Pro­sumer-Kapi­ta­lis­mus

Lese­zeit12 min
  • Im zwei­ten Teil zu der Kri­tik Gugliel­mo Car­che­dis zu zeit­ge­nös­si­schen Vor­stel­lun­gen der digi­ta­len Öko­no­mie geht er auf den Wert digi­ta­ler Waren ein. 
  • Er begrün­det zunächst, dass Wis­sen nie neu­tral sein kann, da der Zweck immer gesell­schaft­lich bestimmt ist.
  • Betrach­tet man die digi­ta­le Öko­no­mie im Lich­te der Marx­schen Arbeits­wert­theo­rie, ver­schwin­den die meis­ten Unklarheiten.
  • Digi­ta­le Arbeiter*innen arbei­ten wie jede*r ande­re einen Teil des Tages für den Mehr­wert des Kapi­ta­lis­ten, mit der Spe­zi­fik, dass der Lohn häu­fig an Erfol­ge bzw. Mei­len­stei­ne geknüpft sei. 
  • Bei kos­ten­lo­sen Diens­ten bezahlt die Konsument*in nicht mit den Daten. Die Daten selbst gehen als Pord­uk­ti­ons­mit­tel in die Waren­pro­duk­ti­on ein und wer­den als Bestand­teil des Ver­kaufs­prei­ses von den Konsument*innen wie­der bezahlt.

Was ist Wis­sen und was für eine Gesell­schaft ist eine Gesell­schaft, deren Reich­tum zuneh­mend auf Wis­sen und weni­ger auf fass­ba­ren Objek­ten beruht? Die­ser Fra­ge ging Gugliel­mo Car­che­di in der aktu­el­len Inter­na­tio­nal Cri­ti­cal Thought nach. Da sei­ne Über­le­gun­gen sehr dicht und kom­plex ist, ist die Bespre­chung in zwei Tei­le aufgeteilt.

Im vor­an­ge­gan­ge­nen Bei­trag wur­de dis­ku­tiert, wie Car­che­di eine mar­xis­ti­sche Erkennt­nis­theo­rie sys­te­ma­ti­siert, die auf den Prin­zi­pi­en der Dia­lek­tik beruht. Für ihn war die dia­lek­ti­sche Logik das Reich des Poten­ti­als eines Begriffs, etwas ande­res als es selbst zu wer­den als es noch ist, wäh­rend die for­ma­le Logig die Logik der ein­ge­fro­re­nen rea­li­sier­ten Exis­ten­zen ist. Nur bei­de zusam­men könn­ten das voll­stän­di­ge Wesen einer Sache beschreiben.

In den wei­te­ren Über­le­gun­gen schrei­tet Car­che­di nun vom Abs­trak­ten zum Kon­kre­ten und ana­ny­lsiert Urtei­le und Fehl­ur­tei­le über die digi­ta­le Inter­net­öko­no­mie. Wie­viel ist Wis­sen wert, wenn es ein­fach mil­lio­nen­fach geco­py­pas­tet wer­den kann? Wel­che Rol­le spie­len die so genann­ten Pro­sumer, also die Nutzer*innen von goog­le, face­book und co., die mit ihren Daten bezah­len? Bil­den sozia­le Netz­wer­ke das Fun­da­ment einer neu­en soli­da­ri­schen Gesellschaft?

Indi­vi­du­el­les und sozia­les Wissen

Car­che­di beginnt die wei­te­ren Über­le­gun­gen mit der Dif­fe­renz zwi­schen indi­vi­du­el­lem und sozia­lem Wis­sen. Indi­vi­du­el­les Wis­sen ist zunächst die Wahr­neh­mung der Rea­li­tät einer ganz kon­kre­ten Per­son. Die­ses Wis­sen oder Bewusst­sein ent­steht durch die kon­kre­te men­ta­le Arbeit des Indi­vi­du­ums. Sozia­les Wis­sen ist dem­ge­gen­über aber nicht ein­fach die Sum­me allen indi­vi­du­el­len Wis­sens. Jedes Indi­vi­du­um ist per Defi­ni­ti­on ein­zig­ar­tig und somit las­sen sich die jeweils ein­zig­ar­ti­gen Sicht­wei­sen auf die Rea­li­tät nicht ein­fach auf­sum­mie­ren. Es mag extre­me Relativist*innen geben, die in einem Akt über­trie­be­ner Tole­ranz alle Sicht­wei­sen als gleich­wer­tig und glei­cher­ma­ßen rich­tig anse­hen, aber die­se Sicht­wei­se hält nur Stand, wenn die gesell­schaft­li­chen Bezie­hun­gen der Indi­vi­du­en unter­ein­an­der aus­ge­blen­det wer­den. Kapi­ta­list und Arbeiter*innen kön­nen sehr ver­schie­de­ne Vor­stel­lun­gen über eine gerech­te Lohn­hö­he haben. Bei­de Vor­stel­lun­gen kön­nen aber nicht gleich­zei­tig rea­li­siert wer­den. Sozia­les Wis­sen ist daher das Wis­sen, dass aus der Inter­ak­ti­on der ein­zel­nen Indi­vi­du­en unter­ein­an­der resul­tiert. Es ist der sozia­le Inhalt des Wis­sens. Dass man bei rot nicht über eine Ampel gehen darf, ist sozia­les Wis­sen, weil ande­re Verkehrsteilnehmer*innen und im Zwei­fels­fall die Poli­zei die­ses Wis­sen tei­len und sich zu ihm ver­hal­ten, selbst wenn man nicht unter­ein­an­der kom­mu­ni­ziert. Oder in der Spra­che der Dia­lek­tik for­mu­liert: Das sozia­le Wis­sen ist der Teil des Poten­ti­als des indi­vi­du­el­len Wis­sens, der gesell­schaft­lich rea­li­siert wird.

Auch eine so abtrak­te Kate­go­rie wie sozia­les Wis­sen benö­tigt einen mate­ri­el­len Trä­ger. Die Trä­ger sind die Grund­ele­men­te, aus denen sich die Gesell­schaft struk­tu­riert. Für die heu­ti­ge Gesell­schaft sind dies die Klas­sen. Ihr sozia­les Wis­sen ist das Klas­sen­be­wusst­sein als Sum­me aller Inter­ak­tio­nen, wel­che die Mit­glie­der einer Klas­se als die­se unter­ein­an­der und mit ande­ren Klas­sen ausüben.

Pro­duk­ti­on von Wis­sen im Kapitalismus

Wie jeder Wert ist auch Wis­sen Pro­dukt von Arbeit. In den sozia­len Bezie­hun­gen des Kapi­ta­lis­mus arbei­tet ein geis­ti­ger Arbeit als Lohn­ar­bei­ter, d.h. er arbei­tet für eine gewis­se Län­ge des Tages, bei der ein Teil den Wert der zur Repro­duk­ti­on der Arbeits­kraft not­wen­di­gen Waren schafft und ein ande­rer als Mehr­wert vom Kapi­ta­lis­ten ein­be­hal­ten wird. Im Gegen­satz zu objek­ti­ven Produktionsarbeiter*innen gibt es nur einen Unter­schied. Das Wis­sen, dass durch die geistige*n Arbeiter*in geschaf­fen wird, ver­bleibt im Kopf de*r Arbeiter*in. Der Kapi­ta­list erhält gewis­ser­ma­ßen nur eine Kopie der geschaf­fe­nen Ware. Die­se Kopie ist wie­der­um an einen objek­ti­ven stoff­li­chen Trä­ger gebun­den, z.B. in Form eines Bau­plans auf Papier, eines Com­pu­ter­pro­gramms auf einer Fest­plat­te oder als gebun­de­ne wis­sen­schaft­li­che Abhand­lung. Dadurch, dass das Ori­gi­nal jedoch im Kopf de*r Arbeiter*in ver­bleibt, muss der Kapi­ta­list sich ver­trag­lich zusi­chern las­sen, dass die Arbeiter*innen das durch den Kapi­ta­lis­ten bezahl­te Wis­sen nicht ander­wei­tig ver­äu­ßern. Wäh­rend also die objektiv*r Arbeiter*in ihr Pro­dukt ganz phy­sisch ent­äu­ßert, in dem das geschaf­fe­ne Auto räum­lich weg ist, ent­frem­det sich die geistige*r Arbeiter*in dadurch von dem durch sie geschaf­fe­nen Pro­dukt, dass die wei­te­re Arbeit mit die­sem recht­lich ver­bo­ten ist.

Hege­mo­nie und orga­ni­sche Intellektuelle

Der Kapi­ta­list auf der ande­ren Sei­te die­ses Ver­hält­nis­ses kann wie­der­um bestim­men, wel­ches Wis­sen wie für wen pro­du­ziert wird. Inso­fern muss das geschaf­fe­ne Wis­sen auch die ihm zugrun­de lie­gen­den Klas­sen­ver­hält­nis­se wider­spie­geln. Es spie­gelt die Ratio­na­li­tät der Bour­geoi­sie wider, eine Ratio­na­li­tät, die inhä­rent kri­sen­haft, natur- und men­schen­zer­stö­rend. Das Wis­sen, dass auf die­se Wei­se sozi­al pro­du­ziert wird, trifft bei der indi­vi­du­el­len Arbeiter*in auf das Erfah­rungs­wis­sen, wel­ches einer ande­ren Ratio­na­li­tät ent­stammt – näm­lich der des pro­le­ta­ri­schen Klas­sen­be­wusst­seins – und kon­kur­riert mit die­sem. Das, was Gramsci Hege­mo­nie nann­te, ist dann das im Indi­vi­du­um rea­li­sier­te sozia­le Wis­sen, wel­ches domi­nant ist. Um der Macht der all­täg­li­chen Erfah­rungs­welt der Arbeiter*innen über­haupt etwas ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen, benö­tigt die Bour­geoi­sie ein Heer an Medienarbeiter*innen, ein ver­pflich­ten­des Schul­sys­tem und wei­te­re ideo­lo­gi­sche Instan­zen. Unter Ideo­lo­gie kann man in die­sem Kon­text eine Klas­sen­ra­tio­na­li­tät ver­ste­hen. Natür­lich kön­nen Arbeiter*innen ihr indi­vi­du­el­les Wis­sen die­sen Ten­den­zen ent­ge­gen­set­zen. Aller­dings nur inner­halb der Gren­zen des im sozia­len Wis­sen ange­leg­ten Potentials.

Ver­stärkt wer­den kann das Klas­sen­wis­sen des Pro­le­ta­ri­ats durch orga­ni­sche Intel­lek­tu­el­le, die auf Grund ihrer gesell­schaft­li­chen Stel­lung dem Zugriff der Kapi­ta­lis­ten ent­zo­gen sind, z.B. indem sie von einer pro­le­ta­ri­schen Par­tei oder Gewerk­schaft bezahlt wer­den. Die­se orga­ni­schen Intel­lek­tu­el­len pro­du­zie­ren jedoch nur indi­vi­du­el­les Wis­sen, d.h. sozia­les Wis­sen aus der sub­jek­ti­ven Per­spek­ti­ve. Da jeder orga­ni­sche Intel­lek­tu­el­le jeweils ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven und Vor­er­fah­run­gen besitzt, unter­schei­det sich das indi­vi­du­el­le Wis­sen selbst­ver­ständ­licht. Das führt dazu, dass es auch eine inter­ne Dis­kus­si­on zwi­schen die­sen Intel­lek­tu­el­len bis hin zur Bil­dung neu­er sozia­ler Unter­grup­pen gibt.

Beson­ders fra­gil ist die Stel­lung der Mit­tel­klas­sen. Bei ihnen kon­kur­riert nicht nur das sozia­le Wis­sen zwei­er Klas­sen, son­dern auch wider­sprüch­lich aus die­sem rea­li­sier­tes indi­vi­du­el­les Wis­sen. Das ist das Klein­bür­ger­tum poli­tisch sehr insta­bil und wir kön­nen ja in den aktu­el­len Pro­tes­ten beob­ach­ten, wie sich lin­ke, rech­te und libe­ra­le Dis­kurs­ele­men­te mit­ein­an­der vermengen.

Die Nicht-Neu­tra­li­tät des Wissens

Dass Wis­sen immer einen Klas­sen­in­halt hat, führt auch dazu, dass selbst natur­wis­sen­schaft­li­ches Wis­sen einen Klas­sen­in­halt besitzt. Die­se Schluss­fol­ge­rung wird auch von vie­len Marxist*innen nicht geteilt. Nicht ein­mal die Mathe­ma­tik ist klas­sen­neu­tral. Die Art und Wei­se, wie Wis­sen pro­du­ziert wird, bestimmt letzt­end­lich auch die Art, wie sie für was genutzt wer­den kann. Der Gebrauchs­wert des Wis­sens ist Gebrauchs­wert für die Boru­geoi­sie und nicht für das Proletariat.

Die­se Behaup­tung lässt sich his­to­risch leicht nach­voll­zie­hen. Dass es im anti­ken Grie­chen­land Men­schen gab, die sich mit Mathe­ma­tik, Phi­lo­so­phie und Rhe­to­rik aus­ein­an­der­set­zen konn­ten, beruh­te auf einer hier­ar­chi­schen Klas­sen­ge­sell­schaft, in der über­dau­ernd Men­schen­grup­pen ihr ganz kon­kre­ter Platz in der Gesell­schaft vor­ge­schrie­ben war. Ein Leit­be­griff der Grie­chen war daher die Har­mo­nie, da Har­mo­nien das durch Ornung befrie­de­te Zusam­men­le­ben ver­schie­de­ner Grö­ßen bedeu­tet (anders als im Kapi­ta­lis­mus, wo alle recht­lich gleich sind). Und die­se Har­mo­nie wur­de in den Zah­len gesucht. Num­mer hat­ten ihren wohl­ge­ord­ne­ten Platz. Stre­cken, Flä­chen und Kör­per waren nur dann inter­es­sant, wenn sie har­mo­ni­sche Pro­por­tio­nen zuein­an­der hat­ten. Irra­tio­na­le Zah­len oder ähn­li­ches blieb daher außer­halb der Vorstellungswelt.

Vie­les davon über­leb­te im Mit­tel­al­ter. Erst der Kapi­ta­lis­mus, der zur Erlan­gung immer grö­ße­rer Pro­fi­te auch die Zeit pro Arbeits­schritt wei­ter ver­kür­zen muss­te, teil­te die Zei­ten immer wei­ter, in klei­ne­re und klei­ne­re Abschnit­te, egal ob das resul­tie­ren­de Ergeb­nis Vor­stel­lun­gen ange­mes­se­ner Pro­por­tio­nen genügt oder nicht. Die Not­wen­dig­keit, Zeit immer wei­ter zu tei­len, führ­te in der Mathe­ma­tik zur Ent­wick­lung der Infi­ni­tisi­mal­rech­nung und der Vor­stel­lung des unend­lich klei­nen. Men­schen hat­ten auch nicht mehr einen abso­lut zuge­wie­se­nen Platz in der Gesell­schaft, son­dern als for­mell Freie war die gesell­schaft­li­che Stel­lung nur durch die Rela­ti­vi­tät aller Bezie­hun­gen bestimmt, die ein Mensch ein­ging. Das war die Grund­la­ge für die Ent­wick­lung der Relativitätstheorie.

Als Illus­tra­ti­ons­bei­spiel führt Car­che­di hier eine Stu­die von Noble (1978) an. So kon­kur­rier­ten in der Auto­ma­ti­sie­rungs­ent­wick­lung zeit­wei­lig zwei ver­schie­de­ne Prin­zi­pi­en. Das nume­ri­sche Ver­fah­ren, bei der ein Arbeits­schritt, den eine Maschi­ne aus­füh­ren soll­te, mathe­ma­tisch durch ein Pro­gramm beschrie­ben wur­de. Oder das Record-Play­back-Ver­fah­ren, bei dem ein*e Arbeiter*in einen Arbeits­schritt aus­führt, die­ser auf ein Magnet­band auf­ge­zeich­net und von der Maschi­ne kopiert wird. Letz­te­res funk­tio­nier­te recht gut. Es hat­te aber einen Nach­teil für die Bour­geoi­sie. Die Arbeiter*in und ihr Wis­sen hat­te zuviel Macht und Mög­lich­kei­ten, die Pro­duk­ti­on zu stö­ren. Mathe­ma­ti­sche Beschrei­bun­gen konn­ten getrennt von der Fabrik erstellt wer­den, wodurch Soli­da­ri­tät zwi­schen den ein­zel­nen Arbeiter*innen unter­gra­ben wer­den konn­te. Nume­ri­sche Ver­fah­ren setz­ten sich durch.

Dass Wis­sen einen Klas­sen­in­halt besitzt, ist auch akut poli­tisch rele­vant. Die Wis­sen­schaft hat seit Beginn des Kapi­ta­lis­mus die Arbeit immer pro­duk­ti­ver, aber damit auch anspruchs­vol­ler, pau­sen­lo­ser und aus­lau­gen­der gemacht. Das Klas­sen­wis­sen de Pro­le­ta­ri­ats hat impli­zit oder expli­zit erkannt, dass von einer Wis­sen­schaft, die das sozia­le Wis­sen der Bour­geoi­sie pro­du­ziert, wenig Gutes zu erwar­ten ist. Dies kann sich dann anstatt im Wunsch einer ande­ren Wis­sen­schaft respek­ti­ve einer ande­ren Gesell­schaft in der Ableh­nung jeder Form von Wis­sen­schaft äußern. Die prin­zi­pi­el­le Ableh­nung von moder­nen Impf­stof­fen hat ihre Grund­la­ge in die­sem Klas­sen­wis­sen über die Wis­sen­schaft im Kapi­ta­lis­mus an sich. Marxist*innen soll­ten nicht apo­lo­ge­tisch die­ses Klas­sen­wis­sen der Bour­geoi­sie ver­tei­di­gen, son­dern den Umschlag in die Revo­lu­tio­nie­rung der Wis­sen­schaft anstreben.

Die Inter­net­öko­no­mie

90% der Mys­ti­fi­zie­run­gen der Inter­net­öko­no­mie ver­schwin­den, wenn man das Marx­sche Wert­ge­setz in Abhän­gig­keit der Zeit for­mu­liert. Ein*e digitale*r Arbeiter*in arbei­tet eine gewis­se Län­ge des Tages und pro­du­ziert eine Ware, deren Wert der Län­ge der gesell­schaft­lich not­wen­di­gen Arbeits­zeit ist. Bezahlt wird der Teil des Tages, der der gesell­schaft­li­chen not­wen­di­gen Arbeits­zeit zur Pro­duk­ti­on der Waren zur Erhal­tung der Arbeits­kraft benö­tigt wird. Ob die­se Ware nun ein Com­pu­ter­spiel oder eine Tüte Kar­tof­fel­chips ist, ist voll­kom­men irrele­vant. Wich­tig ist, dass die Arbeit einen Gebrauchs­wert her­vor­bringt, also irgend­ei­ne Form mate­ri­el­ler oder imma­te­ri­el­ler Bedürf­nis­se befrie­di­gen kann. Was pro­du­ziert wird, bestim­men die Kapi­ta­lis­ten, da die­se die zur Pro­duk­ti­on benö­tig­ten Aus­la­gen stäm­men kön­nen. Self-Worker neh­men hier die glei­che zwie­schläch­ti­ge Rol­le, wie Kleinbürger*innen und Kleinbäuer*innen in der objek­ti­ven Pro­duk­ti­on ein.

Ein Spe­zi­fi­kum der Inter­net­öko­no­mie ist jedoch die Bezah­lung der Arbeiter*innen weder in Zeit- noch in Stück­lohn, son­dern als Erfolgs­lohn. Die geleis­te­te Arbeit wird nur ent­gol­ten, wenn ein so genann­ter Mei­len­stein erreicht wur­de, z.B. ein spe­zi­el­les Pro­gramm funk­ti­ons­fä­hig ist und feh­ler­frei läuft. Dies führt dazu, dass die Ange­stell­ten ihre Arbeits­zeit von selbst ver­län­gern, falls dies zur Errei­chung des Mei­len­steins not­wen­dig ist. Da sie dafür jedoch nicht mehr Geld erhal­ten, wird ein immer gerin­ge­rer Teil des Arbeits­ta­ges bezahlt und ein immer gerin­ge­rer Teil des Tages steht der Repro­duk­ti­on der Ware Arbeits­kraft zur Ver­fü­gung. Dass mitt­ler­wei­le die Repro­duk­ti­ons­fä­hig­keit die­ser Arbeits­kraft über lan­ge Zeit kaum noch gege­ben ist, zei­gen vie­le Studien.

Aber wie sieht es mit der Mög­lich­keit aus, belie­big vie­le Kopien anzu­fer­ti­gen? Lässt dies den Wert eines Pro­gramms nicht gegen Null sin­ken. Das trifft nicht zu, da der poten­ti­el­le Absatz bereits in die Kal­ku­la­ti­on des Kapi­tals bei der Erstel­lung eines Pro­gramms ent­hal­ten ist. Ange­nom­men, es wer­de geschätzt, dass ein Pro­gramm 200.000 mal ver­kauft wird, dass die Löh­ne 5 Mio Euro betra­gen, die Kos­ten für Büros, Ser­ver und Com­pu­ter 3 Mio. Euro und die durch­schnitt­li­che Pro­fi­tra­te 25% beträgt. Dann kann leicht kal­ku­liert wer­den, dass das Pro­gramm für 50 Euro ver­kauft wer­den muss. Wenn die kal­ku­lier­te Ver­kaufs­zahl nicht erreicht wird, hat sich die ver­ge­gen­ständ­lich­te Arbeits­zeit nicht als gesell­schaft­lich not­wen­dig erwie­sen, wenn mehr ver­kauft wer­den, hat sie sich sogar als noch poten­ter erwiesen.

Ein wenig schwie­ri­ger sind Diens­te, die for­mal kos­ten­los sind. Dass Men­schen mit ihren Daten bezah­len, ist ein wenig schwam­mig. Viel­mehr ist es so, dass die Daten und die zur Ermitt­lung benö­tig­te Infra­struk­tur ein Pro­duk­ti­ons­mit­tel ist, dass in der Ware am Ende der Wert­schöp­fungs­ket­te mit bezahlt wird. Bei­spiel goog­le: Goog­le kann die durch Mil­li­ar­den Such­an­fra­gen ermit­tel­ten Zugriffs­da­ten und ‑zei­ten auf Inter­net­sei­ten dazu nut­zen, um Fir­men die­se zur Ver­fü­gung zu stel­len. Die­se Daten befrie­di­gen ein Bedürf­nis der Kapi­ta­lis­ten, näm­lich die Grö­ße ihres poten­ti­el­len Kund*innenkreises abschät­zen zu kön­nen. Bezahlt wird goog­le der Erhalt der Infra­struk­tur, die Arbeit, die not­wen­dig ist, die Pro­gram­me zur Daten­er­he­bung zu schrei­ben und aktu­ell zu hal­ten und der Durch­schnitts­pro­fit. Goog­le pro­du­ziert damit ein imma­te­ri­el­les Pro­duk­ti­ons­mit­tel: das Wis­sen dar­über, wie groß der zu erwar­ten­de Erlös einer Fir­ma ist. Über den gan­zen Pro­duk­ti­ons­pro­zess betrach­tet, ist damit die Nut­zung von goog­le nicht kos­ten­los. Da der von goog­le gene­rier­te Wert in die Kos­ten des kon­stan­ten Kapi­tals der nut­zen­den Fir­men ein­geht, wird die­ser am Ende von den Konsument*innen mit bezahlt. Die Ver­schie­bung der Kos­ten ver­schwimmt nur über die vie­len Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se des Werts und die zeit­li­che Dau­er. Der Mythos vom Pro­sumer, der Kon­su­ment, der selbst mit pro­du­ziert, löst sich in der mar­xis­ti­schen Ana­ly­se auf.

Zusam­men­fas­sung

Gugliel­mo Car­che­di hat auf 30 Sei­ten einen klei­nen Husa­ren­ritt von den Prin­zi­pi­en dia­lek­ti­scher Logik über Betrach­tun­gen zu den Natur­wis­sen­schaf­ten bis hin zu einer Kri­tik des Zeit­geis­tes der digi­ta­len Gesell­schaft unter­nom­men. Die Erschei­nung des Kapi­ta­lis­mus ändert sich, das Wesen des Kapi­ta­lis­mus, die Herr­schafts­form einer Klas­se zu sein, deren unbe­grenz­tes Stre­ben nach Pro­fit Mensch und Natur zer­stört, ist erhal­ten geblie­ben. Ein revo­lu­tio­nä­rer Umbruch kann nicht durch Ver­än­de­rung der tech­ni­schen Erschei­nung die­ses Sys­tem erfol­gen, son­dern nur durch eine Revo­lu­tio­nie­rung des sozia­len Systems.

Car­che­dis Ablei­tun­gen aus der Dia­lek­tik machen aber auch eines deut­lich. Dia­lek­tik ist kei­ne Abkür­zung. Dia­lek­tik ist ein Weg, sich einen voll­stän­di­gen Begriff von einer Sache zu machen. Man kann nicht ein­fach die Hegel­schen oder Engels­schen Grund- und Trans­for­ma­ti­ons­ge­set­ze anwen­den und erhält auf mythi­sche Wei­se eine Art neu­es Geheim­wis­sen. Dia­lek­tik ist mehr als Erwei­te­rung der Geset­ze der for­ma­len Logik und der bür­ger­li­chen Empi­rie um die Dimen­si­on der Zeit oder anders gesagt, um die Dimen­si­on der Bewe­gung. Hier­für benutzt Car­che­di den Begriff der poten­ti­el­len Rea­li­tät. Die poten­ti­el­le Rea­li­tät ist dabei nicht belie­big. Sie muss erst durch wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se gewon­nen wer­den, durch Deduk­ti­on, durch Induk­ti­on und auch durch die Metho­den bür­ger­li­cher Empi­rie. Es ist also nicht die Metho­de an sich, die bür­ger­lich oder dia­lek­tisch ist, es ist ihr Gebrauch. Es ist ihre Ein­bet­tung in ein Klas­sen­be­wusst­sein: ent­we­der ins bür­ger­li­che, dass sich nur für alles Rea­li­sier­te inter­es­siert, weil es die herr­schen­den Zustän­de kon­ser­vie­ren möch­te oder ins pro­le­ta­ri­sche, dass die die­se Zustän­de über­win­den möch­te und daher die Bewe­gung erkennt, wel­che durch die Klas­sen­ge­gen­sät­ze vor­an­ge­trie­ben wird.

Lite­ra­tur:

Car­che­di, G. (2011): Behind the Cri­sis. Marx´s Dialec­tics of Value and Know­ledge. Lei­den, Bos­ton: Brill.

Car­che­di, G. (2022): The Onto­lo­gy and Social Dimen­si­on of Know­ledge: The Inter­net Quan­ta Time. In: Inter­na­tio­nal Cri­ti­cal Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2022.2113170.

Zuerst erschie­nen bei Spec­trum of Com­mu­nism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz. Bild: Pix­a­bay

One thought on “Pro­sumer-Kapi­ta­lis­mus

  1. Anschei­nend ist es wich­ti­ger, sich den Vor­ga­ben einer reak­tio­nä­ren Obrig­keit anzu­die­nen als sich ver­ständ­lich zu arti­ku­lie­ren. Und damit wollt ihr euch an die Mas­sen wen­den? Und nein, die Gen­de­rei ist kei­ne »Geschmacks­sa­che«.
    😡

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