Große Gegenbewegung gegen den revolutionären Sozialismus – Beitrag zum Seminar »Antifa als Instrument der Herrschenden?«

Lesezeit17 min

Der Faschismus: Das war der Anspruch neu aufstrebender Schichten, die alte verrottete Gesellschaft in ihrer Krise neu zu formieren. Nur wir, proklamierten sie, treten der Weltrevolution tatkräftig entgegen. Nur wir können sie verhindern. Das alte Kleinbürgertum und der Großteil der herrschenden alten Klassen stiegen gerne darauf ein.

Er war die große Gegenbewegung gegen den revolutionären Sozialismus. Der Faschismus: Das war der Anspruch neu aufstrebender Schichten, die alte verrottete Gesellschaft in ihrer Krise neu zu formieren. Nur wir, proklamierten sie, treten der Weltrevolution tatkräftig entgegen. Nur wir können sie verhindern. Das alte Kleinbürgertum und der Großteil der herrschenden alten Klassen stiegen gerne darauf ein.

Nach seiner Niederlage, ab 1943, begann eine zögerliche politische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Faschismus auch von konservativer und liberaler Seite. Man beschränkte sich meist auf Erzählungen von den nazistischen Unmenschen und über das Funktionieren ihres Systems. Das bei weitem umfangreichste Werk (Renzo de Felice) erzählt die Geschichte des italienischen Faschismus als Mussolini-​Biographie. Die Kräfte nunmehr an der Macht, die Liberalen, Konservativen und Sozialdemokraten, schoben die Faschismus-​Analyse dorthin ab, wo sie ihres Erachtens am wenigsten schaden konnte: nach Accademia, an die Universitäten. Wo ansatzweise Analysen versucht wurden, gerieten sie schnell zum Revisionismus, einer mindestens teilweise Rechtfertigung: Das war die Abwehr gegen den Bolschewismus. Ernst Nolte wird von der FAZ noch bei seinem Tod 2016 dafür gefeiert.

Aber die westeuropäischen KPen hatten ihr eigenes Narrativ. Stalin wollte Ruhe im Westen. So wurde der »Antifaschismus« zum Ersatzsozialismus, den man nicht mehr anstreben durfte.

Heute ist die sogenannte »Neue« Faschismus-​Theorie der Versuch, den Faschismus als Problem endgültig zu akademisieren.

Aber gleichzeitig brauchen die Eliten und ihre Intellektuellen den Faschismus als Gefahr. Zwar: Die Linke gibt es nicht mehr. Aber die Rechtspopulisten, die Meloni, die Le Pen, die AfD, Herbert Kickl werden ihnen gefährlich. Also lenken sie von den eigenen autoritären Neigungen ab und bauen eine neue SA auf: Diese offiziellen »Antifaschisten« sollen den intellektuellen Bereich kontrollieren und wenn nötig terrorisieren – die Bevölkerung ist daran nicht interessiert.

»Die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« – so fasste Dimitroff 1935 den Faschismus in eine Wendung, die schon vorher Stalin benutzt hatte.

1935: Hitler war bereits an der Macht. Mussolini konnte sich seit 12 Jahren behaupten und stand sogar mitten in seiner Hochzeit, mit einem gewissen Konsens der Bevölkerung. Österreich, Polen, das Baltikum und auf der anderen Seite der Welt Japan sind faschistisch. In Ungarn herrscht das Horthy-​Regime und nähert sich nach Italien an Hitler an. In Jugoslawien streitet sich die Königs-​Diktatur mit den Nicht-​Serben; in Rumänien mit der Eisernen Garde.

Auf dem 7. Weltkongress spricht auch Togliatti. Er widerspricht Dimitroff und Stalin keineswegs. Aber wenig früher hat er in Moskau für seine Genossen im Exil ein Seminar über den Faschismus gehalten. Es wird erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht – mit gutem Grund. Denn in diesen Vorträgen zeichnet Togliatti ein deutlich unterschiedliches Bild vom italienischen Faschismus. Vor allem:

Der Faschismus an der Macht und der Faschismus als Massen-​Bewegung müssen je anders gesehen werden. Für den Faschismus an der Macht, als Regierungs-​System, könnte man die grob geschnitzte Dimitroff-Stalin‘sche Definition noch irgendwie hinnehmen. Aber auch da sind schon Korrekturen nötig. Der Faschismus als Bewegung aber suchte und fand meist auch eine Massenbasis. Das waren das alte Kleinbürgertum, ein Teil der Bauern; das waren aber vor allem die neuen Mittelschichten: die Angestellten und ein beträchtlicher Teil der Intellektuellen. Der Faschismus begann als Sammelbewegung von Mittelschichten und Lumpenproletariat. Nach dem Putsch wurde er sofort zum politischen Instrument der Oberschichten. Dabei pflegte er einen ausgesprochenen Staats-​Fetischismus. Mussolini wird festhalten: Ich werde nie gestatten, dass der federale (Parteisekretär) den Präfekten kommandieren wird. »Alles durch den Staat, nichts gegen den Staat!« Das aber musste er in seiner Partei erst einmal durchsetzen: Die Farinacci und die Rossoni hatten da andere Auffassungen.

Togliatti wies die Genossen auf die Anfänge des Faschismus hin.

Eine kleine Gruppe von Chauvinisten hatte Italien 1915 gegen den Willen, aber den nur schwachen Widerstand einer großen Mehrheit in den Weltkrieg gepeitscht, gegen den Willen der Bauern und Arbeiter. Sofort traten auch die alten italienischen Probleme auf: Das Korps der hohen Offiziere war unfähig und korrupt. Logistik und Versorgung funktionierten überhaupt nicht. Das zeigte sich im viel diskutierten Problem »Caporetto« (auch bei Gramsci, Machiavelli, 209 ff.), der schweren Niederlage in der »12. Isonzoschlacht« Ende Oktober 1917.

Aber da gab es die mittleren Kader. Das waren meist Mittelschicht-​Leute, die oft freiwillig in den Krieg gingen. Sie waren tüchtig und verhinderten den totalen Zusammenbruch. Nun kamen sie nach Hause. Dort sahen sie Chaos und Unfähigkeit der alten Eliten. Und sie sahen das Biennio Rosso – die Arbeiterklasse in Aufruhr. Im Hintergrund gab es die Oktober-​Revolution. Und sie glaubten, von der Pariser Friedenskonferenz betrogen worden zu sein und zu wenig vom Kriegs-​Raub abbekommen zu haben. Manche gingen daran, selbst einige Stückchen zusammenzustehlen (»impresa di Fiume« des Gabriele d‘Annunzio). Diese Leute fühlten ihre Lebensweise und ihre Ambitionen akut bedroht. Einige unter ihnen stellen sich, zusammen mit lumpenproletarischen Elementen, in den Dienst der alten sozialen Eliten. In der Romagna beziehungsweise im Norden gab es einen wirklichen Bürgerkrieg auf niedrigem Flamme, wo die Banden (squadri) im Auftrag der Latifundisten Kleinbauern und Landarbeiter umbrachten. Zuerst diese fasste Mussolini in seiner Gruppe zusammen. Aber der politische Erfolg dieses Haufens von der Piazza San Sepolcro blieb höchst bescheiden.

Da fassten die Chauvinisten aus der Oberen Mittelschicht (die ANI) den Beschluss, sich mit Mussolinis Gruppe zu vereinigen und den PNF (Faschistische Partei) zu gründen. Sie hatten auch die Beziehungen zu den alten Eliten, die wesentlich wurden. Mussolini verzichtete auf seinen antimonarchischen Affekt und begann die plebeischen Elemente seiner Partei zu zügeln. Der Erfolg blieb nicht aus. Der Blocco nazionale nahm ihn auf seine Listen. Er zog in die Abgeordneten-​Kammer ein.

Aber damit war es nicht getan: Der Nationale Block hatte in der Kammer nur 105 von 525 Abgeordneten, und die Faschisten machten nur 35 davon aus. Parlamentarisch konnte man offensichtlich nicht an die Macht gelangen. Aber das Heer und der König war auf ihrer Seite. Der Bürgerkrieg in den Jahren 1921 und 1922 wurde mit Hilfe der Carabinieri, der sonstigen Behörden und des Heers geführt. Die Landarbeiter in der Romagna und die norditalienischen Arbeiter waren wenig organisiert und hatten gegen diese Macht kaum eine Chance.

Der Marsch auf Rom Ende Oktober 1922 konnte nur gelingen, weil die Staatsmacht mitspielte. Mussolini war sich dessen gar nicht so sicher. Er blieb die ersten Tage im Hintergrund und ließ seine Kumpanen marschieren. Die aber wussten: Die Offiziere standen auf ihrer Seite. Mussolini kam also im Schlafwagen angefahren.

Die nächsten Wahlen organisierten sie. Natürlich gewannen sie sie. Als Matteotti in der Kammer die Fälschungen aufzeigte, brachten ihn die Squadristi um. Mussolini trat die Flucht nach vorn an und übernahm die Verantwortung. Nun gab es die offene Diktatur (Kammerrede vom 6. Jänner 2025). Aber das Finanzministerium zum Beispiel leitete der Graf Giuseppe Volpi, nicht nur Bauspekulant und Kriegslieferant, sondern auch Gründer der Biennale von Venedig (1932). Innenminister wurde der Zeitungsherausgeber Federzoni (ANI) und Justizminister der Professor Alfredo Rocco – sein Strafgesetzbuch ist noch heute Grundlage des italienischen Rechts. Auch die Staatsstruktur gab er vor (»capo di governo«).

Die plebeischen Elemente gab es auch noch: Farinacci war zeitweise Parteisekretär; der Syndikalist Edmondo Rossoni hoher Funktionär; etc. Während die meisten unter ihnen den Faschismus nicht überlebten, gelang es den Herren und Damen (die Sarfatti) aus der Ober- und der Mittelschicht, in der Republik wieder zu Ehren zu kommen, auch den ärgsten Bluthunden (Badoglio, Graziani).

Wir finden bei Togliatti zwei für das Verständnis ganz entscheidende Elemente. Es geht um den Klassen-​Charakter des Faschismus; und es geht um die Frage des Staats. In beiden Punkten finden wir ein Charakteristikum: Abstrakt folgt er der Stalin-​Dimitroff-​Definition; aber im konkreten Detail bietet er eine deutlich andere Darstellung.

Damit beginnt neuerlich die Debatte: Ist der Faschismus eine Angelegenheit der Oberschichten, der Eliten, des Großkapitals? Aber als Massen-​Bewegung konnte er das gar nicht sein! Dann ist also der Faschismus eine Bewegung des Kleinbürgertums? Zwei entscheidende theoretische Feststellungen sind anzubringen:

(1) Eine so sauber angestrebte Zuordnung führt in die Irre. Sie vernachlässigt die Dynamik der Klassenbeziehungen, die Entwicklung der Kräfte. ABER: Zwar müssen wir den bipolaren Schematismus vermeiden. Doch den komplexen Klassenhintergrund müssen wir benennen.

(2) Politik ist kein automatischer Transmissions-​Riemen der Klassen-​Beziehungen – sonst bräuchte es den Faschismus gar nicht! Auch die Eroberung des Staats, zentrale Strategie des Marxismus und des Bolschewismus, wäre überflüssig. Es können jedoch verschiedene Klassen versuchen, den Staat in Besitz zu nehmen und für ihre Interessen einzusetzen.

Wir haben aus Mussolinis Zeitung, Il popolo d‘Italia, eine Aufstellung über die Parteimitglieder. Wir haben die Wahlergebnisse. Und wir haben Mussolinis Zugeständnis von 1926: »Wir haben die Arbeiter nicht erreicht.« Die hier gezeigte Ziffer muss also mit größtem Misstrauen gesehen werden!

Der Faschismus als Bewegung war eine Sache der Mittelschichten. Aber sie irrten sich in der Einschätzung der wahren Machtbeziehungen. Sie mussten sich schnell der Oberschicht unterordnen, dem Finanzkapital, der Bürokratie, dem Militär

Kaum waren die Faschisten an der Macht, nahmen die alten sozialen und ökonomischen Eliten das Heft weitgehend in die Hand. Die neuen Herren verschwägerten sich mit ihnen – ganz wörtlich: Mussolinis Tochter heiratete den Grafen Ciano, später Außenminister, und noch später, 1944, im Auftrag der Nazis und auf direkten Befehl Mussolinis, erschossen (»Prozess von Verona«). Seine diversen Freundinnen kamen alle aus der Oberschicht.

Wie war dies bei den Nazis?

Da gab es einen wichtigen Unterschied.

Beim sogenannten Röhm-​Putsch wurden in einem Aufwaschen auch eine Reihe möglicher bürgerlicher Konkurrenten Hitlers beseitigt, etwa der General von Schleicher, ehemaliger Reichkanzler. Es wurden offiziell erst 77 und dann 83 Leichen gezählt, aber es waren deutlich mehr.

Der Röhm-​Putsch war nur eine Zwischen-​Etappe. Er diente der Machtsicherung nach Innen. Hier tut sich einer der Unterschiede zum italienischen Faschismus auf. Die Nazis waren entschlossen, die Staatsmacht in ihrem und nur in ihrem Sinn zu nutzen. Es war einer der Gründe des vollkommenen Scheiterns des Nazi-​Reichs. Die NS-​Funktionäre und die Nazi-​Ideologen setzten ihren Wahn durch auch gegen die rationaleren Elemente der Bourgeoisie. Die allerdings spielten die ganze Zeit ganz mit. Erst zum Schluss versuchten sie sich abzusetzen. Stauffenberg etc. versuchten einen Putsch. Albert Vögler, neben Hjalmar Schacht wichtigster Großkapitalist, hat sich erst 1945 erschossen.

Togliatti spricht von den eklektischen Elementen des faschistischen Programms. Er wirft ihm sogar vor, es hätte Ideen der Kommunisten gestohlen (»rubato«). Dabei nannte er die Planung (Lezioni, 15). Aber so eklektisch war dies nicht. Diese Mittelschicht-»Sozialisten«, diese »Nationalsozialisten«, diese Faschisten wollten den Kapitalismus rationalisieren, eine formierte Gesellschaft aufbauen und in den Dienst der Nation, das heißt ihrer selbst stellen. Daher benötigten sie die »fattori d‘organizzazione«. Hier geht es um allgemeine Notwendigkeiten in Gesellschaften (und Staaten) der Gegenwart.

Wir finden speziell in Italien auch den Begriff »totalitär«. Die Faschisten benutzten ihn selbst und Togliatti nutzt das Wort auch gern. Das war später ein gefundenes Fressen für die liberal-​konservativen Theoretiker, die Faschismus und Kommunismus in einen Topf werfen wollten. Das war die ironische Rache der Mittelschicht-​Theoretiker an der schlampigen Analyse. Sie alle übersahen nur eines: Diese Tendenzen und Elemente der Formation finden sich in allen hoch entwickelten Gesellschaften nach 1945: In diesem Sinn ist jede moderne Gesellschaft »totalitär«, weil sie Hegemonie will und Staatsmacht braucht. Totalitär ist, wie wir wissen, auch die so liberale mainstream-Gesellschaft. Sie hat es uns in der Zeit des Corona-​Wahns gezeigt, und sie zeigt es uns gegenwärtig wieder.

Die offizielle Ideologie des Faschismus war antimodern. Aber kann man dies so wirklich sagen? Was heißt eigentlich modern?

Giuseppe Bottai (1895 – 1959) war einer der Ideologen des Faschismus und später Bildungsminister. In einem seiner frühen Artikel über diverse Strömungen im Faschismus führt er als eine der anerkannten correnti die Futuristen an. Die Futuristen lassen sich nicht ins antimoderne Eck stellen lassen, wie schon ihre Selbstbenennung zeigt. Es sind die literarischen und künstlerischen Vertreter der modernen Intellektuellen. Wenn man den italienischen Faschismus und den deutschen Nazismus vergleicht, könnte man dies gut an den jeweiligen Haltungen zur Kunst und zu den Intellektuellen durchführen. Wenige Felder sind, wörtlich, so augenfällig. Die von den Faschisten geförderte Kunst hätten die Nazis als entartete Kunst verbrannt. Es war ein Zweig der Moderne.

Der italienische Faschismus hatte im Unterschied zum deutschen Nazismus und anderen faschistischen Gruppen und Cliquen einen intellektuellen Flügel mit erheblicher Bedeutung. Giuseppe Bottai gab die Zeitschrift Critica Fascista heraus. Da waren die Ideologen Rocco und Panunzio, aber auch Gentile; da sind auch Grandi und Federzoni mitzuzählen. Sie waren Intellektuelle, aber sie waren auch Spitzen-​Politiker. Wenn sie von »kollektiven Interessen« der Nation sprachen, so meinten sie die eigenen Interessen und Identitäten. Sie sahen sich als die eigentliche Nation. Immerhin waren sie Minister mit enormer Bedeutung, wie Rocco. Auch Bottai war Minister, er führte Ende der 1920er ein mehr ideologisches als administratives Ministerium, jenes der Korporationen. Später wurde er wichtiger. Damals wollte er dein Ressort ausbauen, wie er selber meinte: zum Koordinations-​Zentrum der (Wirtschafts-) Politik machen, denn der Korporatismus sei das ideelle Zentrum des Faschismus. Als Realist sah er schnell seine Begrenzungen, und als Opportunist suchte er seine Bestätigung mehr in den ideologischen Bereichen, dem Recht und der Kultur. Da konnte er seine Phantasien von der Machtübernahme des intellektuellen Kleinbürgertums ausleben.

Die Sarfatti, Mussolinis Freundin aus dem venezianischen Großkapital, mit jüdischem Hintergrund, förderte die neue Kunst und Kultur. Eine ihrer lauten Strömungen war eine Mailänder Architektengruppe, die den Razionalismo vertraten und dabei vor allem Ideen aus dem deutschen Sprachraum einführen wollten. Sie versuchten, die volle Herrschaft zu übernehmen, unterlagen aber schließlich dem Neoclassicismo. Es waren persönliche Ambitionen und Eifersüchteleien.

Diese und andere Intellektuellengruppen machten Stadt- und Raumplanung, also ein wesentliches Politikfeld. Die EUR sollte den Faschismus zu dessen 20. Jahrestag 1942 feiern und präsentieren. Es war eine Architektur für die Bürokratie – der Wohnbau interessierte sie nicht, sofern er nicht für die Oberschichten als Villen gedacht war. Die Villa für die Petacci hingegen, den Clan der letzten Duce-​Freundin, war ein Juwel für sie.

Aber daneben gab es auch die »Neuen Städte«: Littoria/​Latina, Sabaudia, Aprilia, Arsia; Segezia, Guidonia, etcetera. Sie wurden ideologisiert als Rückkehr von den gehassten Städten auf das Land. Aber jenseits dieser Phrasen war es ein Ansatz, der wesentlich für die Beurteilung des Faschismus ist: in einer zeitgenössischen Gesellschaft ist er auch der Versuch, einige Versäumnisse der alten Eliten zu beheben. Raumplanung ist eine wichtige Politik. Dass man dazu Architekten einsetzt, und möglichst nicht die schlechtesten, zeigt zweierlei: Auch eine zukunftsgerichtete Gesellschaft und ihr Staat wird auf solche Leute zurück greifen. Aber sie müssen politisch kontrolliert werden. Sie haben eigene Interessen, soziale, politische, ästhetische. Die stimmen meist nicht mit denen der Unterschichten überein.

Um diese Zeit hatte sich der italienische Faschismus bereits den Deutschen, den Nazis, ausgeliefert. Mussolini war gegen den Willen seiner Partei in den Krieg eingetreten.

Die Alliierten waren Anfang Juli auf Sizilien gelandet. In der Nacht zum 25. Juli 1943 setzte der Faschistische Großrat mit Mehrheit Mussolini als capo di governo ab. Die Nazis griffen sich ihn und machten ihn zum Marionetten-​Haupt eines Staats von ihrer Gnade (Repubblica di Salò). Und da sehen wir was Interessantes: Die Nationalisten sammeln sich um Badoglio, einer der blutigsten Figuren des Faschismus. Er schloss einen Waffenstillstand und trat dann an Seite der Alliierten in den Krieg gegen Deutschland ein. »La camicia non era piu› nera, ma il fascismo restava il padron.« Die alten (und auch einige jungen) Radaubrüder, die squadristi, meist plebeische Elemente, gehen zu Mussolini und versuchen, den alten Faschismus wiederzubeleben (repubblichini).

Nun aber entscheidet der internationale Kontext.

Auf der Konferenz von Teheran (1. Dez. 1943) hatte sich Stalin seine Interessen bestätigen lassen – bald wird er sie in Jalta nochmals formalisieren. Er wollte nun so schnell wie möglich ein Ende des Kriegs. Westeuropa war außer Reichweite. Also sollte dort Ruhe herrschen. Der revolutionäre Bürgerkrieg in Griechenland zeigte, wohin das führte. Stalin wird dies Tito als einen Hauptvorwurf präsentieren: Er hat die griechischen Kommunisten unterstützt! Togliatti sollte für Ruhe in Italien sorgen. Ende März kehrte er zurück und trat sodann in die Regierung Badoglio ein. Noch war das Nazireich nicht zerschlagen. Antifaschismus schen also eine legitime und plausible Strategie, Sozialismus dagegen war ein Stolperstein.

Dieser Ersatz des Sozialismus durch den Antifaschismus war für ganz Europa gedacht. Auch in Osteuropa wurde dies erst anders, als die USA den Kalten Krieg vom Zaun brachen. Das war 1947. Die vollständige Machtübernahme der Kommunisten in Ost-​Mitteleuropa war nicht zuletzt eine Reaktion darauf. Dasselbe galt für die Gründung des Warschauer Pakts. Stalins Idealvorstellung wäre Finnland gewesen. Noch 1952 schlägt er Adenauer vor: Ihr könnt ganz Deutschland haben – aber ihr müsst neutral sein. Aber Adenauer dachte nicht im Traum daran.

Diese Strategie scheitert rundum, auch in Italien. Die DC macht den alten Faschisten freundliche Augen und übernimmt für fast vier Jahrzehnte die fast unumschränkte Herrschaft. Togliatti lässt sich nicht beirren und setzt voll auf Sozialdemokratisierung. Als er stirbt, ist bereits Berlinguer, sein Sekretär, der kommende Mann. Die revolutionäre Phrase bleibt zum Teil. Amendola und Napoletano lassen sich aber nicht beirren und sprechen offen. Napoletano macht Karriere.

Und nördlich der Alpen?

»Kaum ist endlich Gras über diese Sache gewachsen, kommt so ein Kamel daher und frißt es wieder ab!« – soll Kreisky den »Herrn Karl« kommentiert haben. Sollte das stimmen, dann war er jedenfalls typisch für die 1950er und 1960er.

Damals war Verschweigen angesagt, noch nicht »Vergangenheits-​Bewältigung«. Mit dem Faschismus setzten sich Historiker auseinander, die schreckliche Geschichten erzählten. Einzelne unter ihnen hatten aber die Zeichen erkannt. Diskret leiteten sie eine Wende ein: Der Faschismus und Nazismus war ein Widerstand gegen den Kommunismus – wer wird ihm das verübeln. Allerdings gab es »Exzesse«, vor allem den Antisemitismus …

Der neue Antifaschismus, außerhalb der Kommunistischen Parteien, war zuerst eine Generationenfrage. Er war gleichzeitig aber auch Banner einer neuen Gruppe von Intellektuellen, welche gegen die alten, traditionellen auf den Universitäten antraten. Von dieser Plattform aus, gegen die kaum wer etwas einwenden konnte beziehungsweise wagte, gelang es ihnen, selbst hegemonial zu werden (»Marsch durch die Institutionen«).

Damit war aber auch das alte politische Problem erledigt. Der authentische Antifaschismus hat ausgedient. Nun wurde er zur Antifa.

Nun konnte man auch eine »neue Theorie« des Faschismus aufbauen. Sie war entpolitisiert und konnte damit den neuen hegemonialen Schichten ideale Dienste leisten. Diese »neue Faschismus-​Theorie« sagt viel über unsere Gesellschaft, aber wenig über den Faschismus.

Die schleichende Krise des Kapitalismus heute, spätestens seit der Finanz- und Bankenkrise 2008, rief in den Ländern des Zentrums unterschiedliche Reaktionen hervor. In den USA gibt es Ansätze, die dem alten Faschismus ähneln. In Westeuropa glaubten die Eliten, mit der EU das Wundermittel gefunden zu haben: Entscheidungsgewalt für das bürokratische Zentrum, Ausführung durch die nationalen politischen Klassen. Es funktioniert nicht oder nur holprig. Solange das allgemeine Wahlrecht existiert, kann die Bürokratie nicht sicher sein. Immer wieder gibt es Abweichungen vom rechten Kurs – insbesondere dort, wo die Bevölkerung besonders unter dem imperialen Struktur (Währungsunion) leidet: an der Peripherie.

Dann greift das Imperium ein. Doch die Bürokratie versucht, legal zu bleiben. Das Ergebnis heißt: Napoletano + Monti; Napoletano + Renzi; Matarella + Draghi; Matarella + Meloni. Ist dies also nun ein neuer Faschismus, der Techno-​Faschismus, der Sanitär-​Faschismus, der bürokratische Faschismus?

Begriffe sind stets politisch. Historische Blöcke sind auf Grund der komplexen, dialektischen Entwicklung nie so sauber voneinander abzugrenzen, wie wir es als Analytiker gern hätten. Aber vergessen wir nicht: Theorie sollte stets auch Grundlage politischer Strategie sein.

Begriffe sind politisch, weil sie im politischen Tageskampf auftauchen. Insofern ist »Faschismus« ein Weckruf! Aber da geht es um mehr. Die Eliten haben in den letzten drei Jahrzehnten unzweifelhaft autoritäre, faschistoide Tendenzen entwickelt. Gerade die letzten drei Jahre zeugen dafür. Auch sind die Trägerschichten des alten Faschismus und des neuen Autoritarismus dieselben: die oberen und mittleren Mittelschichten und ihre Ideologen, die Akademiker, »Experten«, Journalisten, etc.. Aber: Die Bürokratie will legal bleiben und das allgemeine Wahlrecht (noch) nicht abschaffen. Das ist wesentlich. Deswegen war der Probelauf der »Pandemie«, die Corona-​Politik, ein halber Misserfolg. Auch die Ideologie ist fast das Gegenteil von damals: Dem zugespitzten Irrationalismus steht heute ein ausgeprägter, jedoch sehr beschränkter Rationalismus entgegen.

Es gibt nicht nur eine Alternative zum parlamentarischen System und seiner Hegemonie.

Wo müssen wir ansetzen?

(1) In der Klassen-​Analyse: Die Rolle der Neuen Mittelschichten ist wesentlich. Das war damals nicht und ist heute noch weniger das alte Kleinbürgertum. Die Oberen Mittel-​schichten wollten damals selbst herrschen, verkannten aber die Kräfte-​Verhältnisse. Die Oberen Mittelschichten wollen heute wieder herrschen auf Grund ihrer »Expertise«. Aber noch setzten sie fast verzweifelt auf die Hegemonie, die immer stärker abbröckelt …

In der berühmten Formel Gramscis haben wir zwei Bestandteile:

»Diktatur« + Hegemonie.

(2) Fast alle Marxisten schätzen den Staat beziehungsweise das politische System falsch ein. Sie unterschätzen die Autonomie dieses Systems. Autonomie heißt nicht Unabhängigkeit. Aber Staat und Bürokratie haben eigene Entwicklungs-​Tendenzen und Gesetze. Und vergessen wir nicht: Der revolutionäre Marxismus hat stets die Eroberung der Staats-​Macht an die Spitze der Strategie gesetzt. Warum wohl?

Die supranationale Bürokratie sieht sich heute als den realen Gesamtkapitalisten. Die voneinander unabhängigen und gegen einander trotz Monopolisierung konkurrierenden Einzelkapitalisten können die Gesamtwirtschaft nicht rational lenken. Auch sie müssen diszipliniert werden. Vor allem aber müssen die diversen Kategorien der Lohnabhängigen einer strikten Disziplin unterliegen.

Hier findet sich das System heute in einer Zwickmühle. Es will Legalismus und Hegemonie. Beides ist ganz unsicher geworden. Zwar die Legalität können sie sich durch ihre Juristen immer noch bestätigen lassen, gegen jede Realität. Aber die Hegemonie? Die Spaltung der Gesellschaft ist nichts anderes als der Verlust der Hegemonie.

Zuerst erschienen bei www​.antiimperialista​.org

Bild: Der Palazzo Littorio in Montevarchi, Sitz der örtlichen faschistischen Partei. Quelle: Vestri-​Fonds, gespendet an die Gemeinde Montevarchi und freigegeben für den öffentlichen Bereich (wikimedia commons)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert