol mit sich brachten; und schließlich unter den Schiedsmännern der letzteren eine noch nie dagewesene Kontrolle über (offene und verdeckte) Einkommensströme, die zu Lenins Zeiten unvorstellbar war und die die entsprechenden Fähigkeiten zur Bestechung, Unterwanderung, Ermordung, Korruption und so weiter mit sich brachte.
Es würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen, Wesen und Inhalt des Zweiten Weltkriegs vollständig zu schematisieren. Aber wir müssen die Aufmerksamkeit auf einige hervorstechende Fakten lenken. Einer davon ist, dass der Nazismus (der vor allem durch eine Verschwörung deutscher Kapitalisten – im Wesentlichen die Kontinuität der von Lenin erwähnten 300 Magnaten – mit amerikanischer Unterstützung installiert wurde) sich selbst ausdrücklich als eine Art Programm für den Ultraimperialismus darstellte: Der Vorschlag der Nazis war eine Welt, die relativ freundschaftlich zwischen Amerikanern, Deutschen, Briten und Japanern aufgeteilt wurde. Das Naziregime war zumindest teilweise auch als ultraimperialistische Waffe gedacht, die von den anderen großen westlichen imperialistischen Mächten vorläufig akzeptiert oder sogar gefördert wurde, um die revolutionäre Sowjetunion zu zerschlagen.
Unabhängig davon, ob man den Krieg als zwischenimperialistischen Konflikt oder als ultraimperialistische konterrevolutionäre (Rück-)Eroberung betrachtet (er war natürlich all das und noch mehr), ist klar, dass am Ende dieser Konvulsion wieder einmal größere Gebiete den Händen der herrschenden Klasse entrissen worden waren. Ein Nettogewinn für die Menschheit war errungen worden, wenn auch zu unvorstellbaren Kosten (die allerdings kein Revolutionär je in Frage stellte: kein Marxist war je der Meinung, dass es sich damals gelohnt hätte, die Versklavung zu akzeptieren, um »Leben zu retten«, obwohl viele selbsternannte Marxisten heute genau diese Position eifrig vertreten).
Einer der Gründe, warum die herrschende Klasse in Europa so spektakulär scheiterte, war natürlich ihre eigene Arroganz, ihr Glaube an ihre eigene schädliche Pseudowissenschaft (diese »bewies« zum Beispiel die inhärente Minderwertigkeit der Slawen, zu jener Zeit der »wissenschaftliche Expertenkonsens« des kapitalistischen Westens). Andere Gründe des Scheiterns sind teilweise im vorsätzlichen politischen Kampf der Massen zu suchen – einschließlich der Verschwörungen, wie die sowjetische Verschwörung zur Untergrabung der konkurrierenden Verschwörung bestimmter Nazi‐Fraktionen, die einen Waffenstillstand mit den USA aushandeln wollten, um sich gemeinsam auf die UdSSR zu konzentrieren (brilliant fiktionalisiert in dem sowjetischen Klassiker Siebzehn Momente des Frühlings).
Dennoch waren die kapitalistischen Großmächte am Ende des Zweiten Weltkriegs noch lange nicht besiegt. Ein Großteil der sozialistischen Welt blieb mit einer zerschmetterten Bevölkerung zurück, die verzweifelt den Wiederaufbau auf gesalzener Erde versuchte. Der überwiegende Teil des von den faschistischen Kräften geplünderten Reichtums sowie die meisten faschistischen Anführer wurden in ein nunmehr geeintes imperialistisches Lager unter amerikanischer Hegemonie eingegliedert. Eine trügerische, oberflächliche »Entnazifizierung« in Deutschland verdeckte die Stärkung derselben gesellschaftlichen Kräfte, die hinter dem Hitlerfaschismus standen, was mutatis mutandis auch für Japan gilt (siehe insbesondere The New Germany and The Old Nazis, Tetens; Martin Bormann – Nazi in Exile, Manning; All Honourable Men, Martin; Gold Warriors, Seagrave – ja, das gesamte Werk von Seagrave; siehe auch das umfangreiche Material zu diesem Thema von Dave Emory).
Hier sehen wir den wesentlichen Punkt: die empirisch offensichtliche Tatsache der totalen ultra‐imperialistischen Hegemonie, die die USA nach dem Zweiten Weltkrieg über die kapitalistische Welt errichtet haben. Diese Hegemonie wurde nicht nur zum Zweck der gemeinsamen Ausbeutung der Dritten Welt errichtet, sondern vor allem darum, den existenziellen Kampf gegen den Kommunismus zu führen, den »Kalten Krieg«. Dabei überschneiden sich beide Motive, da Ausbeutung stets den Befreiungskampf der Ausgebeuteten für den Sozialismus nach sich zieht. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der globalen Konterrevolution wurde die Uhr nicht auf 1917 zurückgestellt. Die Erfahrung des Sozialismus hat die ganze Welt grundlegend verändert. Die triumphierende Kapitalistenklasse plünderte nicht nur den kollektiven Reichtum der sozialistischen Welt, sondern auch deren kollektive Erfahrung und Wissen. Die Kapitalisten, die die vergesellschaftete Produktion übernahmen, vor allem in China, genossen eine Machtposition und eine zentralisierte Kontrolle, die zuvor innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen unvorstellbar gewesen war.
Dies ist ein Arrangement, das Lenin nie explizit untersucht hat. Seine Ablehnung des Ultraimperialismus befasst sich nicht mit der Möglichkeit einer Welt, die auf unbestimmte Zeit (friedlich oder nicht) zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten aufgeteilt ist. Schon gar nicht hat er sich mit der Aussicht auf einen dauerhaften sozialistischen Aufbau mit anschließender Konterrevolution auseinandergesetzt. Da dies die Welt ist, die sich tatsächlich herausgebildet hat, ist es die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen müssen – unter Verwendung der vielen hilfreichen Werkzeuge, die Lenin in angemessener und undogmatischer Weise zur Verfügung gestellt hat.
3. Exkurs: Imperialismus als eigenständige Produktionsweise – eine theoretische Möglichkeit?
Wie bereits erwähnt, betont Lenin wiederholt, dass der imperialistische Kapitalismus »ein Übergangskapitalismus« im »Fäulniszustand« oder eben »ein sterbender Kapitalismus« sei. Besonders interessant und bedeutsam ist, dass Lenin im Hauptteil des ursprünglichen Pamphlets sehr vorsichtig ist und es meidet, abschließend zu sagen, in was er sich verwandelt. Dies kann natürlich auch einfach der »äsopischen Sprache« geschuldet sein, in der, wie er lamentierte, schreiben musste, um die zaristische Zensur zu umgehen. Wenige Monate nach der Erstveröffentlichung behauptet er in dem Artikel »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus«, der im Oktober 1916 veröffentlicht wurde und oft als Anhang dem Imperialismuspamphlet beigefügt ist, tatsächlich einfach: »[…] der Imperialismus ist bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn seines Übergangs in den Sozialismus.«2
Ob nun beabsichtigt oder ein Symptom der Zensur, die Unbestimmtheit des früheren Textes hat sich als zutreffender erwiesen als die Zuversicht des späteren Artikels, der sicher ist, dass nichts anderes als der Sozialismus herauskommen wird. Denn sie tragen dazu bei, die Tatsache zu erhellen, dass der Imperialismus die grundlegenden Bedingungen, die für das von Marx beschriebene kapitalistische System notwendig sind, eindeutig untergräbt. Wie Molly Klein anmerkt, könnte man in einem sehr begrenzten und eingeschränkten Sinne sogar anerkennen, dass es sich bei dem, was gerade aufgebaut wird, um eine Form des Sozialismus handelt – insofern, als dieser Begriff als Gegensatz zum Individualismus und nicht zum Kapitalismus daherkommt. Was offensichtlich und konkret geschieht, ist die dramatische Vergesellschaftung sowohl der Produktion als auch der Verteilung. Allerdings geschieht dies auf hierarchische Weise, im Gegensatz zu den egalitären Konnotationen des Sozialismus, wie wir den Begriff üblicherweise verwenden. Was wir hier sehen, ist keine sozialistische Sowjetrepublik, sondern eher eine platonische, das heißt eine faschistoide, autoritär‐hierarchische Republik.
Hier ist es hilfreich, einige bemerkenswert vorausschauende Passagen von Marx selbst aus dem dritten Band des Kapitals, genauer Kapitel 27 »Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion«, zu berücksichtigen, auf die Molly Klein in diesem Zusammenhang hingewiesen hat. Sie sind es wert, in aller Ausführlichkeit zitiert zu werden. Hier ist Marx zu den Auswirkungen der Gründung von Aktiengesellschaften, kursiv im Original, fett hinzugefügt vom Verfasser:
1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.
2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.
3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, das heißt den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, das heißt als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum. Der Profit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil desselben, der Zins, der seine Rechtfertigung aus dem Profit des Borgers zieht) als bloße Aneignung fremder Mehrarbeit, entspringend aus der Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital, das heißt aus ihrer Entfremdung gegenüber den wirklichen Produzenten, aus ihrem Gegensatz als fremdes Eigentum gegenüber allen wirklich in der Produktion tätigen Individuen, vom Dirigenten bis herab zum letzten Taglöhner. In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit. Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als das Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum. Es ist andrerseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im Reproduktionsprozeß in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen.
Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.
Abgesehn von dem Aktienwesen – das eine Aufhebung der kapitalistischen Privatindustrie auf Grundlage des kapitalistischen Systems selbst ist, und in demselben Umfang, worin es sich ausdehnt und neue Produktionssphären ergreift, die Privatindustrie vernichtet -, bietet der Kredit dem einzelnen Kapitalisten oder dem, der für einen Kapitalisten gilt, eine innerhalb gewisser Schranken absolute Verfügung über fremdes Kapital und fremdes Eigentum und dadurch über fremde Arbeit.Verfügung über gesellschaftliches, nicht eignes Kapital, gibt ihm Verfügung über gesellschaftliche Arbeit. Das Kapital selbst, das man wirklich oder in der Meinung des Publikums besitzt, wird nur noch die Basis zum Kreditüberbau. Es gilt dies besonders im Großhandel, durch dessen Hände der größte Teil des gesellschaftlichen Produkts passiert. Alle Maßstäbe, alle mehr oder minder innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise noch berechtigten Explikationsgründe verschwinden hier. Was der spekulierende Großhändler riskiert, ist gesellschaftliches, nicht sein Eigentum. Ebenso abgeschmackt wird die Phrase vom Ursprung des Kapitals aus der Ersparung, da jener gerade verlangt, daß andre für ihn sparen sollen. Der andren Phrase von der Entsagung schlägt sein Luxus, der nun auch selbst Kreditmittel wird, direkt ins Gesicht. Vorstellungen, die auf einer minder entwickelten Stufe der kapitalistischen Produktion noch einen Sinn haben, werden hier völlig sinnlos. Das Gelingen und Mißlingen führen hier gleichzeitig zur Zentralisation der Kapitale und daher zur Expropriation auf der enormsten Stufenleiter. Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. Diese Expropriation ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise; ihre Durchführung ist ihr Ziel, und zwar in letzter Instanz die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln, die mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion aufhören, Mittel der Privatproduktion und Produkte der Privatproduktion zu sein, und die nur noch Produktionsmittel in der Hand der assoziierten Produzenten, daher ihr gesellschaftliches Eigentum, sein können, wie sie ihr gesellschaftliches Produkt sind. Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapitalistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige; und der Kredit gibt diesen wenigen immer mehr den Charakter reiner Glücksritter. Da das Eigentum hier in der Form der Aktie existiert, wird seine Bewegung und Übertragung reines Resultat des Börsenspiels, wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden. In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.
Wenn das Kreditwesen als Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel erscheint, so nur, weil der Reproduktionsprozeß, der seiner Natur nach elastisch ist, hier bis zur äußersten Grenze forciert wird, und zwar deshalb forciert wird, weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Kapitals von den Nichteigentümern desselben angewandt wird, die daher ganz anders ins Zeug gehn als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer, soweit er selbst fungiert. Es tritt damit nur hervor, daß die auf den gegensätzlichen Charakter der kapitalistischen Produktion gegründete Verwertung des Kapitals die wirkliche, freie Entwicklung nur bis zu einem gewissen Punkt erlaubt, also in der Tat eine immanente Fessel und Schranke der Produktion bildet, die beständig durch das Kreditwesen durchbrochen wird. Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.
Die dem Kreditsystem immanenten doppelseitigen Charaktere: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel‐ und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden […].3
Marx mag hier durch seine teleologischen Tendenzen, seinen Glauben an eine historische Mission des Kapitalismus und die Unvermeidbarkeit des Sozialismus etwas eingeschränkt sein. Andererseits war die Orientierung und Berechnung, wie Klein feststellt, eine höchst berechtigte Interpretation der Wahrscheinlichkeiten, die dem Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zur Zeit von Marx innewohnten. Die technologischen und taktischen Fortschritte der Kapitalistenklasse im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben die Verhältnisse grundlegend verändert. Auf jeden Fall liefert der gute Materialist Marx eine kristallklare und eindringliche Analyse, umso mehr, wenn man bedenkt, wie unausgegoren die Prozesse waren, die er so tiefgreifend erfasst hat. Daraus geht vor allem hervor, dass die gemeinsamen Prozesse der Monopolisierung und der Finanzialisierung nicht mit dem normalen Funktionieren der kapitalistischen Verhältnisse, die den Hauptgegenstand seiner Untersuchung bilden, koexistieren können. Er spricht nicht von einer neuen nicht‐sozialistischen Produktionsweise – aber er kommt auch nicht auf die Idee, dass der Kapitalismus als herrschende Produktionsweise auf diese Weise so lange fortbestehen kann, wie wir uns das vorzustellen haben!
Dies ist der entscheidende Punkt und die Verwirrung des faulen mechanischen Dogmatismus, der sich auf die Autorität von Marx oder Lenin beruft, um die Möglichkeit einer alternativen Produktionsweise, die aus dem Kapitalismus hervorgeht, auszuschließen. Auch wenn es für eine solche Behauptung keinen überzeugenden Präzedenzfall gibt, steht die Vorstellung, dass der Kapitalismus so lange nach denselben grundlegenden Gesetzen fortbestehen könnte, in weitaus größerem Widerspruch zum Geist der Arbeiten von Marx und Lenin. Es muss auch betont werden, dass das, was die herrschende Klasse momentan versucht, extrem ehrgeizig und riskant ist und sehr wahrscheinlich scheitern wird. Es liegt jedoch an uns zu erkennen, worum es sich handelt und dafür zu sorgen, dass sie keinen Erfolg haben.
Um Lenins Verständnis des Imperialismus als notwendiger und unwiderruflicher Übergang aus dem Kapitalismus heraus zu begründen, lohnt es sich, eine Reihe einschlägiger Zitate anzuführen:
[…] daß privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muß, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.4
In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet.
Die Produktion wird vergesellschaftet, die Aneignung jedoch bleibt privat. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel bleiben Privateigentum einer kleinen Anzahl von Personen. Der allgemeine Rahmen der formal anerkannten freien Konkurrenz bleibt bestehen, und der Druck der wenigen Monopolinhaber auf die übrige Bevölkerung wird hundertfach schwerer, fühlbarer, unerträglicher.5
Der alte Kapitalismus hat sich überlebt. Der neue ist ein Übergang zu etwas anderem.
Mit anderen Worten: Der alte Kapitalismus, der Kapitalismus der freien Konkurrenz mit der Börse als unerläßlichem Regulator, schwindet dahin. Er wird von einem neuen Kapitalismus abgelöst, dem deutliche Züge einer Übergangserscheinung, einer Mischform von freier Konkurrenz und Monopol anhaften. Natürlich drängt sich die Frage auf, in was dieser neueste Kapitalismus »übergeht«, aber die bürgerlichen Gelehrten schrecken vor dieser Fragestellung zurück.6
[…] ein Monopol, das aus dem Kapitalismus erwachsen ist und im allgemeinen Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem allgemeinen Milieu steht. Dennoch erzeugt es, wie jedes andere Monopol, unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis.7
Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.8
Ironischerweise sehen sich diejenigen, die die Kernaussagen dieses Aufsatzes bestreiten, im Allgemeinen auf einer Linie mit Lenins Kritik an Kautsky. Der Punkt, auf den Lenin in seiner Kritik an Kautsky unermüdlich hinweist, ist jedoch, dass sich der Kapitalismus nicht vom Imperialismus auf eine weniger aggressive Form zurückziehen und so in einer Art relativ stabilem Zustand verharren kann. Der Konkurrenzkapitalismus untergräbt unaufhörlich seine eigenen Voraussetzungen durch Konzentration und Monopolisierung. Es gibt eine klare Tendenz zur Ausdehnung des Monopols bis hin zur völligen Abschaffung des Wettbewerbskapitalismus: »Das kapitalistische Monopol wächst aus dem Kapitalismus heraus, steht aber dennoch in einem ständigen unauflöslichen Widerspruch zu dieser allgemeinen Umwelt.«9 Keynes selbst bemerkte bekanntlich, dass das, was der Kapitalismus brauche, »die Euthanasie des Rentiers« sei.10 Lenin erkennt auch die regressive, kontraproduktive Tendenz des Monopols an, beispielsweise eine neue Technologie zu unterdrücken, wenn dies ein einfacheres Mittel zur Erhaltung seiner Position darstellt.
Der wesentliche Punkt von Marx, der in dem langen Zitat oben wiederholt wird und den Dengisten ein Gräuel ist, ist, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse an einem bestimmten Punkt der Entwicklung zu einer Fessel für die Produktion werden. Wie er im dritten Band des Kapitals betont, ist […] die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion […] das Kapital selbst.11 In den Anfangsstadien des Kapitalismus förderte er die immer größere Produktion von nützlichen Dingen sehr. Nach Marx‹ Einschätzung hatte er jedoch in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts bereits einen Punkt der Regression erreicht! (So viel dazu, dass die Ausbeuterbetriebe von Foxconn für die Entwicklung der Produktionsmittel unerlässlich seien.) Bedeutsam ist jedoch die Beobachtung von Marx, dass bestimmte Fraktionen der herrschenden Klasse durch das Kreditsystem in der Lage waren, die Grenzen der Privatproduktion zu überwinden, ohne ihre Fähigkeit zur (kollektiven) privaten Aneignung des Überschussprodukts zu verlieren – und diese sogar noch auszubauen.
Lenin beobachtete, ganz ähnlich wie Marx, wie dies gerade durch die Finanzialisierung erreicht wurde:
Aus den zersplitterten Kapitalisten entsteht ein einziger kollektiver Kapitalist. Die Bank, die das Kontokorrent für bestimmte Kapitalisten führt, übt scheinbar eine rein technische, eine bloße Hilfsoperation aus. Sobald aber diese Operation Riesendimensionen annimmt, zeigt sich, daß eine Handvoll Monopolisten sich die Handels und Industrieoperationen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft unterwirft, indem sie – durch die Bankverbindungen, Kontokorrente und andere Finanzoperationen – die Möglichkeit erhält, sich zunächst über die Geschäftslage der einzelnen Kapitalisten genau zu informieren, dann sie zu kontrollieren, sie durch Erweiterung oder Schmälerung, Erleichterung oder Erschwerung des Kredits zu beeinflussen und schließlich ihr Schicksal restlos zu bestimmen, die Höhe ihrer Einkünfte zu bestimmen, ihnen Kapital zu entziehen oder ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Kapital rasch und in großem Umfang zu erhöhen usw.12
Über das gesamte Kapital hindurch betont Marx, dass der Kapitalismus zu einer immer stärker vergesellschafteten Produktion führt, nur eben in privater Hand: Die menschliche Arbeit wird immer integrierter, voneinander abhängig und kollektiv. Und wie sowohl Marx als auch Lenin, stets optimistisch, betonen, legt dieser Prozess die Grundlage für den Sozialismus, indem er die ursprüngliche Verbindung in den kapitalistischen Beziehungen zwischen dem persönlichen Privateigentum des Kapitalisten (das heißt sein konkretes Kapital in Form einer Fabrik, eines Unternehmens und so weiter) durchtrennt und durch das (begrenzte) kollektive Eigentum von Produktionsmittelzusammenschlüssen von Kapitalisten (also Aktiengesellschaften) ersetzt. Die Tendenz der Finanzialisierung besteht darin, dass sich diese Zusammenschlüsse ausweiten und gegenseitig durchdringen, so dass die gesamte Kapitalistenklasse über ihren Status als »Kapitalist«, ihren Besitz von Kapital, ihre Ansprüche auf Investitionen und ihren Zugang zu Kreditlinien zum gemeinsamen Eigentum am gesamten Sozialprodukt gelangt. Man sieht also, wie einfach es sein müsste, dieses kollektive Eigentum am gesamten gesellschaftlichen Reichtum einfach an die Gesamtheit der Produzenten selbst umzuverteilen.
Auch wenn wir theoretisch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es den assoziierten Produzenten nicht gelingt, diese soziale Kontrolle zu ergreifen (sprich den Kommunismus zu verwirklichen), bleibt die Tatsache bestehen, dass es eine tiefe dialektische Verbindung zwischen dem Kommunismus und dem postkapitalistischen imperialistischen System, oder wie auch immer wir es nennen wollen, gibt. Es ist also durchaus passend, dass die Losung des höchsten Punktes der menschlichen Befreiung – des Moments, in dem der Kommunismus von der fortschrittlichsten Avantgarde der Menschheit am ehesten erreicht wurde, nämlich während der Großen Proletarischen Kulturrevolution – gleichsam die Losung des imperialistischen Finanzkapitals war und ist: Politik kommandiert die Wirtschaft.
Denn was die oben skizzierten Prozesse ermöglichen und erfordern, ist die immer stärkere direkte, bewusste, politische Bestimmung der Wirtschaft durch eine immer kleinere Gruppe von »Insidern«. So haben wir, wie Lenin bemerkt, »[…] es nicht mehr mit dem Konkurrenzkampf kleiner und großer, technisch rückständiger und technisch fortgeschrittener Betriebe zu tun. Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen.«13 Ferner führt er aus:
Der Kapitalismus ist so weit entwickelt, daß die Warenproduktion, obwohl sie nach wie vor ›herrscht‹ und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofite den ›Genies‹ der Finanzmachenschaften zufallen. Diesen Machenschaften und Schwindeleien liegt die Vergesellschaftung der Produktion zugrunde, aber der gewaltige Fortschritt der Menschheit, die sich bis zu dieser Vergesellschaftung emporgearbeitet hat, kommt den – Spekulanten zugute.14
Lenin brachte diese Entwicklungen außerdem direkt mit dem entstehenden militärisch‐industriellen Komplex in Verbindung und stellte fest:
Das Finanzkapital erzeugte die Epoche der Monopole. Die Monopole sind aber überall Träger monopolistischer Prinzipen: An Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt tritt die Ausnutzung der ›Verbindungen‹ zum Zweck eines profitablen Geschäftes. Die gewöhnlichste Erscheinung ist: Bei einer Anleihe wird zur Bedingung gemacht, daß ein Teil der Anleihe zum Kauf von Erzeugnissen des kreditgebenden Landes, vor allem von Waffen, Schiffen usw. verausgabt wird. Frankreich hat in den letzten zwei Jahrzehnten (1890 – 1910) sehr oft zu diesem Mittel gegriffen.15
Wir sehen hier nichts anderes als die schrittweise Diktatur des imperialistischen Finanzkapitals über den gesamten Staat und die Wirtschaft. Diese wird, wie Marx oben betonte, nicht nur gegen die Arbeiter, sondern schrittweise gegen alle anderen Schichten ausgeübt: »Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. Diese Expropriation ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise; ihre Durchführung ist ihr Ziel, und zwar in letzter Instanz die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln […]«. Wichtig ist hier auch, wie Marx betont, dass der Kapitalismus durch diesen Prozess nicht nur seine strukturellen ökonomischen Grundlagen abschafft, sondern auch seine moralisch‐historische Legitimation: das Risiko.
Der wesentliche Eckpfeiler der kapitalistischen Ideologie, der wirksamste und verführerischste Vorwand, mit dem das Kapital traditionell seine Aneignung des Mehrwerts von den Arbeitern verschleiert hat, ist das Risiko. Die Priester‐Wissenschaftler des Kapitalismus, die (Polit-)Ökonomen, haben lange Zeit behauptet, dass der Kapitalist sein eigenes Privateigentum, das er durch edlen Konsumverzicht erworben habe, riskiert, wenn er ein kapitalistisches Unternehmen eingeht. Dies beruhte auf einem Kern von Wahrheit. In dem Gleichgewicht von Klassenmacht und strukturierenden Produktionsverhältnissen, das wir Kapitalismus nennen, mussten die einzelnen Kapitalisten Risiken eingehen. Sie mussten – oft mit begrenzten Informationen über die Zukunft – vorhersagen, dass es einen Verbrauchermarkt für ein bestimmtes Produkt geben würde. Sie mussten ihr eigenes Kapital in alle Produktionsmittel investieren, die zur Herstellung dieses Produkts erforderlich waren, bevor sie es überhaupt auf den Markt bringen konnten. Und natürlich riskierten sie die sehr reale Möglichkeit, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem sie das Produkt auf den Markt brachten, die erwartete Nachfrage nicht vorhanden sein würde. Das heißt, sie riskierten in der Tat ihren Status als Kapitalisten – denn wenn sie sich wirklich verkalkuliert hatten, standen sie möglicherweise ohne weiteres Kapital da, um es noch einmal zu versuchen – oder schlimmer noch, mit weniger als nichts, nämlich mit einem Ticket ins Schuldnergefängnis. Der Kapitalismus ist aus einer Situation heraus entstanden, in der bestimmte Individuen (diejenigen, die zu Kapitalisten wurden) die Möglichkeit hatten, auf diese Weise Macht zu erlangen – und nicht auf eine andere. Sie konnten sich nicht einfach selbst dazu bringen, Aristokraten zu werden – sie hätten es getan, wenn sie es gekonnt hätten, frei nach Marx’ berühmtem Diktum: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«16
Dies ist vielleicht ein guter Punkt, um auf eine schwerwiegende Abweichung hinzuweisen, die sich in der bildschirmgeschädigten soi‐disant »Linken« herausgebildet hat. Es handelt sich um den Kategorienfehler, Begriffe wie »Sozialist« oder »Kommunist« so zu behandeln, als hätten sie eine ähnliche Bedeutung oder Verwendung wie der Begriff »Kapitalist«. Erstere bezeichnen eine politisch‐ideologische Zugehörigkeit und Ausrichtung; letztere bezeichnen zumindest grundsätzlich und in der Art, wie sie von Marx verwendet werden, eine Position in einem Verhältnis, das heißt jemanden, der Kapital besitzt, der seinen Reichtum aus kapitalistischen Unternehmungen bezieht. Er hat überhaupt nichts mit der subjektiven ideologischen Orientierung zu tun. Es gibt tragischerweise viel mehr Menschen als es wirkliche Kapitalisten gibt, die dazu verleitet wurden, an etwas zu glauben und zu unterstützen, das sie »Kapitalismus« nennen. Andererseits haben viele, wenn nicht sogar die meisten tatsächlichen Kapitalisten nicht nur keine besondere persönliche Bindung an den Kapitalismus per se, sondern suchen sogar aktiv nach sichereren und stabileren Formen der Ausbeutung, wann immer sie verfügbar sind. Ein Kapitalist zu sein bedeutet schließlich, eine der unsichersten und unbeständigsten Positionen der herrschenden Klasse in der langen Geschichte der Klassengesellschaft zu besetzen.
Historisch gesehen wissen wir, dass das real existierende Kapital schon immer allergisch auf Risiken reagiert hat: Wann immer es möglich war, flüchtete das Kapital in jede Form von Rente oder direkter Enteignung. Und intern, innerhalb der Dynamik des allgemeinen kapitalistischen Systems, über die Mechanismen des Finanzwesens, haben die dominantesten, mächtigsten Kapitale stets auf die Unterordnung anderer, schwächerer Kapitale gesetzt, auf Plünderung, Versklavung, Diebstahl, Betrug und so fort. Daher noch einmal aus obigem Marxzitat, in dem folgendes betont wird:
Alle Maßstäbe, alle mehr oder minder innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise noch berechtigten Explikationsgründe verschwinden hier. Was der spekulierende Großhändler riskiert, ist gesellschaftliches, nicht sein Eigentum. Ebenso abgeschmackt wird die Phrase vom Ursprung des Kapitals aus der Ersparung, da jener gerade verlangt, daß andre für ihn sparen sollen. Der andren Phrase von der Entsagung schlägt sein Luxus, der nun auch selbst Kreditmittel wird, direkt ins Gesicht. Vorstellungen, die auf einer minder entwickelten Stufe der kapitalistischen Produktion noch einen Sinn haben, werden hier völlig sinnlos. Das Gelingen und Mißlingen führen hier gleichzeitig zur Zentralisation der Kapitale und daher zur Expropriation auf der enormsten Stufenleiter.
Marx deutet hier nichts Geringeres an als das, was die triumphierende herrschende Klasse in den letzten drei Jahrzehnten immer ostentativer vorgeführt hat: »too big to fail«, die Vergesellschaftung allen Risikos, die Privatisierung allen Profits. Die Konzentration von finanziellem Reichtum, politischer Macht und Informationen macht »Spekulation« zu einer falschen Bezeichnung für eine »spekulative« Klasse, die mittels der durch ihre schiere Größenordnung ermöglichten Manipulation die aktivste aller Kräfte bei der Gestaltung der Wirtschaft ist. Das ist die Sublimierung des Kapitalismus, die Umwandlung des Großbürgertums in eine Kaste mit direkter politischer Kontrolle über die gesamte gesellschaftliche Produktion und Reproduktion. Es muss immer wieder betont werden, dass eine solche Entwicklung nichts anderes als ein riesiges Netz von Verschwörungen erscheinen muss. Das ist genau das, was Lenin beschrieben hat: »Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panamaskandale jeder Art.«17
Nachdem wir nun die theoretischen Grundlagen geschaffen haben, die Marx und Lenin für das Verständnis der Frage gelegt haben, wie und warum sich der kapitalistische Imperialismus unter bestimmten Bedingungen zu einer grundlegend anderen Produktionsweise entwickeln konnte, müssen wir zu den historischen Aufzeichnungen zurückkehren und die Beweise dafür prüfen, ob eine solche Wendung tatsächlich eingetreten ist. Zunächst müssen wir jedoch jene Art von »Ultraimperialismus« erläutern, für die wir hier nicht plädieren.
3.1 Vulgärer »Multipolarismus« ist der wahre moderne Kautskyismus
Um zu verstehen, wie und warum sich der imperialistische Kapitalismus zu so etwas wie dem Ultraimperialismus entwickeln konnte, müssen wir kurz die Gründe untersuchen, die Lenin dazu bewogen haben, Kautskys Ideen in seinem eigenen historischen Kontext korrekterweise abzulehnen. Lenin findet in Kautsky nicht nur eine, sondern zwei scheinbar diametral entgegengesetzte Varianten des Revisionismus. Auf der einen Seite gibt es die Idee, dass der Imperialismus eine bevorzugte, aber nicht notwendige Strategie des Kapitals sei. Das bedeutet, dass man sich dem Imperialismus entgegenstellen und widerstehen kann, ohne den Kapitalismus per se zu bekämpfen. Die ideologische Basis für diese Abweichung sind die Kleinbürger, die selbst vom imperialistischen Finanzkapital ausgepresst werden und gerne zu einer heiteren Vergangenheit zurückkehren würden. Wie oben erörtert, zeigt Lenin richtig auf, dass der Kapitalismus unweigerlich die Bedingungen hervorbringt, die Finanzialisierung, Monopole und Imperialismus hervorbringen: Jede Hoffnung, die Uhr zurückdrehen zu können, ist reine Naivität, ein »frommer Wunsch«. Schlimmer noch, sie verleitet die Arbeiter dazu, sich den vergeblichen reformistischen Führern der Kleinbourgeoisie unterzuordnen.
Andererseits vertrat Kautsky auch die Idee, dass der Imperialismus letztlich ein fortschrittlicher Schritt auf dem Weg zum weltweiten Kommunismus sein könnte. Der scheinbar große Widerspruch zwischen diesen beiden Abweichungen wird deutlich, wenn man den historischen Kontext des Reformismus versteht, dessen Hauptverfechter Kautsky war. In dem Milieu, in dem diese Debatte stattfand, war eine der drängendsten Fragen die nach einer Art von Vereinigten Staaten von Europa. Lenin selbst hatte 1915 für ein solches Konzept als Zwischenstadium der antimonarchischen, demokratischen Revolutionen in verschiedenen Staaten Europas geworben. Lenin erreichte nach ernsthaften Beratungen mit anderen Bolschewiki, dass seine eigene diesbezügliche Losung auf der Berner Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Februar/März 1915 zurückgezogen wurde. Er kam zu der Überzeugung, dass seine Position »einseitig politisch« war und dass die wirtschaftlichen Faktoren in der Parteipresse erörtert werden müssten. Trotzki seinerseits liebäugelte, was nicht überrascht, mit einer schädlich chauvinistischen Version dieser Idee. Ohne sich im Unkraut zu verlieren, war die wesentliche Gefahr, die Lenin in dieser Hinsicht in Kautsky sah, genau die Idee des Ultraimperialismus als potenzieller Ausdruck einer internen (sozialdemokratischen) Reform der externen kapitalistisch‐imperialistischen Politik.
Die entsprechende Gefahr besteht darin, dass die Arbeiterklasse zur Passivität oder sogar zur Zusammenarbeit mit dem Programm der herrschenden Klasse – in diesem Fall so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa – verleitet wird, in dem Glauben, dass der interne reformistische Kampf sie fortschrittlich machen könnte. Beide Abweichungen rühren in der Tat von dem grundlegenden theoretischen Versagen her, den inneren Zusammenhang zwischen Monopolkapitalismus und Imperialismus zu begreifen sowie von dem Beharren darauf, dass letzterer nur eine politische Option unter vielen sei, die die Monopolisten wählen könnten. Im Rahmen dieses Beitrags lohnt es sich, deutlich zu machen, dass der grundlegende Fehler von Kautskys Theorie des Ultraimperialismus in der Vorstellung besteht, dass der Imperialismus eine politische Entscheidung sei. Im Gegensatz dazu lautet die Kernaussage dieses Beitrags, dass der Imperialismus jene Umstände bezeichnet, unter denen die Gesamtheit der kapitalistischen Verhältnisse grundsätzlich einer Art bewusster Steuerung und Kontrolle untergeordnet ist, die durchaus als »politisch« verstanden werden kann – die aber den Imperialismus notwendig nach sich zieht.
Die moderne Form dieser Form des Revisionismus ist in der Tat kein »Ultraimperialismus«, der im Sinne Kautskys ohnehin kaum irgendwo befürwortet wird, jedoch in einem nicht‐kautskyanischen Sinne wichtigen Wahrheiten nahe kommt. In der Tat sind die beiden gefährlichsten Varianten des Kautskyschen Imperialismus heute: 1) Liberaler Menschenrechtsimperialismus und 2) Pseudo‐Dissidenten‐Multipolarismus. Der erste ist ziemlich offensichtlich, selbst die schlimmsten Marxisten sind weitgehend dagegen abgehärtet, und niemand, der darauf hereinfällt, ist den Aufwand einer Erlösung wert. Der zweite ist jedoch subtiler und gehört wahrscheinlich zu den schädlichsten, auch weil er sich oft ausdrücklich in direktem Widerspruch zu einem ahistorischen, karikaturhaften Bild des »Kautskyismus« positioniert.
Wenn wir uns jedoch ansehen, was die multipolare Strategie wirklich bedeutet, sind die Parallelen offensichtlich. Die Hauptgefahr, die Lenin in Kautskys Theorie des Ultraimperialismus sah, bestand darin, dass die Arbeiter zur Passivität verleitet würden und sich einem Teil der »guten« reformistischen Bourgeoisie anschließen würden, die das kapitalistische Weltsystem intakt halten würde, aber in einer netteren, freundschaftlicheren Art und Weise, wodurch die Bedingungen für den endgültigen Kampf zum Sozialismus geschaffen würden. Unterscheidet sich dieses Bild wirklich wesentlich von dem, das diejenigen inspiriert, die ihr Vertrauen in Xi oder Putin oder Duterte oder Lula und andere setzen? Das sind alles kaum unterscheidbare Varianten desselben giftigen Mythos: dass einige gute Imperialisten (und sie sind alle Imperialisten) die Umstände der globalen Barbarei mildern oder abschwächen oder erleichtern könnten, um dem Sozialismus eine bessere Chance zu geben. Und dieser Mythos hat genau die gleichen Folgen, die Lenin so scharfsinnig voraussah und bekämpfte: politische Passivität und – nachdem die Betrogenen unweigerlich verbrannt werden – Naivität, Nihilismus, Unterwerfung und Niederlage. Dies ist der Kautskyismus heute.
3.2 Imperialismus im und nach dem Zweiten Weltkrieg
Um die historischen Bedingungen zu verstehen, die das moderne imperialistische System als eine qualitativ andere Produktionsweise hervorgebracht haben, sollten wir kurz darauf eingehen, inwieweit Lenin sehr wohl eine Form des »Ultraimperialismus« in Erwägung gezogen hat und warum er sie letztlich ablehnte:
Man nehme Indien, Indochina und China. Bekanntlich werden diese drei kolonialen und halbkolonialen Länder mit einer Bevölkerung von 600 – 700 Millionen Menschen vom Finanzkapital einiger imperialistischer Mächte – Englands, Frankreichs, Japans, der Vereinigten Staaten usw. – ausgebeutet. Angenommen, diese imperialistischen Staaten schlössen Bündnisse, ein Bündnis gegen ein anderes, um ihren Besitz, ihre Interessen und ›Einflußsphären‹ in den genannten asiatischen Staaten zu behaupten oder auszudehnen. Das wären ›interimperialistische‹ oder ›ultraimperialistische‹ Bündnisse. Angenommen, sämtliche imperialistischen Mächte schlössen ein Bündnis zur ›friedlichen‹ Aufteilung der genannten asiatischen Länder – das wäre ein ›international verbündetes Finanzkapital‹. Es gibt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts faktische Beispiele eines derartigen Bündnisses, z.B. im Verhalten der Mächte zu China. Es fragt sich nun, ist die Annahme ›denkbar‹, daß beim Fortbestehen des Kapitalismus (und diese Bedingung setzt Kautsky gerade voraus) solche Bündnisse nicht kurzlebig wären, daß sie Reibungen, Konflikte und Kampf in jedweden und allen möglichen Formen ausschließen würden?
Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen‐ und Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen. Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Rußland. Ist die Annahme ›denkbar‹, daß das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar.
›Interimperialistische‹ oder ›ultraimperialistische‹ Bündnisse sind daher in der kapitalistischen Wirklichkeit, und nicht in der banalen Spießerphantasie englischer Pfaffen oder des deutschen ›Marxisten‹ Kautsky, notwendigerweise nur ›Atempausen‹ zwischen Kriegen – gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in der Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Der neunmalweise Kautsky aber trennt, um die Arbeiter zu beschwichtigen und sie mit den zur Bourgeoisie übergegangenen Sozialchauvinisten auszusöhnen, ein Glied der einheitlichen Kette von dem anderen, trennt das heutige friedliche (und ultraimperialistische, ja sogar ultra‐ultraimperialistische) Bündnis aller Mächte zur ›Befriedung‹ Chinas (man denke an die Niederwerfung des Boxeraufstands) von dem morgigen nicht friedlichen Konflikt, der übermorgen wiederum ein ›friedliches‹ allgemeines Bündnis zur Aufteilung, sagen wir, der Türkei vorbereitet, usw. usf. Statt des lebendigen Zusammenhangs zwischen den Perioden des imperialistischen Friedens und den Perioden imperialistischer Kriege präsentiert Kautsky den Arbeitern eine tote Abstraktion, um sie mit ihren töten Führern auszusöhnen.18
Zunächst einmal ist es interessant und bezeichnend, dass eine von Lenin anerkannte »ultra‐ultra‐imperialistische« Allianz gerade als Reaktion auf eine radikale, egalitäre, antikoloniale Revolution – nämlich den Boxeraufstand – entstanden ist. Interessant ist auch, dass Lenin sein Argument mit dem Vorbehalt »unter der Voraussetzung, dass das kapitalistische System intakt bleibt« relativiert, obwohl wir behaupten, dass sich sein grundlegender Charakter in einem bedeutenden Sinne verändert hat. Schließlich müssen wir den Kern von Lenins Argument wirklich bewerten und prüfen, ob es tatsächlich zutrifft.
Lenin behauptet zu Recht, dass die Dynamik des Kapitalismus zu einem sich ständig verschiebenden Kräftegleichgewicht zwischen den großen imperialistischen Mächten oder – besser gesagt – ihren dominierenden Kartellen, führen wird. Die mächtigeren Kartelle werden eine Neuaufteilung der Einflusssphären fordern und diese durch Krieg erzwingen. Kein ultra‐imperialistisches Bündnis kann also auf Dauer Bestand haben. Aber ist das wirklich sicher? Ist es nicht möglich, dass die überlebenden Kapitalisten nach zwei gewaltigen zwischenimperialistischen Erschütterungen des 21. Jahrhunderts, die zwei gewaltige Revolutionswellen ermöglichten, nicht irgendeinen Weg finden konnten, um ihre Differenzen beizulegen?
Natürlich muss jede Darstellung des Weltsystems nach dem Zweiten Weltkrieg davon ausgehen, dass dies der Fall ist, denn mehr als ein halbes Jahrhundert lang haben die imperialistischen Großmächte einen größeren zwischenimperialistischen Konflikt erfolgreich vermieden. Die Frage ist also nicht, ob, sondern wie ein dauerhafter zwischenimperialistischer Frieden zustande gekommen ist – und vor allem, unter welchen Bedingungen für die betroffenen Parteien. Auch wenn wichtige Details im Verborgenen bleiben, so sind die Grundzüge doch offensichtlich und werden von den meisten in groben Zügen verstanden, wenn auch nicht immer in ihrer ganzen Bedeutung. Eine ausführliche Darstellung dieses Prozesses würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen. Hier geht es vor allem darum, Themen ans Licht zu bringen, die von vielen Marxisten ignoriert oder unterschätzt werden, obwohl sie für das Verständnis unserer gegenwärtigen Situation wesentlich sind.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die verbliebenen kapitalistischen Mächte zu einem relativ friedlichen Block unter der Führung und Vorherrschaft der USA zusammengeschlossen. Japan und Westeuropa bildeten dabei bedeutende Satrapen (die Triade in Amins Terminologie). Was ist die richtige Bezeichnung für die USA und das Arrangement, das sie unter diesen Umständen aufgebaut haben? Ultra‐imperialistisch? Superimperialistisch? Die lateinische Vorsilbe ist nicht sehr wichtig, aber die Tatsache ihrer beispiellosen Vorherrschaft über den kapitalistischen Block steht außer Frage. Auf breiter, makroökonomischer Ebene nahm dies die Form des Bretton‐Woods‐Systems an. Ironischerweise wurde es von seinen Organisatoren als eine wahrhaft kautskyanische, ultraimperialistische Fantasie konzipiert, die speziell darauf abzielte, den Imperialismus und die Finanzialisierung im Interesse des Kapitalismus einzuschränken. Keynes hatte schließlich ein feines Gespür für die Tendenz der Finanzialisierung, ihre eigene kapitalistische Basis zu untergraben, wie aus seinen Bemerkungen über die Notwendigkeit niedriger Zinssätze hervorgeht, um die »Euthanasie des Rentiers« zu bewirken. Es lohnt sich nicht, hier die wichtigsten Tendenzen der internationalen politischen Ökonomie aus dieser Zeit durchzugehen; sie sind von Amin gut dokumentiert und von der Genossin Yana in ihrem Artikel »Imperialismus und die Spaltung der kommunistischen Bewegung« sehr kompetent verteidigt worden. Auf jeden Fall werden wir auf dieses Thema in unserer Diskussion über die Arbeiteraristokratie weiter unten zurückkommen.
Es ist auch zweifelhaft, dass wir hier auf die direkteren Mittel eingehen müssen, mit denen die USA ihre Juniorpartner oft zum Nachteil der letzteren zunehmend unterordneten. Die Liste der öffentlichen und privaten Organisationen, durch die dies erreicht wurde, ist bekannt und wird selbst in sozialdemokratischen Kreisen kaum noch geleugnet: Marshall‐Plan, NATO, SEATO, Trilaterale Kommission, Bilderberg‐Gruppe, Weltwirtschaftsforum, Weltgesundheitsorganisation und so weiter – obwohl wichtige verdeckte Aspekte dieses Prozesses im Hinblick auf die Wiedereingliederung und Verfeinerung der faschistischen Machtarchitektur der japanischen Militaristen und der Nazis (insbesondere über die jeweiligen Organisationen von Bohrmann und Gehlen) mehr Aufmerksamkeit verdienen, als sie oft erhalten. Das Wiedererstarken der europäischen faschistischen Kräfte im Dienste der Unterordnung Europas unter ein größeres, antikommunistisches/ultra‐imperialistisches Programm, insbesondere aller potenziell rebellischen Teile der Arbeiterklasse, wurde von Daniele Ganser in NATO‐Geheimarmeen in Europa gut beschrieben. Wie Alfred W. McCoy in seinem grundlegenden Werk The Politics of Heroin in Southeast Asia (Die Politik des Heroins in Südostasien) minutiös dokumentiert hat, führten die Erfordernisse des Zweiten Weltkriegs zu einer nahezu vollständigen Integration der großen Netzwerke des organisierten Verbrechens unter der direkten Monopolkontrolle des amerikanischen Geheimdienstapparats.
In der Tat ist es eine unvermeidliche logische Konsequenz unserer gegenwärtigen geopolitischen Ordnung, dass jeder »Schwarzmarkt« oder jede kriminelle Aktivität, die über ein triviales Ausmaß hinausgeht, ohne eine enge Einbindung in nachrichtendienstlich kontrollierte Netzwerke kaum funktionieren kann. Dies wird im Falle des Drogenhandels, des illegalen Waffenhandels und des Söldnermarktes oft zugegeben, aber es besteht eine merkwürdige Zurückhaltung, zuzugeben, dass dies im Hinblick auf den Menschenhandel offensichtlich der Fall ist. So ist es auch der Fall, dass ein Großteil des Schutzes von Wildtieren, insbesondere in der Dritten Welt, kaum mehr als eine neue silva regis für die herrschende Klasse darstellt, die von pseudo‐karitativen Organisationen wie dem WWF (der passenderweise auch als Deckmantel für die Finanzierung von Söldnern fungiert) erreicht wird. Wie die Pläne der EU, Firmenjets von einer geplanten künftigen Treibstoffsteuer zu befreien, deutlich machen, werden Kriminalisierung, Beschränkungen und Sanktionen in unserer real existierenden Ordnung weiterhin als Mittel zur Errichtung exklusiver Monopole für die herrschende Klasse über die von ihr kontrollierten kriminellen oder verdeckten Geheimdienste funktionieren (auch hier gibt es, wie McCoy zeigt, keinen wirklichen Unterschied).
Diese Tendenz, die herrschende Klasse durch den zunehmenden Umfang und die zunehmende Vielfalt staatlicher und behördlicher Eingriffe in etwas zu verwandeln, das mehr einer Kaste ähnelt und immer weniger mit der von der revolutionären Bourgeoisie hinterlassenen historischen liberalen Ordnung vereinbar ist, erreichte ihre schamloseste Form in den Lockdowns der letzten zweieinhalb Jahre. Anatole France bemerkte einmal, dass »das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen und den Armen gleichermaßen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf der Straße zu betteln und ihr Brot zu stehlen«. Die Corona‐Beschränkungen untersagten es sowohl den Besitzern von Herrenhäusern und großen Ländereien als auch den Bewohnern von armseligen Einzimmerwohnungen, ihr »Zuhause« zu verlassen oder die frische Luft außerhalb ihres »Zuhauses« (ob dieses nun Felder und Wälder umfasste oder nicht) ohne Maske zu genießen. In verschiedenen Fällen verbannten sie Arme wie Reiche von der Lohnarbeit, von öffentlichen Verkehrsmitteln und von der öffentlichen Gesundheitsfürsorge – vor allem, wenn sie nicht geimpft waren. Reisen mit Privatjets wurden im Großen und Ganzen nicht durch Grenzbeschränkungen behindert und auf jeden Fall kann sich jeder, der einen Privatarzt hat, nach Belieben »impfen« lassen. Trotz der vielen Impfvorschriften, die man erfüllen muss, um zu leben, zu arbeiten oder mit seiner Familie zusammenzukommen, gab es nie eine Impfpflicht, um ein Unternehmen oder ein anderes Vermögen zu besitzen. Und selbstredend war es während vieler Wellen wirtschaftlicher Beschränkungen fast immer der Fall, dass große Monopole offen bleiben durften, während dies kleinen und mittleren Unternehmen verwehrt blieb – Skaleneffekte wurden durch die schiere Tyrannei der Größe, das direkte politische Erdrosseln jedes auch nur im Entferntesten unabhängigen Kapitals übertroffen.
Auf die Gefahr hin, dass wir uns an dieser Stelle zu weit vorwagen, ist es jedoch wichtig, in diesem Abschnitt einen entscheidenden Teil der Genealogie unserer gegenwärtigen Ordnung nachzuzeichnen, der von der institutionalisierten marxistischen Tradition (mit bedeutenden Ausnahmen) etwas zu wenig beachtet wurde, nämlich das Monopol über die Geldversorgung und die wesentliche Rolle, die die Zentralbanken bei der Konsolidierung der allgemeinen monopolistischen Macht spielen. Die Tatsache, dass Marx starb, bevor er seine geplanten Abschnitte des Kapitals über das Kreditsystem und die Staatsverschuldung abschließen konnte, mag bei diesem Ungleichgewicht eine gewisse Rolle spielen. Ein schwierigeres Problem ist, dass die Kritik an den »Bankern« oder dem künstlich isolierten »Finanzkapital« – das als Parasit auf dem ansonsten gesunden Körper des Kapitalismus angesehen wird – eine Hauptstütze der faschistischen und faschistischen Politik war.
Dass solche Umstände einige zögern lassen, sich auf eine gründliche Untersuchung und Kritik der kapitalistischen Geldpolitik, des Kredits und der Bankenpraxis einzulassen, ist verständlich, aber nicht akzeptabel. Marxisten müssen die intellektuelle und moralische Reife zum kritischen Umgang mit problematischen aufbringen und nicht vor allem fliehen, von dem sie befürchten, dass es sie infizieren könnte. Diese Tendenz ist Teil der gleichen absurden Praxis westlicher marxistischer Parteien in den letzten zwei Jahren, die größte Massenprotestmobilisierung des letzten Jahrhunderts entweder zu ignorieren, zu diffamieren oder, schlimmer noch, dem Staat aktiv dabei zu helfen sie zu verhindern, weil Staats‐ und Konzernmedien die Proteste als »rechts« bezeichneten. Der skandalöse Mangel an wissenschaftlicher Haltung unter solchen Marxisten, die sich entweder nicht die Mühe machen konnten oder zu feige waren, sich mit den tatsächlichen Teilnehmern dieser Proteste auseinander zu setzen (und ihre oft weithin linken Verpflichtungen und Orientierungen zu entdecken), ist ein Schandmal für uns alle, das uns bei der wichtigen politischen Arbeit, die vor uns liegt, ernsthaft behindern wird.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die vielleicht wichtigste Informationsquelle für Lenins Imperialismusschrift J.A. Hobson’s Imperialism: A Study von 1902 war. Hobson war ein offener Antisemit, dessen Antisemitismus sich durch einen Großteil seines Werks zieht, auch durch sein Imperialism: A Study selbst. Der Antisemitismus, dem er frönte, war genau der typische Antisemitismus der systemkritischen Kleinbourgeoisie, die darin eine Möglichkeit sah, den Kapitalismus von seinen eigenen unvermeidlichen Tendenzen zum Monopol zu entlasten und stattdessen ein ruchloses jüdisches Komplott zu beschuldigen. Der Punkt ist, dass Lenin in der Lage war, die nützlichen Informationen kritisch zu isolieren und aus dem Text zu extrahieren, ohne Angst vor Kontamination zu haben. Er vertraute darauf, dass er und seine Mitstreiter in der Lage sein würden, diese Art des Denkens zu besiegen, indem sie einfach eine bessere Analyse mit Nachdruck vorantreiben würden: den Marxismus, der die unvergleichliche Anziehungskraft von Wahrheit und Gültigkeit genießt und sich in der revolutionären Praxis unweigerlich als überlegen erweisen würde. In der gegenwärtigen Krise lassen die Desinformationsmaschinen der herrschenden Klasse unzählige Varianten des Antisemitismus wieder aufleben und erfinden sie neu, um die zum Klassenbewusstsein gelangenden Massen zu umgarnen, zu verwirren und in die Irre zu führen.
So ist es Lenin, der unerbittliche Ausrotter antisemitischer Hochstapler‐Analysen, dem wir nacheifern müssen, wenn wir uns mit dem uns zur Verfügung stehenden Textmaterial und den Interventionen auseinandersetzen, indem wir uns bemühen, seine Fähigkeit und seine Bereitschaft zu erlangen von nicht‐marxistischen kleinbürgerlichen Kritiken des Imperialismus und der Finanzialisierung, wie der von Hobson, zu lernen und sie gleichzeitig zu korrigieren und die Ursprünge und die Funktion ihrer Perversionen zu erklären. Er bemerkte:
Aber die ungeheuerlichen Tatsachen. die die ungeheuerliche Herrschaft der Finanzoligarchie betreffen, springen dermaßen in die Augen, daß in allen kapitalistischen Ländern, in Amerika wie in Frankreich und Deutschland, eine Literatur entstanden ist, die vom bürgerlichen Standpunkt ausgeht und dennoch ein annähernd wahres Bild sowie eine natürlich kleinbürgerliche Kritik der Finanzoligarchie gibt.19
Auch wenn man sich der Grenzen der kleinbürgerlichen Kritik bewusst ist, sollte man nicht vergessen, dass sie über weit mehr Ressourcen, Freizeit und Freiheit verfügen als die arbeitenden Massen. Möglicherweise haben sie auch ein besseres Verständnis für bestimmte Aspekte der realen Funktionsweise der Klassenherrschaft auf der Ebene von Management, Organisation und Verwaltung. Die Teilung der intellektuellen Arbeit lässt uns keine andere Wahl, als uns auf die allgemeine Masse der kritischen und sonstigen Ergebnisse einer Vielzahl von Fachleuten in den Wissenschaften, im Finanzwesen, im Journalismus und in der Regierung zu verlassen, um das Weltsystem zu verstehen, das sie und wir reproduzieren.
Im Geiste Lenins sollten wir uns also kritisch, aber ernsthaft mit dem Material auseinandersetzen, das von dissidenten Teilen der Kleinbourgeoisie und sogar der Bourgeoisie selbst produziert wird. Dabei sollten wir größte Sorgfalt darauf verwenden, dissidente Nicht‐Marxisten von bloßen Hochstaplern und Betrügern zu unterscheiden. Zu ersteren könnten wir Catherine Austin Fitts, John Titus, Robert F. Kennedy Jr. Kennedy, Jr., Wall Street On Parade, Naked Capitalism oder die oft sehr abstoßenden Autoren von Vineyard Saker und Zero Hedge zählen. Zu letzteren Fabio Vighi, Off‐Guardian, die Larouche Organisationen oder den »Maga‐Kommunismus«. Allerdings lässt sich nicht jeder Fall einfach entscheiden, denn wer weiß schon, was mit Giorgio Agamben oder Reiner Fuellmich los ist. Aber dass es immer mehr echte Dissidenten in der Finanzwelt, in der Medizin und in der Wissenschaft geben muss, scheint durch die marxistisch‐leninistische Analyse des Imperialismus gesichert, die erklärt, wie sich die dominierenden Fraktionen der Bourgeoisie auch immer mehr gegenseitig ausbeuten und die unvermeidliche Folge der Reichtumskonzentration darin besteht, dass immer größere Teile der Bourgeoisie in die Massen hinabgestoßen werden oder zumindest die ernste Aussicht darauf besteht.
Der folgende Abschnitt wird sich insbesondere auf bürgerliche und kleinbürgerliche Kritiker der Geldpolitik wie Michael Rowbotham und Alfred Owen Crozier sowie auf allgemeinere und radikalere, wenn auch »konservative« oder »rechte«, Kritiker dessen stützen, was sie als den »Finanz‐Coup« bezeichnen, der seit Ende der 90er Jahre stattgefunden hat, wie Catherine Austin Fitts und John Titus. Aus Zeitgründen werden wir uns auf die USA konzentrieren, müssen aber feststellen, dass wichtige Entwicklungen von der ehemaligen ultra‐imperialistischen Macht Großbritannien, von der die USA den Mantel der kapitalistisch‐imperialistischen Hegemonie übernommen hat, vorweggenommen wurden. Mehr als auf wichtige Momente hinzuweisen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
4. Das Nixon‐Gambit und seine Vorläufer
Die mehr oder weniger vollständige Kartellisierung der US‐Wirtschaft war zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgeschlossen – in dieser Hinsicht veranschaulichen die USA gut den von Lenin erkannten Zusammenhang zwischen Monopolisierung und Imperialismus, als Amerika 1898 den Spanisch‐Amerikanischen Krieg begann. Wie Lenin selbst feststellte, rief dies »die Opposition der ›Antiimperialisten‹ hervor, der »letzten Mohikaner der bürgerlichen Demokratie, die diesen Krieg ein ›Verbrechen‹ nannten.»20 Ein solcher Widerstand ohne den Willen, die kapitalistischen Wurzeln des Imperialismus zu bekämpfen, scheiterte natürlich. Auch hier zeigt sich die klare Annahme Lenins, dass die bürgerliche Demokratie zu seiner Zeit bereits im Wesentlichen überwunden war.
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das Finanzkapital in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten einen solchen Konzentrationsgrad erreicht hatte, dass Wirtschaftskrisen (zumindest kurz‐ bis mittelfristig) einigermaßen gut vorhersehbar waren und durch koordinierte Anstrengungen der Bankenkartelle gezielt induziert werden konnten. Der Begriff »induziert« wurde hier bewusst gewählt und ist in dem Sinne gemeint, in dem er in der Medizin verwendet wird: Die Kapitalistenklasse hatte keineswegs die Fähigkeit erworben, den Kapitalismus von seiner Tendenz zu Krisen zu befreien (wenn sie dies überhaupt gewollt hätte), aber die seit langem bestehende Fähigkeit der dominierenden Kapitalfraktionen, Krisen auszunutzen, wurde weiter verfeinert in die Fähigkeit, sie unter günstigen Umständen bewusst zu beschleunigen oder zu provozieren. Alfred Owen Crozier vertritt die Auffassung, dass die Finanzpaniken von 1873, 1893 und 1907 von den Wall‐Street‐Bankern künstlich erzeugt wurden, um ihre kollektiven finanziellen und/oder politischen Interessen durchzusetzen.
Zumindest im Fall der Panik von 1893 gibt es eindeutige Beweise dafür, dass sie provoziert wurde, um den Kongress zur Aufhebung des Sherman Antitrust Act zu drängen, einschließlich einer koordinierten Kampagne der National Bankers‹ Association, um Kredite zurückzuziehen.21 Im 20. Jahrhundert konnten die Banken nicht nur die Gesetzgebung erzwingen, sondern auch die bestehenden Gesetze aushebeln. In einem Bericht des Office of the Comptroller of Currency (OCC) aus dem Jahr 1911 wurde festgestellt, dass »60 Prozent der Banken routinemäßig gegen eine oder mehrere Bestimmungen des US‐Gesetzes verstoßen«.22 Titus bemerkt:
In diesem Licht betrachtet, bedeutete die gesetzliche Gründung der privaten Federal Reserve im Jahr 1913 in Wirklichkeit die Salbung der Eigentümer der Federal Reserve zu den Dons eines mächtigen kriminellen Unternehmens mit Hauptsitz in New York.«23
Die Gründung der Federal Reserve ist ein klassischer Fall dafür, dass die Stimmung in der Bevölkerung umgelenkt wurde, um das Ziel der Konsolidierung der herrschenden Klasse zu fördern: Die Massen waren nach dem Börsenkrach von 1907 über die Banken empört, insbesondere über JP Morgan Chase. Der Aufschrei der Bevölkerung nach mehr Regulierung wurde ausgenutzt, um die Gewährung einer direkteren Kontrolle über Bundeskredite, Insiderinformationen und die Geldmenge der USA durch genau dieselben Bankiers zu rechtfertigen.24
Als Marx die entscheidende Rolle des Staates beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus feststellte, merkte er dazu an: »Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.«25 Wie bereits erwähnt, haben die beiden Weltkriege und die dazwischen liegende Depression den Tendenzen zur Konzentration der herrschenden Klasse, die bereits von Lenin als weit fortgeschritten bezeichnet wurden, einen enormen Auftrieb gegeben. Dazu gehören die Aufhebung wichtiger Elemente der bürgerlichen Demokratie, die stärkere staatliche Koordinierung der Wirtschaft, was in einem kapitalistischen System unweigerlich eine noch engere direkte Verflechtung von Staat und Kapital bedeutet, sowie der Ausbau und die Ermächtigung von Geheimdiensten und Polizei.
Wie wir oben gesehen haben, haben die Krisen des Kapitalismus, die sich in einem zwischenimperialistischen Krieg manifestierten, die Möglichkeit und in der Sowjetunion die Realität einer sozialistischen Revolution geschaffen, die das Kapital stürzte. Die herrschende Klasse, das muss immer wieder betont werden, ist nicht passiv. Sie planen, organisieren und koordinieren aktiv, um ihre Interessen voranzutreiben – sie haben in der Tat mehr Mittel und mehr Zeit, dies zu tun als alle anderen. Indem sie die Arbeit anderer ausbeuten, können sie ihre gesamte Energie in die Tätigkeit der Ausbeutung stecken, also in den Erhalt, die Verteidigung und den Ausbau ihrer Machtposition. In dem Maße, wie sich die Widersprüche des Kapitalismus verschärfen, müssen wir uns vorstellen, dass die Kapitalisten notwendigerweise danach streben, sie zu überwinden, zu lösen oder aufzuschieben. Dabei dürfen wir uns nicht einbilden, dass sie eine sentimentale Bindung an den Kapitalismus an sich haben. Wir müssen uns vorstellen, dass ihre Entscheidung von ihren realen materiellen Interessen und Ängsten diktiert wurde – nicht »unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«, um ein weiteres Mal Marx zu zitieren.26
Fitts stellt die These auf, dass die US‐Regierung durch eine Reihe von Mechanismen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine mehr oder weniger vollständige Kontrolle über die US‐Wirtschaft erlangte, indem sie eine »beherrschende Stellung auf den Kreditmärkten« einnahm.27 Als Zugeständnis an die reale und systembedrohende Unzufriedenheit der Arbeiterklasse in der großen Depression und als Mittel, daraus Kapital zu schlagen, richtete Franklin D. Roosevelt 1934 den Exchange Stabilization Fund (ESF) ein und erließ 1935 die Sozialversicherungsgesetze. Der ESF ist ein nicht offengelegter Fonds, der Bundeskredite anzapfen kann und nur dem Präsidenten und dem Finanzminister untersteht. Es ist wichtig, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass die Einrichtung des Wohlfahrtsstaates eine dramatische Veränderung der kapitalistischen Verhältnisse mit sich brachte, da die Bedeutung dieses Begriffs heute fast in Vergessenheit geraten ist. In diesem Zeitraum kam es zu tektonischen Verschiebungen in der Risikoverteilung, teils zugunsten verschiedener Fraktionen der Arbeit, teils zugunsten des Kapitals. Wie Molly Klein anmerkt, versichern zum Beispiel Lebensmittelmarken die Produzenten von Konsumgütern in erheblichem Maße gegen Risiken. Vom Standpunkt des Gesamtsystems aus betrachtet, muss dies als die direktere Bestimmung der Verteilung des Überschusses durch die Regierungspolitik angesehen werden.
Der Vorgänger des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtentwicklung (HUD) wurde ebenfalls 1934 mit der Federal Housing Administration (FHA) gegründet, gefolgt von den staatlich geförderten Unternehmen (Government‐sponsored enterprise (GSE)) Fannie Mae und Freddie Mac. Wie Fitts bemerkt, »haben sich die Federal Reserve (das heißt das Kartell) zur Festsetzung des Geldpreises, der ESF, die GSEs und zuletzt das HUD als mächtige Kräfte zur Regulierung der Geldströme und der Nachfrage in der US‐Wirtschaft erwiesen.«28 Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg brachten sowohl die Reform des US‐Militärs hervor, die es mit einem »Militärbudget für Kriegszeiten und einer Streitkräftestruktur in Friedenszeiten« ausstattete, als auch die Verabschiedung des CIA‐Gesetzes im Jahr 1949, das »einen Haushaltsmechanismus schuf, der es der CIA erlaubte, so viel Geld auszugeben, wie sie wollte, »ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften in Bezug auf die Ausgabe von Regierungsgeldern«.29 Zusammengenommen ermöglichen diese Hebel denjenigen, die die US‐Regierung leiten (also die Vorhut der herrschenden Klasse), eine direkte, aber geheime (das heißt verdeckt plan‐ und initiierbare) Kontrolle über die Kommandohöhen der US‐Wirtschaft auszuüben.
Die bereits beträchtliche wirtschaftliche Kontrolle über die Weltwirtschaft, die eine solche Position mit sich brachte, wurde mit der Ablösung des Bretton‐Woods‐Systems radikal erweitert. Wie bereits erwähnt, muss Bretton Woods als ein zwischenimperialistischer Kompromiss unter amerikanischer Hegemonie verstanden werden, der sich finanzieller Repression bediente, um einen produktiven Kapitalismus zu ermöglichen. Das System verhinderte in erheblichem Maße die völlige Vorherrschaft mächtiger Staaten – und genau wie Lenin voraussagte, konnte und hat ein derartiger zwischenimperialistischer Frieden nicht gehalten. Statt eines offenen imperialistischen Krieges unternahm die Avantgarde der amerikanischen herrschenden Klasse unter Nixon jedoch etwas vielleicht noch Radikaleres: die Einführung einer totalen Finanzdiktatur über den Rest des kapitalistischen Blocks.
Was Lenin vielleicht nicht vorhersehen konnte, war, dass das Gambit erfolgreich war: Nixon hatte Erfolg. Und zwar genau deshalb, weil die herrschenden Klassen Europas, Japans und mit ihnen die Kompradorenelite in der ganzen Welt keine andere Wahl hatten, als sich zwischen den Optionen der Dollar‐Diktatur oder des revolutionären Kommunismus in Form der UdSSR, Chinas, Vietnams und der gesamten dekolonialen Welle für Ersteres zu entscheiden. In der Tat war Nixons Schachzug eine direkte Reaktion auf die Bedrohung des globalen Kapitalismus (und der Klassengesellschaft im Allgemeinen) durch den heldenhaften Widerstand der vietnamesischen Massen gegen den amerikanischen Imperialismus.
In Nixons Gambit, das von Peter Gowan in The Global Gamble sehr gut beschrieben wird, sehen wir, wie die amerikanische Vorhut der herrschenden Kapitalistenklasse auf eine Krise (oder in der Tat auf eine Reihe von Krisen, einschließlich der wirtschaftlichen Bedrohung der USA durch Japan und Europa, der Gefahr der Abwertung des Dollars und des Vietnamkriegs) mit der Konsolidierung und der Übernahme von mehr Macht und mehr Kontrolle reagiert, wodurch das System weiter verändert wird. Insbesondere der Erfolg der amerikanischen herrschenden Klasse bei der Etablierung dessen, was Gowan das »Dollar‐Wall‐Street‐Regime« nennt, brachte sie dennoch in eine äußerst prekäre Position gegenüber einem viel unbeständigeren System, das mit seinen eigenen Widersprüchen gespickt ist. Zu den wichtigsten dieser Widersprüche gehörte ihr Verhältnis zu den einheimischen Arbeiteraristokratien der Triade USA‐Westeuropa‐Japan, deren Analyse uns dem Verständnis der Komplexität unserer gegenwärtigen Situation sehr nahe bringt.
5. Die Rolle der Arbeiteraristokratie
In ihrem Artikel »Imperialismus und die Spaltung der kommunistischen Bewegung« hob die Genossin Yana das Niveau der Diskussion erheblich an, indem sie die Frage der imperialen Arbeiteraristokratie ernsthaft in ihre Analyse einbezog. Bis zu diesem Zeitpunkt war diese Frage auffallend wenig diskutiert worden, obwohl Lenins Klarstellung ihrer Rolle einer der bedeutendsten und wirkungsvollsten Beiträge war, die aus seinem Imperialismus‐Pamphlet hervorgingen. Besonders scharfsinnig war ihr Vergleich zwischen denjenigen, die im Interesse der »Einheit der Arbeiterklasse« die Bedeutung des Imperialismus leugnen und denjenigen, die im Namen desselben die Ungleichheit der Geschlechter leugnen. Yana merkt jedoch an, dass ihr keine Arbeiten bekannt sind, in denen versucht wird, das Ausmaß der Ausbeutung der Mitglieder der Arbeiteraristokratie mit den Dividenden zu vergleichen, die sie aus der imperialistischen Superausbeutung der Peripherie erhalten.
Genau dies hat Zak Cope mit enormer Tiefe und Strenge in seinen beiden Texten Divided World, Divided Class (2012) und The Wealth of (some) Nations (2019) getan. Soweit dem Autor bekannt, handelt es sich dabei um die aktuellste und umfassendste Untersuchung der Arbeiteraristokratie. Obwohl sie Mängel aufweist, ist sie von enormer Bedeutung. Copes Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Arbeiteraristokratien in den imperialistischen Kernländern seit dem Zweiten Weltkrieg streng formal‐ökonomisch betrachtet eine reale Ausbeutungsrate genossen hat. Diese geht gegen Null – oder ist in manchen Kontexten sogar negativ: Teile der westlichen Arbeiterklasse haben zu verschiedenen Zeitpunkten durch den Imperialismus mehr erhalten als sie durch die Ausbeutung ihrer eigenen Lohnarbeit verloren haben. Große Teile der Arbeiteraristokratie verfügen über ein gewisses Kapital in Form ihrer Ersparnisse, ihrer Rentenfonds, ihrer Gewerkschaften, ihrer Häuser, ja in gewisser Weise sogar in den Staatskassen, auf die sie Anspruch haben. Copes Texte sind ein wesentliches Korrektiv zu der chauvinistischen Leugnung der Arbeiteraristokratie, die man typischerweise mit Trotzkisten in Verbindung bringt, die aber offensichtlich, basierend auf Yanas Artikel, auch ein Thema in der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) ist.
Wer jedoch die Bedeutung der Arbeiteraristokratie im 20. Jahrhundert im Interesse eines zynischen, unmittelbaren politischen Gewinns leugnet, beraubt uns eines wesentlichen Mittels der politischen Klärung und Aufklärung. Ohne sie lassen sich der Chauvinismus und Nationalismus der imperialen Kernbevölkerung nicht erklären. Ebenso wenig kann das Scheitern des Kommunismus in diesen Regionen während des letzten Jahrhunderts verständlich gemacht werden. Und in der Tat können wir entscheidende Elemente des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus nicht erklären. Eines der wichtigsten Mittel, womit der kapitalistisch‐imperialistische Block in der Lage war den Sozialismus zu untergraben, bestand darin, große Teile der Bevölkerung in der sozialistischen Welt davon zu überzeugen, dass der Lebensstandard, den der imperialistische Kern genoss, das Ergebnis des »Kapitalismus« und nicht des Imperialismus war. Sowie davon, dass der Lebensstandard in der sozialistischen Welt Ergebnis des »Sozialismus«. Diese Verschleierung untergrub die Legitimität der sozialistischen Systeme erheblich und förderte konterrevolutionäre Stimmungen.
Dennoch müssen wir auch die ökonomistischen und übermäßig drittweltlerischen Schlussfolgerungen von Cope kritisieren. Insbesondere die Idee, dass westliche Arbeiter, die ihre Interessen verteidigen (gegen Lohnkürzungen kämpfen und so weiter), es nicht wert seien, unterstützt zu werden – oder dass sogar eine gewisse Lohnkürzung für westliche Arbeiter für eine gerechte Verteilung des globalen Reichtums notwendig sein könnte. Genosse Jan Müller hat in seinem Text »Kritische Anmerkungen zur Theorie der ›Arbeiteraristokratie‹ « richtig erkannt, wie solche politischen Linien als Waffe eingesetzt werden, um der neoliberalen Politik einen ultralinken Deckmantel zu geben. Die Aufrechterhaltung des imperialistischen Systems ist ungeheuer teuer. Teuer direkt in Bezug auf die Kosten für Militärausgaben, Propaganda und politische Repression, Bestechung usw. Für die Rechnung kommen in erster Linie die Hochlohnarbeiter und die proletarisierten Fachleute der Sozialdemokratie auf. Teuer ist die Aufrechthterhaltung des imperialistischen Systems aber auch im Hinblick auf das Gesamtvermögen, das für die Aneignung zur Verfügung steht, in dem Sinne, dass sie sehr oft die Zerstörung von Produktionskapazitäten (fixes wie variables Kapital) nach sich zieht. Teuer ist sie ferner im Hinblick auf die Opportunitätskosten. In dem Sinne, dass der Imperialismus wie der Kapitalismus selbst eine Fessel für die menschliche Produktivität ist, wie Marx betonte. Wie Samir Amin und andere ausführlich dokumentiert haben, bestand ein großer Teil der imperialistischen Praxis darin, die Versuche der Peripherie zu vereiteln, das Kapital produktiv in der autozentrischen Akkumulation einzusetzen. Für die Arbeiteraristokratie hat das imperialistische System selbst auf dem Höhepunkt ihrer Privilegien enorme Frustration und Entfremdung, politische Unterordnung und Unterdrückung sowie moralische Unzufriedenheit mit sich gebracht. Die Arbeiteraristokratie lebt sowohl moralisch als auch materiell schlechter, als sie es im Kommunismus könnte. Das Wichtigste an der Arbeiteraristokratie für unsere Zwecke ist jedoch, dass sie selbst direkt angegriffen wird.
Lenin erkannte bereits wichtige mit dem Aufbau einer Arbeiteraristokratie verbundene Spannungen:
Einerseits haben Bourgeoisie und Opportunisten die Tendenz, das Häuflein der reichsten und privilegierten Nationen in ›ewige‹ Schmarotzer am Körper der übrigen Menschheit zu verwandeln, ›auf den Lorbeeren‹ der Ausbeutung der Neger, Inder usw. ›auszuruhen‹ und diese Völker Hilfe des modernen Militarismus, der mit einer großartigen Vernichtungstechnik ausgestattet ist, in Botmäßigkeit zu halten. Anderseits haben Klassen, die stärker denn je unterdrückt werden und alle Qualen imperialistischer Kriege erdulden, die Tendenz, dieses Joch abzuwerfen und die Bourgeoisie zu stürzen.30
Im Kampf des internationalen Kapitals gegen den revolutionären Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte die Arbeiteraristokratie eine neue Bedeutung: Die Position der herrschenden Klasse war prekär. Das Kapital befand sich in der Defensive. Den einheimischen Arbeitern mussten große Zugeständnisse gemacht werden, um sie gefügig zu halten und um Propaganda für den »kapitalistischen Wohlstand« zu machen. Dieses Arrangement hatte offensichtliche Widersprüche: Die Stärkung jeder anderen Klasse ist für die herrschende Klasse ungünstig. Jede Klasse, die über unabhängige Mittel und Freizeit verfügt, kann sich leichter organisieren und koordinieren, um ihre eigenen Interessen durch Gemeinschaftsorganisationen, politische Parteien und dergleichen durchzusetzen. Daher das geballte Interesse der herrschenden Klasse, uns arm zu machen und zu halten: Mit Zeit und Geld können wir unsere Interessen verteidigen und durchsetzen. Genau aus diesem Grund betont Marx, dass die Geschichte die Geschichte des Klassenkampfes ist. Der Krieg zwischen den Massen und der herrschenden Klasse ist ein Nullsummenspiel. Ein kürzerer Arbeitstag bedeutet mehr Zeit, nicht nur für die Freizeit, sondern auch für die Planung, die Organisation und die Revolte; bessere Lebensmittel oder eine bessere Ausbildung für die Arbeiter bedeuten mehr Energie und größere Kapazitäten für die Durchsetzung unserer eigenen Interessen. Wie Tony Benn einmal feststellte, ist »eine gebildete, gesunde und selbstbewusste Nation schwerer zu regieren«. Die herrschende Klasse duldete also die Errichtung einer breiten Arbeiteraristokratie nur insoweit, als sie absolut notwendig war. Sobald dies nicht der Fall war, machten sie sich sofort daran, sie zu demontieren.
Wie stets sind Widersprüche im Überfluss vorhanden. Insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat die westliche Arbeiteraristokratie eine sekundäre, aber äußerst wichtige Funktion für das Kapital übernommen: die des Konsumenten der letzten Instanz. Als bedeutender Knotenpunkt der Kapitalverwertung erlangte sie auch extreme Bedeutung für das Geld‐ und Finanzsystem: als Steuerbasis und als Eigentümer/Käufer von Häusern, Renten und Hypotheken. Das von Nixon initiierte Dollar‐Wall‐Street‐Regime machte die Vorhut der herrschenden Klasse und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft in erheblichem Maße von der Geldversorgung abhängig, die zu ihrer Aufrechterhaltung eine recht wohlhabende Arbeiteraristokratie benötigte. Wären die Amerikaner beispielsweise nicht wohlhabend genug, um sowohl die persönlichen Schulden zu tragen, die die Geldschöpfung der Banken ermöglichen, als auch über ihre Steuern das Kapital für die Staatsschulden zu bezahlen, die die Reserven ermöglichen, wäre das gesamte System unhaltbar.
Je größer diese Arbeiteraristokratie ist, desto größer und produktiver muss die Klasse der Superausgebeuteten sein. Und desto größer muss wiederum diese stets problematische subalterne Klasse werden. Die herrschende Klasse kann jedoch nicht unbegrenzt eine große reiche Arbeiteraristokratie aufrechterhalten. Die Widersprüche in diesem Arrangement sind sicherlich im neoliberalen Programm deutlich geworden, das einen mehrstufigen Angriff auf die globale Arbeiterklasse einschließlich der westlichen Arbeiteraristokratie vorsah. Vielleicht hat die Vorhut der herrschenden Klasse in diesem Zusammenhang, wenn nicht schon früher, auf das umgeschwenkt, was Fitts als »Finanz‐Coup« bezeichnet hat. Als das Nixon‐Gambit eingeleitet wurde, muss ihnen bereits klar gewesen sein, dass sie sehr viel direktere Mittel zur Kontrolle der Bevölkerung benötigen würden (und diese nun auch wirklich erdenken und umsetzen konnten). Es ist bemerkenswert, dass der Sommer 1971, in dem die USA die Konvertierbarkeit in Gold aufgaben, auch der Sommer war, in dem Die Grenzen des Wachstums erstmals in Moskau und Rio de Janeiro vorgestellt wurde. Der Sommer endete auch mit einer großen Tragödie für den Kommunismus weltweit, dem Lin Biao‐Vorfall.
Diese drei Punkte helfen uns beim Verständnis der derzeitigen Ausrichtung der herrschenden Klasse, der Risiken und die Chancen, die sich ihr bieten. Wie fast immer, wenn die herrschende Klasse einen bedeutenden Schritt macht und man sich fragt »warum?«, lautet die Antwort sowohl »weil sie kann« als auch »weil sie muss«. Der Sieg der Kapitalisten – natürlich unterstützt von Kissinger und Nixon mit reichlich Gold der Goldenen Lilie via Marcos – sollte vielleicht als der Anfang vom Ende der ersten Welle der globalen kommunistischen Revolution gesehen werden. Die Niederschlagung der revolutionären Massen und die Unterwerfung der vom Westen unterstützten Deng‐Clique wurde von der westlichen herrschenden Klasse mit Sicherheit als solche interpretiert und spielte eine große Rolle bei ihrer Zuversicht zur Einleitung des neoliberalen Angriffs. Sie bot auch direkt die Gelegenheit, Südostasien als eine wichtige Zone für produktive Kapitalinvestitionen zu etablieren, um die Deindustrialisierung zu ersetzen, die im innenpolitischen Kampf gegen die imperiale Arbeiteraristokratie notwendig war.
Die Konterrevolution in China vermittelte der herrschenden Klasse, wie Molly Klein betont hat, ganz wesentlich auch die Erfahrung einer radikal gefestigten Kontrollposition und eines gut integrierten, breiten, tiefen, sozial lebendigen Netzwerks für die Schaffung und Verteilung politischer Macht. Die hochgradig funktionierende kommunistische Gesellschaftsorganisation konnte an den entscheidenden Knotenpunkten – mit entsprechender Gewalt und Täuschung – so modifiziert werden, dass sie für ihre Zwecke besser geeignet war, als es den kapitalistischen herrschenden Klassen in den imperial‐kapitalistischen Staaten möglich gewesen war. An dieser Stelle ist es angebracht, auf die völlige Absurdität hinzuweisen, die von so vielen unserer Genossen vertreten wird: dass die Nachkommen der Clique, die den chinesischen Kommunismus zerschlagen, die chinesischen Massen versklavt und ihren kollektiven Reichtum auf dem Silbertablett ihren amerikanischen Herren in Form von Krediten serviert hat, die die chinesischen Massen nie wieder zurückbekommen werden, ein bedeutender Gegenspieler der Avantgarde der herrschenden Klasse im Westen sind. Das Gleiche stellt man sich in Bezug auf Wladimir Putin und die Clique um ihn herum vor. Putin, der die mörderische Ausplünderung der ehemaligen Sowjetunion beaufsichtigte und der von Jelzin ausgewählt wurde, in ständiger Abstimmung mit Clinton arbeitend, um die Kontrolle über die russische Bevölkerung nach der Rubelkrise (die ihrerseits in erheblichem Maße ein Ergebnis der durch das Dollar‐Wall‐Street‐Regime verursachten Turbulenzen war) abzusichern und zu konsolidieren. Die Krise hat gezeigt, dass das Kapital so raubgierig war, dass es einen Staat hinterlassen hat, der zu schwach war, um eine nachhaltige Ausbeutung dessen, was von der UdSSR übrig geblieben war, durchzusetzen. Putin hatte offensichtlich den Auftrag, dies zu korrigieren. Die Vorstellung, dass Putin oder Xi trotz ihrer realen politischen Geschichte, ihrer Politik, ihrer Stellung in den Eigentumsverhältnissen und ihrer realen materiellen Grundlagen politischer Macht ein wirklich antagonistisches Verhältnis zu der herrschenden Klasse haben, die sie an die Macht gebracht hat, ist absurd. Sei es in der Form, dass sie sich einbilden, sie würden ihre eigenen divergierenden imperialistischen Interessen verfolgen oder eine Art (vielleicht widerwilligen) antiimperialistischen Kampf mit dem Westen führen. Die Tatsache, dass sie den monströsen Angriff der herrschenden Klasse auf die Menschheit in den letzten zwei Jahren unter dem Deckmantel dieser lächerlichen »Coronavirus«-Fabel im Gleichschritt durchgesetzt haben, lässt keinen Zweifel daran aufkommen.
Was vielleicht noch skandalöser ist, ist die Tatsache, dass die Massen des imperialen Kerns mit all ihren rudimentären arbeiteraristokratischen Privilegien in vielerlei Hinsicht weiter sind als die Kommunisten, die vorschlagen würden jene zu führen. Dies äußert sich vor allem in Form von »Verschwörungstheorien«, die selbst in ihrer vulgärsten Form, wenn sie organisch sind, die wirkliche Intuition der Massen zum Ausdruck bringen, dass die herrschende Klasse immer weniger zurechnungsfähig ist und dass sie, die Massen, entrechtet und enteignet werden. Die große Mehrheit der Arbeiter auf der ganzen Welt ist niemals schockiert oder entsetzt über »Verschwörungstheorien« – sie werden sie im Allgemeinen in Betracht ziehen, die Beweise prüfen und sie gegebenenfalls zurückweisen. Aber klassenbewusste Arbeiter lehnen die Vorstellung, dass die herrschende Klasse sich (größtenteils verdeckt und oft auf kriminelle Weise) verschworen hat, um sie zu unterjochen, niemals von vornherein ab – ihre tägliche Erfahrung ist eine ständige Erinnerung an die endlose Kette von Verschwörungen der herrschenden Klasse gegen ihre Interessen.
In der Tat ist die einzige Klasse in der Welt, die diesen kreischenden Terror vor »Verschwörungstheorien« an den Tag legt, die imperiale Kleinbourgeoisie, die Klasse, die fast ausschließlich davon lebt, der Bourgeoisie zu schmeicheln. Dass Angehörige dieser Klasse einen übergroßen Einfluss in marxistischen Organisationen gewonnen haben, ist offensichtlich. Und die ideologischen Vorurteile, die sie – oft unbewusst – durchsetzen, sind pures Gift für die kommunistische Bewegung. Es ist diese Klasse, die fordert, dass wir Verschwörungstheorien ablehnen oder ignorieren sollen, weil wir damit die Öffentlichkeit verprellen würden. Mit diesen Forderungen tun sie das, was man ihnen beigebracht hat. Damit beziehen sie sich nicht auf die reale, konkrete Öffentlichkeit, sondern auf die künstliche, fabrizierte, durch das Spektakel geschaffene »Öffentlichkeit« im Spiegelsaal. In der realen Masse ist die »Verschwörungstheorie« kein Tabu. 90 Prozent der Deutschen glauben nicht, dass die US‐Regierung die volle Wahrheit über 9/11 sagt – 40 Prozent glauben an eine geheime Weltregierung, noch mehr glauben, dass die Regierung kriminell ist. Telefonumfragen zeigen häufig, dass etwa die Hälfte der Amerikaner der Darstellung des Bush‐Cheney‐Regimes über die Anschläge vom 11. September nicht glauben. Dabei ist zu bedenken, dass Telefonumfragen in erster Linie ältere und wohlhabendere Amerikaner betreffen, die der Regierung eher glauben und eher die Fernsehnachrichten konsumieren. Eine Umfrage aus dem Jahr 2007, kurz bevor Barack Obama eingesetzt wurde, um die Legitimität der Regierung in der Bevölkerung massiv zu stärken, ergab, dass mehr als die Hälfte der Befragten wünschte, dass der Kongress Bush und Cheney wegen der Anschläge absetzen sollte. 67 Prozent sagten, die 9/11‐Kommission hätte den Einsturz von Gebäude 7 untersuchen sollen. Wiederholte Umfragen, die gemeinsam von der New York Times und dem Fernsehsender CBS – gewiss keine Systemkritiker – durchgeführt wurden, ergaben, dass eine kleine Minderheit von Amerikanern – nie mehr als ein Viertel und im April 2004 sogar nur 16 Prozent – glaubte, dass das Bush‐Regime die Wahrheit sagte, als es bestritt, von den Anschlägen gewusst zu haben. Eine Umfrage aus dem Jahr 2007 ergab, dass mehr als 60 Prozent der Amerikaner es für einigermaßen oder sehr wahrscheinlich hielten, dass Leute in der Bundesregierung von den Anschlägen wussten und sich entschieden, nicht zu reagieren.31
Catherine Austin Fitts, ein echtes (inzwischen abtrünniges) Mitglied der herrschenden Klasse, hat einmal festgestellt:
Wissen Sie, ich bin ein Verschwörungs‐Fußsoldat, wissen Sie, ich wurde mein ganzes Leben lang dazu erzogen, Verschwörungen zu planen. Ich war mein ganzes Leben lang Teil von Tausenden von Verschwörungen. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der die Menschen mächtig waren und Verschwörungen nutzten, um ihre Zukunft zu gestalten. Man baut die Zukunft auf, eine Transaktion und ein Projekt nach dem anderen – und es geht immer um Investitionen, es geht immer um Ressourcen, es geht immer um Geld. Und selbstverständlich macht man das immer als Verschwörung, weil man den Mund halten muss, weil man sonst von anderen aufgehalten wird – ich sage nicht, dass das illegal ist – ich sage nur, dass die Verschwörung das grundlegende Werkzeug ist, das die Menschen benutzen, um ihre Zukunft aufzubauen. Wenn du sie jetzt verunglimpfst, wirst du hilflos und machtlos sein und nicht wissen, wie die Welt funktioniert. Also hören Sie einfach damit auf, denn Sie wissen, dass wir uns darauf konzentrieren müssen, erfolgreiche Verschwörungen zu starten und durchzuführen, denn das ist es, was gewinnt.32
Die an der Spitze wissen, dass sie sich verschwören. Die am Boden wissen, dass jene sich gegen sie verschwören. Wir sollten uns nicht mit der – global gesehen – extremen Minderheit befassen, die versucht den Ersteren zu schmeicheln, indem sie sich einredet, dass sie sich nicht verschwören.
6. Der Finanz‐Coup
Leider muss dieser Abschnitt im Interesse der rechtzeitigen Veröffentlichung dieses Beitrags zum Kommunismus‐Kongress in Berlin stark gekürzt und mit wenigen Zitaten versehen bleiben.
Catherine Austin Fitts hat, nachdem sie sich erfolgreich aus einem zehnjährigen Rechtsstreit wegen politischer Verfolgung mit dem Justizministerium herausgearbeitet hat, weil sie die Machenschaften des ersten Bush‐Regimes aufgedeckte, daran gearbeitet, das aufzudecken, was sie als Finanz‐Coup bezeichnet. Im Wesentlichen hat sie die die Auffassung untermauert, dass spätestens ab Ende der 90er‐Jahre die grundlegende Entscheidung getroffen worden sei die Vereinigten Staaten »aufzugeben«. Man kann sich schließlich kaum vorstellen, dass die herrschende Klasse nach der erfolgreichen Eroberung der kommunistischen Welt die Absicht hatte die sozialstaatlichen Verpflichtungen, zu denen sie unter den ungünstigen Verhandlungsbedingungen des Kalten Krieges gezwungen war, einzuhalten. Dies geschah zum Teil durch ein konzertiertes Deregulierungsprogramm, das Fitts als die »große Vergiftung« bezeichnet und die Verbraucher mit lebensverkürzenden, giftigen Produkten (einschließlich Impfstoffen) überschwemmt.
Noch wichtiger ist jedoch, dass dies die Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit des Finanzministeriums bedeutete, das die Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit übernommen hat. Eine Folge war die Perversion oder Einstellung aller anderen staatlichen Funktionen ausgenommen der Unterdrückung und Plünderung. Dieses Programm, die Essenz des Reaganismus, wurde in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes umgesetzt. Doch Fitts konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf einen Knotenpunkt, der mit der Wall Street und ihrem konkreten Betrug am amerikanischen Staat, dem massiven Transfer von Reichtum an nicht offengelegte Quellen, verbunden ist. Die Analyse von Fitts ist natürlich durch ihre Klassenlage, ihren Beruf und ihr politisches Engagement äußerst begrenzt. Nichtsdestotrotz liefert sie eine solche Fülle von Erkenntnissen zu so vielen Themen, die von der kommunistischen Bewegung unterschätzt werden, dass es sich lohnt, sie hier ausführlich zu zitieren. Was folgt, ist ein Transkript aus einem Podcast‐Interview. Sie beginnt mit der inzwischen wohlbekannten Tatsache, dass die derzeitige, angeblich durch eine Pandemie ausgelöste Krise in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Repo‐Märkten im Sommer 2019 sichtbar war, bevor das Virus selbst angekündigt wurde:
Catherine Austin Fitts: Die G7‐Zentralbanker kamen zusammen – in erster Linie versammeln sich die G7‐Bankiers jedes Jahr in Jackson Hole bei einer der Fed‐Mitgliedsbanken, wo sie ihre Politik diskutieren und entwickeln. Bei dem Treffen in Jackson Hole im August 2019 trafen sich die Zentralbanker und stimmten über einen Plan namens ›Going Direct Reset‹ ab. Das Weltwirtschaftsforum, das eine – Sie wissen schon, die Davos‐Gruppe, ist für mich nur ein Marketingarm des Going Direct Reset. Der eigentliche Plan wird von den Zentralbankern vorangetrieben. Es handelt sich um eine Umgestaltung der Funktionsweise des Regierungssystems und des Finanzsystems auf dem Planeten Erde. Für mich begann dies in den 90er‐Jahren. Ich nenne es den Finanz‐Coup. Jetzt beschleunigt er sich zu einem viel aggressiveren Coup. Der Finanz‐Coup, der 1998 begann, sollte für viele Menschen unsichtbar sein. Wir überschwemmten die Wirtschaft mit Schulden, so dass alle dachten, die Zeiten seien gut. Die Veränderungen in der Kontrolle, die im Stillen hinter den Kulissen durchgeführt wurden, wurden nicht bemerkt. Sie stimmten also über diesen Plan ab, der aus mehreren Teilen besteht. Einer davon ist das massive Drucken von Geld und Verschuldung, sodass das Geld zu den Insidern fließt, die dann alles auf dem Monopolybrett aufkaufen können und die Zerstörung der Unternehmen und Geschäfte und Cashflows der Außenseiter fordern …
Nehmen wir an, in einem Häuserblock gibt es ein großes börsennotiertes Unternehmen mit einem großen Kaufhaus, dann gibt es noch hundert kleine Geschäfte: Sie erklären die hundert kleinen Geschäfte für unwichtig. Dann gehen alle Kunden zu dem börsennotierten großen Kaufhaus, was dessen Gewinne in die Höhe treibt, was wiederum den Aktienmarkt in die Höhe treibt. Sie spielen also ein Spiel der Konsolidierung des gesamten Reichtums in – wie George H.W. Bush es nannte – ›immer festeren Händen‹. Während Sie damit beschäftigt sind, eine Million kleiner Unternehmen in Amerika zu zerstören, wollen Sie die Menschen so verwirren, dass sie nicht merken, was passiert. Also erzählt man ihnen, es gäbe die Pest und eine Krankheit und sie würden alle sterben. Man mache das alles nur um zu helfen. Es ist im Grunde ein Spiel der Wirtschaftskriegsführung. Je mehr man die Leute dumm hält, damit sie sich im Kreis drehen und nicht verstehen, was vor sich geht und je mehr Angst sie haben, desto schneller und billiger kann man es machen.
Trish Wood: Was ist letztendlich der Zweck davon, was wollen sie erreichen?
Catherine Austin Fitts: Was sie also erreichen wollen, ist eine Gesellschaft, in der der Ressourcenverbrauch eines Individuums viel geringer ist. Die obersten – je nachdem, wo man die Zahl ansetzt, sagen wir, das oberste eine Prozent – werden hundertfünfundvierzig Jahre alt, weil die Biotechnologie das möglich macht, während die Menschen, die nicht zu diesem Prozentsatz gehören, ein politisch weniger einflussreiches, weniger ressourcenreiches Leben fristen werden. Wenn man sich die Geschichte der Sklaverei ansieht, muss man wissen, dass die Sklaverei das profitabelste Geschäft aller Zeiten ist, das beste Investitionsgeschäft, das je geschaffen wurde. Aber die Sklaverei wurde beim letzten Mal abgeschafft, weil man die Sicherheiten nicht perfektionieren konnte – man konnte einige der Sklavenaufstände nicht niederschlagen. Die Digitaltechnik gibt ihnen die Möglichkeit, die Sicherheiten zu perfektionieren und alle Rebellionen niederzuschlagen – wenn sie ein vollständiges Kontrollnetz einrichten können. Und so gibt es ihnen die technologische Fähigkeit, jeden im Wesentlichen auf Sklaverei zu reduzieren – eine bewusstseinsgesteuerte Sklaverei: Im Jahr 2030 werden Sie kein Vermögen haben und Sie werden glücklich sein. Das ist die Vision. Und das eine Prozent kann es sich leisten bis 145 Jahre alt zu werden und ein sehr wohlhabendes Leben zu führen, weil der Ressourcenverbrauch in der Allgemeinbevölkerung so stark reduziert wurde.33
Natürlich folgt das, was Fitts beschreibt, logisch aus Lenins Analyse. Er beobachtete zu seiner Zeit folgendes:
Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ›Groß’macht kleinere (als in England 1848 – 1868) Schichten der ›Arbeiteraristokratie‹ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ›bürgerliche Arbeiterpartei‹, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ›bürgerliche Arbeiterpartei‹ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte. Denn die Truste, die Finanzoligarchie, die Teuerung usw., die die Bestechung einer dünnen Oberschicht ermöglichen, unterdrücken, unterjochen, ruinieren und quälen die Masse des Proletariats und Halbproletariats immer mehr.34
Molly Klein hat in der Tat mit bemerkenswerter Präzision vorausgesagt35, dass sich die herrschende Klasse auf etwas Ähnliches wie das, was unter dem Vorwand »Corona« eingeführt wurde, vorbereitet hat, lange bevor die Pest im Jahr 2019 überhaupt erwähnt wurde.
Wie oben gezeigt wurde, zwangen die außergewöhnlichen politischen Umstände des Kalten Krieges, des existenziellen Kampfes mit dem revolutionären Kommunismus, die herrschende Klasse dazu, eine breite Arbeiteraristokratie zu kultivieren. Unter den Bedingungen des konterrevolutionären Kampfes und des zwischenimperialistischen Kampfes innerhalb der Triade USA‐Westeuropa‐Japan (sowie innerer widersprüchlicher Tendenzen in der Geldversorgung) wurde von der Avantgarde der herrschenden Klasse eine Strategie gewählt, die es ihr ermöglichte über den amerikanischen Dollar, das amerikanische Militär und die von den USA kontrollierten verdeckten Geheimdienstnetze eine noch nie dagewesene Macht über den kapitalistischen Block und in der Folge über die Welt zu erlangen.
Dialektisch verflochten mit der Konsolidierung der Macht über den Globus durch die von den USA geführte kapitalistische herrschende Klasse war die Konsolidierung und Konzentration der Macht innerhalb der herrschenden Klasse selbst. So wie die kapitalistischen Nationen auf der Makroebene gezwungen waren, sich der amerikanischen Führung unterzuordnen, wenn sie die revolutionäre kommunistische Alternative nicht akzeptierten, so bedeutete die Dynamik dieses Prozesses, dass die Konzentration der globalen Macht eine zunehmend konsolidierte und verdeckte reale Führung innerhalb der Vorhut der Vereinigten Staaten hervorbrachte. Die Macht hierarchisch organisierter, nachrichtendienstlich geführter Machtstrukturen zur Erlangung der Vorherrschaft unter solchen Umständen war, wenn man das große Ganze betrachtet, unvermeidlich. Es ist daher nicht sonderlich überraschend, dass die mächtigsten »Kapitalisten« heute in Wirklichkeit gar keine Kapitalisten sind, sondern direkte Geschöpfe des ultraimperialistischen militärisch‐geheimdienstlich‐industriellen Komplexes. Menschen wie Gates, Musk oder Bezos leiten keine kapitalistischen Unternehmen, die Risiken eingehen und Waren für einen Verbrauchermarkt produzieren. Ihr Reichtum stammt aus erzwungenem Konsum – erzwungen in dem Sinne, dass die Steuerzahler die Produkte über die Staatshaushalte »kaufen« müssen oder buchstäblich gezwungen werden, sie mit rechtlichen und politischen Mitteln zu konsumieren. Ein Unternehmen wie Amazon, das nie einen Gewinn erwirtschaftet hat, in das aber diejenigen, die über Insiderwissen verfügen, weiterhin investieren und das erst Gewinne erzielte, als es staatliche Aufträge erhielt, kann nicht als kapitalistisches Unternehmen verstanden werden. Es ist ein direkter Mechanismus der ultramonopolistischen Konsolidierung.
Diese Rückkehr zu immer nackteren und direkteren Formen der Ausbeutung geht einher mit einer entsprechenden Explosion des Spektakels, das notwendig ist, um sie zu verschleiern – die massive Telekommunikationsstruktur, die endlose Desinformation. Elemente dieses Wandels werden durch die fortbestehenden Hüllen der kapitalistischen Verhältnisse verschleiert, aber die grundlegend andere Ordnung, unter der wir jetzt leben, wird beim geringsten ernsthaften Nachdenken deutlich. Ein Großteil der Überwachungs‐ und Kontrolltechnologien, denen wir zunehmend unterworfen sind, wird beispielsweise durch eine faule, unausgegorene Art der Analyse als verzweifelte Suche nach »Klicks« und »Daten« erklärt. Wenn dies zuträfe, müsste die Konsummacht der so unterstellten Bevölkerung so groß sein, dass ihre differenzierten Käufe solche massiven Kapitalausgaben rechtfertigen – und rentabel machen – würden. Dies geschieht jedoch, während die breite Masse, selbst im Westen, ihre Kaufkraft exponentiell schrumpfen sieht. Noch einmal: All diese Überwachungen und Daten sind nicht aufgrund eines echten kapitalistischen Marktes »profitabel«, sondern weil jemand (die Regierung und »private« Geheimdienste) sie wegen ihres Nutzens für die Ausübung direkter Kontrolle kauft. Daten sind nicht das »neue Öl«: Das »neue Öl« ist die massiv erweiterte Fähigkeit der herrschenden Klasse, Sie auszubeuten, indem sie die Daten, die sie über Sie gesammelt hat, direkt und indirekt nutzt. Wir und unsere kollektive, drohende Versklavung sind das »neue Öl«.
Eine angemessene Darstellung der Entwicklung des Imperialismus seit den 1970er‐Jahren, die in naher Zukunft in einem ergänzenden Beitrag zu diesem Essay behandelt werden wird, müsste sich insbesondere mit der Konsolidierung der Macht der herrschenden Klasse befassen, die durch den 11. September 2001 und den »Krieg gegen den Terror«, die Finanzkrise von 2008 und natürlich das fabrizierte Spektakel »Pandemie« der letzten zwei Jahre erreicht wurde. Sie müsste auch die BRICS‐Staaten, vor allem China, als wichtige Laboratorien für Experimente der herrschenden Klasse bei der Verkleinerung und Neuverteilung der Privilegien der Arbeiteraristokratie betrachten, vielleicht entlang der nackten Rassen‐ oder Kastengrenzen.
Es ist jedoch hoffentlich genug gezeigt worden, um darauf hinzuweisen, dass die extreme Konsolidierung, Disziplin und Geschlossenheit der gegenwärtigen internationalen herrschenden Klasse kaum überschätzt werden kann. Und in ihrem (bisher) erfolgreichen Kampf gegen die revolutionären Massen sowie die nichtkapitalistischen Schichten unter ihnen haben sie die globale Ordnung grundlegend verändert. Sie sind jetzt in einer Position, in der sie eine viel direktere Kontrolle über die Bevölkerung ausüben können und müssen – in der sie kein auch nur annähernd freies oder unabhängiges Kapital mehr dulden können.
Die größte Herausforderung für die herrschende Klasse in diesem Übergang ist natürlich die Volksrevolution. Sie vollführen den heikelsten Tanz bei der kontrollierten Zerstörung privilegierter Sozialdemokratien, die sie nicht mehr brauchen, die aber die Grundlage für die militärische Macht bildeten, mit der sie ihre Herrschaft auf dem ganzen Globus durchsetzten. Sie jonglieren mit der heiklen Frage, wie sie die Kontrolle über ihr Vermögen behalten können, während sie uns alle betrügen. Offensichtlich beabsichtigen sie eine massive Reduzierung der Gesamtbevölkerung sowie eine dramatische Senkung des Lebensstandards derjenigen, die für sie arbeiten müssen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass dies nicht unbedingt immer bedeutet, die am wenigsten Privilegierten anzugreifen, vor allem nicht die, über die sie eine einigermaßen solide Kontrolle haben. Das Naziprogramm hat sich durch die Ausplünderung (»Arisierung«) des bürgerlichen und kleinbürgerlichen jüdischen Besitzes wesentlich liquides Kapital verschafft. Die herrschende Klasse verfolgt diese Ziele durch verschiedene Strategien, nicht »unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.36 Zu den größten Risiken in dieser Entwicklung gehören die postsowjetischen (und chinesischen) Massen mit einer echten lebendigen Erinnerung an den Sozialismus und mit einem weitaus geringeren Anteil an der gegenwärtigen Ordnung als die westlichen Massen, die sich immer noch verzweifelt an ihre immer elender werdenden »Privilegien« klammern.
Die herrschende Klasse kann ihren Willen in diesem großen wogenden Meer der Massen niemals direkt durchsetzen. Sie muss ihre Ziele durch die Kanalisierung unserer eigenen Energie erreichen. Wie Lenin schon sagte:
Ohne Wählen geht es in unserem Zeitalter nicht; ohne die Massen kommt man nicht aus, die Massen aber können im Zeitalter des Buchdrucks und des Parlamentarismus nicht geführt werden ohne ein weitverzweigtes, systematisch angewandtes, solide ausgerüstetes System von Schmeichelei Lüge, Gaunerei […].37
In unserer Zeit geht nichts mehr ohne Spektakel. Ein großer Teil des geplünderten Reichtums der zurückeroberten sozialistischen Welt floss in den »Dot‐Com‐Boom«, in die massiven Investitionen in Technologien zur Überwachung, Propaganda, Bewusstseinskontrolle wie »Entrainment«, Desinformation und Manipulation. In ihrer effektivsten Form mobilisiert dies die stärksten Energien der Massen. Dies ist mit dem großen Risiko ihrer Aktivierung verbunden. Der Corona‐Betrug funktionierte nicht nur durch Terror und Gewalt, sondern auch durch die Irreführung der besten menschlichen Instinkte, der Solidarität und unserer richtigen Intuition, dass das Kapital uns um des Profits willen unnötigen Risiken aussetzen würde. Die Massen in Russland und der Ukraine – wie in den meisten ehemals sozialistischen Ländern – haben den Corona‐Betrug weitgehend durchschaut und gehören zu den am wenigsten geimpften oder anderweitig willfährigen Bevölkerungen der Welt. Sie stellen Gebiete mit einem enormen revolutionären Potenzial dar, das sich natürlich gegen ihre eigenen Kompradorenregierungen richten sollte. Der wirklich revolutionäre Wunsch der russischen Massen, den realen Faschismus zu bekämpfen, wird in einen Konflikt gelenkt, von dem wir als allerletztes annehmen sollten, dass er sich tatsächlich um einen realen Grundkonflikt zwischen den jeweiligen herrschenden Klassenfraktionen dreht, die ihn orchestrieren. Unsere erste Frage sollte lauten: Was sind die Ziele des gemeinsamen (oder Ultra‑, Super‐ oder Kollektiv‐) Imperialismus in diesem Konflikt. Welche Aspekte ihres Programms werden vorangetrieben? Wie werden die für sie gefährlichsten Massen durch den Fleischwolf gedreht, wie wird die Militarisierung und der anhaltende »Ausnahmezustand« gerechtfertigt? Wie wird der Lebensstandard der Massen weiter gesenkt und die direkte Kontrolle der herrschenden Klasse über die Wirtschaft vorangetrieben?
Oder vielleicht könnte man mit einer einfacheren Frage beginnen. Die Genossin Yana beschreibt in hervorragender Weise den kompradorenhaften Charakter der russischen Bourgeoisie und des Staates. Sie zeigt, wie effektiv Mehrwert und Ressourcen aus Russland zum Nutzen der imperialistischen herrschenden Klasse abgezogen werden. Jeder kann sehen, wie die Show des guten Bullen und des bösen Bullen zwischen Putin und dem Westen ein Dauerbrenner der Propaganda für die wichtigsten Zielgruppen beider Parteien ist: Nichts macht Putin für die russischen Massen attraktiver als die in den westlichen Medien endlos verbreitete Lüge, dass er den Westen bekämpft. Aber man muss sich nach Yanas Analyse wirklich fragen: Welche bessere Ordnung könnte sich das Imperium für Russland überhaupt vorstellen? Gibt es eine denkbare Ordnung, die die reibungslose und dauerhafte Ausbeutung der russischen Massen effektiver gewährleistet als die, die es unter Putins Führung bereits genießt?
Lenin sagte einst: »Der Kapitalismus, der seine Entwicklung als kleines Wucherkapital begann, beendet seine Entwicklung als riesiges Wucherkapital.«38 Wir könnten hier auch anmerken, dass der Kapitalismus, der mit Piraterie und Sklavenhandel begann, zu diesem zurückkehrt. In der Tat verglich Isa Blumi in einem äußerst scharfsinnigen Interview im März 2022 die Praxis der derzeitigen herrschenden Klasse mit Piraterie. Molly Klein hat in der Vergangenheit von Neo‐Barbarei gesprochen. In Anlehnung an Lenins spöttische Bemerkung, dass die einzige Verbesserung, die Kautsky an Hobson vorgenommen hatte, darin bestand, »Interimperialismus« durch »Super‐ oder Ultraimperialismus« zu ersetzen, könnten wir feststellen, dass die Semantik hier unwichtig ist. Klar ist, dass die herrschende Klasse auf eine noch unverhülltere Ausbeutung zurückgreifen kann und muss, die nur durch die ausgeklügelte Maschinerie des Spektakels verschleiert wird. Als solche waren sie noch nie so verwundbar; der Kommunismus war vielleicht noch nie so leicht zu erreichen.
Indem die herrschende Klasse in Russland die tiefe Nostalgie und die kollektive Erinnerung an den Sozialismus und den Kampf gegen den Hitlerfaschismus ausnutzt, spielt sie mit dem Feuer. Vielleicht können sie in ihrer Hybris und in ihrer Bösartigkeit die menschliche Macht nicht begreifen, die sie mit diesem Schachzug zu usurpieren versuchen. Unsere größten Hoffnungen ruhen auf den russischen und ukrainischen Massen, die die herrschende Klasse mit äußerster Vorsicht, ja sogar auf ihre äußerste Gefahr hin aufrüstet. Eine der offensichtlichen Funktionen des Krieges besteht darin, eine umfangreiche militärische Aufrüstung in Europa zu rechtfertigen und zu verschleiern, denn schließlich besteht in Europa tatsächlich die Aussicht auf eine Revolution. Der heldenhafte Kampf der Menschen im Donbass zeigt uns den Weg nach vorne. Als Reaktion auf den Nazi‐Putsch schlossen sich die Massen des Donbass 2014 einem Aufruf an, sich nicht Russland anzuschließen, sondern die Sowjetrepublik Donezk‐Kriwoj Rog wieder zu errichten. Dies war ein bewusster Schritt zum Aufbau des universellen Sowjets, der unsere einzige denkbare und realisierbare Hoffnung ist angesichts der nahezu flächendeckenden Beherrschung der Welt durch die herrschende Klasse und ihres ungezügelten Angriffs auf praktisch die gesamte Weltbevölkerung. Wir müssen uns nur von dem Spektakel losreißen, das Drop‐Down‐Menü des Tages zurückweisen, das uns die allgegenwärtige Ton‐ und Lichtshow der herrschenden Klasse präsentiert. Wir müssen unseren eigenen Weg bestimmen.
Lange Zeit ließ sich die kommunistische Bewegung in Europa von den etablierten Strukturen der kapitalistisch‐imperialistischen Gesellschaft abhängig machen – nicht nur im Hinblick auf Informationen, sondern auch auf vieles andere. Das war verständlich, denn der sozialdemokratische Kompromiss, der in der Arbeiteraristokratie verankert war, verlieh den etablierten Einrichtungen einen echten, wenn auch abgeschwächten demokratischen Inhalt. Sie waren gegenüber einer (wenn auch nur teilweise) freien Bevölkerung tatsächlich und in erheblichem Maße rechenschaftspflichtig. Dies ist schon lange nicht mehr der Fall. Die Mainstream‐Medien im weitesten Sinne sind heute völlig ausgehöhlt, kontrolliert und feindlich gegenüber den Interessen der breiten Masse überall. Andererseits werden täglich immer größere Massen aus der Systemkonformität gerissen. Die Kapazität, uns hier im Westen massenhaft zu organisieren, um unsere Interessen durchzusetzen, ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Verschwörung kommt vom lateinischen con‐spirare: gemeinsam atmen. Das heißt, das zu tun, was die herrschende Klasse in den letzten zwei Jahren mit Hausarrest, Einschränkungen, Distanz und Masken verboten hat. Oder besser gesagt – wie bei den unzähligen Gelegenheiten, bei denen wir sie hinter den Kulissen erwischen, immer unmaskiert und intim –, was die herrschende Klasse sich als ihr ausschließliches Recht vorbehalten hat. Es ist an der Zeit, dass wir ihre Beschränkungen unseres Handelns und Denkens zurückweisen, dass wir die Realität der Praxis der herrschenden Klasse anerkennen und dass wir uns zur Durchsetzung unserer eigenen Interessen zusammenschließen.
Besondere Anerkennung gebührt Molly Klein, die nicht nur die Quelle für einen Großteil der hier vorgestellten Analysen ist, sondern auch bei der Zusammenstellung und Bearbeitung dieses Aufsatzes eine große Hilfe war. Diese Arbeit verdankt sich außerdem insbesondere den Analysen von Phil Greaves, Jacob Levich und Hieropunk.
Die englische Originalversion dieses Textes erschien am 24. September 2022 in der MagMa English. Außerdem liegt eine türkische Übersetzung vor: Emperyalizm Günümüzde Bir Komplo Uygulamasıdır
Verweise
1 Lenin, Imperialismus, Kap. VII, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_269.htm
2 W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« (Oktober 1916), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/spaltung.html
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983, http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_451.htm
4 Lenin, Imperialismus, Kap. X, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_304.htm
5 Lenin, Imperialismus, Kap. I, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_200.htm
6 Lenin, Imperialismus, Kap. II, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_214.htm
7 Lenin, Imperialismus, Kap.VIII, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_280.htm
8 Lenin, Imperialismus, Kap. VII, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_269.htm
9 Lenin, Imperialismus, Kap.VIII, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_280.htm
10 John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Duncker & Humblot, München/Leipzig 1936 (Zitat ist aus dem letzten Kapitel).
11 Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 25, »Das Kapital«, Bd. III, Dritter Abschnitt, S. 251 – 277
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983, Kap. 15, II [Hervorhebung im Original], http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_251.htm
12 Lenin, Imperialismus, Kap. II [Hervorhebung im Original], http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_214.htm
13 Lenin, Imperialismus, Kap. I, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_200.htm
14 Ebenda.
15 Lenin, Imperialismus, Kap. IV, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_244.htm
16 Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115 – 123, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm
17 W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« (Oktober 1916), Lenin, Werke, Bd.23, Berlin 1957, S.102 – 118, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/spaltung.html
18 Lenin, Imperialismus, Kap. IX.
19 Lenin, Imperialismus, Kap. III, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_229.htm
20 Lenin, Imperialismus, Kap. IX, http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_290.htm
21 John Titus, »2021 Annual Wrap Up: Sovereignty with John Titus,« Solari Report, February 2022, S. 42.
22 Ebenda, S. 51.
23 Ebenda.
24 Siehe Chris Sanders und Cathrin Austin Fitts, »The Black Budget of the United States«, in: World Affairs: The Journal of International Issues, Vol. 8, No. 2 (APRIL‐JUNE 2004), pp. 17 – 34, https://www.jstor.org/stable/48504790
25 Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 23, »Das Kapital«, Bd. I, Siebenter Abschnitt, S. 741 – 791
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968, http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_6
26 Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115 – 123, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm
27 Siehe Chris Sanders und Cathrin Austin Fitts, »The Black Budget of the United States«, in: World Affairs: The Journal of International Issues, Vol. 8, No. 2 (APRIL‐JUNE 2004), pp. 17 – 34, https://www.jstor.org/stable/48504790
28 Ebenda.
29 Ebenda.
30 W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« (Oktober 1916), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/spaltung.html
31 https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polls_about_9/11_conspiracy_theories
32 Minute 1:13 Trish Wood is Critical, May 7, 2022
34 W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« (Oktober 1916), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/spaltung.html
35 https://soundcloud.com/alphonse-van-worden/us-ruling-class-doesnt-want-economic-growth
36 Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115 – 123, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm
37 W.I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« (Oktober 1916), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/spaltung.html
38 Lenin, Imperialismus, Kap. III.
Bild: »Tod dem Imperialismus« von Dimtriy Moor