Wovon träumen Quantenschafe? (1/​2)

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  • Die Frage, ob sich menschliches Denken durch Computer ersetzen lasse, bewegt gleichermaßen Philosoph*innen, Kapitalisten und Kommunist*innen.
  • Der italienische Philosoph Guglielmo Carchedi hat in der aktuellen International Critical Thought versucht, anhand der Grundlagen der Dialektik, diese Frage zu beantworten. 
  • Nach ihm unterscheidet sich Dialektik von der formalen Logik durch die Dimension der Zeit und prägt das menschliche Denken. 
  • Computer funktionieren nach der formalen Logik der Booleschen Gesetze und sind damit nicht in der Lage, menschlich zu denken.
  • Die Entwicklung dialektischer Boolescher Gesetze ist an gesellschaftliche Transformationsgesetze gebunden.
Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst …

Die marxistische Erkenntnis‐ und Wissenschaftstheorie habe sich seit Materialismus und Empiriokritizismus nicht grundlegend weiterentwickelt. Nicht weniger als diese Behauptung stellt der italienische Philosoph Guglielmo Carchedi in der aktuellen International Criticial Thought auf. Kurz gesagt, weder ein György Lukács, noch ein Althusser oder ein Hans Heinz Holz wären über den Stand einer politisch zwar bedeutenden, aber theoretisch lückenhaften Streitschrift Lenins hinausgekommen. Auf Grund dieser mangelnden Vorstellung von Wissenschaft verfielen Marxist*innen in bürgerliche Phrasen von der »Wissenschaftsgesellschaft« oder dem »digitalen Zeitalter«.

In zwei Beiträgen soll Carchedis Erkenntnistheorie vorgestellt und daraus seine Kritik an den Fehlvorstellungen zur Quantentheorie und digitalen Ökonomie entwickelt werden. Er berührt damit eine wesentliche Fragestellung der zeitgenössischen Debatte: Werden Computer den Menschen ersetzen können? Oder genauer: Können Computer das Denken des Menschen ersetzen?

Realität ist Tranformation

Carchedi beschäftigt sich zunächst mit prinzipiellen Fragen der Epistemologie, also der Frage, wie der Mensch etwas erkennen kann. Jegliche Erkenntnis beruht auf Transformationen oder zu deutsch Umwandlungen. Die Erkenntnis, dass die Sonne scheint, erhält der Mensch nur durch die Umwandlungen, die in den Atomhüllen der Gase an der Sonnenoberfläche. Das dadurch ausgesendete Lichtquant wird vice versa durch Netzhaut in elektrische Impulse umgewandelt, die im Gehirn durch weitere Transformationsprozesse verarbeitet werden. Ohne Umwandlungen gäbe es nur ein beziehungsloses nebeneinander. A würde nie von B erfahren. Prinzipiell kann man zwei Transformationsarten unterscheiden: objektive und mentale.

Objektiv sind Transformationen, wenn sie sich auch ohne menschliche Beobachtung vollziehen, während mentale Transformationen die Veränderungsprozesse sind, die das Denken des Menschen über die objektive Realität prägen. Beide Prozesse sind materiell. Das bedeutet, dass sie einen stofflichen Träger besitzen. Das menschliche Denken beruht auf der materiellen Verknüpfung von Neuronen durch Synapsen und jegliche Denkarbeit ist letztendlich physische Arbeit auf kleiner Skala, wenn diese neu angeordnet werden. Streng genommen gibt es daher keine immaterielle Arbeit. Der Unterschied zwischen mentalen und objektiven Transformationen ist nur einer des Ortes: im menschlichen Kopf oder außerhalb.

Eine zweite Bestimmung des Denkens neben der Materialität ist, dass es sozial determiniert ist. Das liegt nicht am Denken selbst, sondern am Gegenstand des Denkens, da Menschen in Gesellschaften leben und miteinander interagieren.

Wissensproduktion ist Produktion

Die Frage Wie wird Wissen produziert? beantwortet Carchedi recht simpel: indem es produziert wird. Da objektive und mentale Transformationen gleichermaßen materiell sind und die Unterscheidung nur aus praktischen, die menschliche Natur betreffenden Gründen, gemacht wird, verhält sich die Produktion von Wissen analog zur objektiven Produktion eines Stuhls. Bei einem Stuhl wird der Gebrauchswert des Ausgangsmaterials (Holz) in einen neuen Gebrauchswert (Sitzgelegenheit) überführt. Bei einem mentalen Produktionsprozess wird der Gebrauchswert eines Ausgangsmaterials (Wissen eines Lehrers, Buch, Medium) in einem neuen Gebruachswert (zweckmäßige Neuvernetzung der Neuronen überführt). Für beide Prozesse werden Produktionsmittel, Energie und Zeit benötigt. Es wird hierdurch auch klar, warum der Begriff der Arbeit in der marxistischen Philosophie eine so zentrale Stellung besitzt. Sämtliches Denken, sämtliche Theorie, sämtliches Wissen ist ein Arbeitsprodukt und da die Stellung zum Arbeitsprozess sozial bestimmt ist, ist es notwendigerweise auch das Produkt. Aber Wissen ist noch kein Denken.

Potentielle und realisierte Wirklichkeit

Denken ist eine Transformation und eine Transformation benötigt Zeit. Ein großer Mangel der formalen Logik ist die Blindheit gegenüber der Zeit. Sie beruht auf drei wesentlichen Grundprinzipien: dem Satz der Identität (A=A), dem Satz des ausgeschlossenen Dritten (A=A ist wahr oder falsch) und dem Satz der Widerspruchsfreiheit (A=A kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein). Keines dieser Gesetze kann die Dimension der Zeit abbilden. Wenn für einen Zeitpunkt t1 gelte, dass A = A ist, dann muss dies für einen Zeitpunkt t2 nicht mehr unbedingt gelten. In der formalen Logik gibt es jedoch keine Notation dafür, auszudrücken, dass ein Objekt A zu einem weiteren Zeitpunkt sowohl A bleiben, aber auch zu B geworden sein kann. In der Dialektik unterscheidet man daher in eine realisierte Wirklichkeit und eine potentielle. Zeit ist die Richtung der Entwicklung potententieller Realitäten in realisierte. In einem Objekt ist schon immer die Tendenz, nicht mehr A zu werden, angelegt. Diese Potentiale sind genauso Teil der materiellen Existenz, wie die realisierte Wirklichkeit. Die realisierte Wirklichkeit ist Gegenstand der empirischen Untersuchung, die potentielle ist Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Ob ein Potential realisiert wird oder nicht, ist eine Frage der Zeit und bemisst sich quantitativ bei vielen Beobachtungen über die Wahrscheinlichkeiten. In der Physik wird dieser Sachverhalt durch den Begriff der Entropie beschrieben. In der marxistischen Geschichtswissenschaft enthält jede neue Gesellschaftsform neue potentielle Weiterentwicklungen, deren Vorhandensein und Realisierungswahrscheinlichkeit durch den Stand der Klassenkämpfe bestimmt wird. Für Materialisten ist wichtig, dass nur aus der Transformation realer Wirklichkeit in eine neue realisierte auch eine neue potentielle Wirklichkeit entsteht, was der wahre Gegensatz zum Idealismus ist.

Doch wie kam es eigentlich zu dieser eklatanten Leerstelle in der formalen Logik? Um das zu erklären, dient die Tatsache, dass die formale Logik eine bürgerliche Wissenschaft ist, das heißt eine Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist bereits realisiert und das Bürgertum als herrschende Klasse ist natürlich bestrebt, ihre realisierte Herrschaft zu erhalten. Daher interessierte sich das Bürgertum nur noch für Wissenschaften, die den realisierten Zustand möglichst präzise beschrieben, sein Potential aber vernachlässigten. Die empirische Forschung als Sammlung mehr oder weniger raffinierter Methoden, wie es zudem realisierten Zustand kommen musste, gewann die Oberhand. Davon, dass das Bürgertum gleichzeitig mit dem Proletariat das Potential seiner eigenen Abschaffung erschuf, wollte man nicht so gerne hören.

Exkurs: Grundlegende Sätze der Dialektik

Aus dem oben geschriebenen kann man drei ganz allgemeine Prinzipien aufstellen:

1. Jedes soziale Phänomene ist gleichzeitig realisiertes und potentielles.

2. Damit ist jedes soziale Phänomen durch andere bestimmt, aber auch bestimmend.

3. Soziale Phänomene sind tendenziell.

In Gesellschaften, welche durch Klassengegensätze bestimmt sind, treffen Tendenzen auf Gegentendenzen, die in Widerspruch geraten. Diese drei Prinzipien können auch als wesentlich bekanntere dialektische Sätze umformuliert werden:

1a. Einheit von Einheit und Differenz

2a. Einheit der Gegensätze

3a. Einheit von Wesen und Erscheinung

Die Gesetze lassen sich hervorragend am Warenbegriff von Karl Marx erläutern. Eine Ware ist realisiertes Phänomen, indem sie Produkt von Arbeit ist, aber auch potentielles, da der Produzent die Ware nicht wegen ihres Gebrauchswertes geschaffen hat, sondern wegen ihres Tauschwerts und der Tausch erst in der Zukunft realisiert werden kann (1). Somit ist die Ware Einheit von Einheit und Differenz, einheitlich in ihrer realisierten Gegenständlichkeit, aber potentiell verschieden hinsichtlich ihrer Realisierung als Tauschwert (1a). Diese Differenz tritt auch als Differenz von Erscheinung als realisiertes Objekt und Wesen als erst noch zu verkaufendes Objekt auf, die ebenso eine eigene Einheit bilden (3a). Der Tauschwert ist jedoch durch ein anderes soziales Phänomen bestimmt, die abstrakt menschliche Arbeit. Als Produkt konkreter Arbeit ist sie aber auch bestimmend für den Wert anderer Waren (2). Hat der Produzent nämlich nur die Hälfte der Zeit zur Produktion benötigt, senkt sie den Wert aller anderen Waren. Sie ist damit Einheit der Gegensätze (2a). Ob die Ware verkauft wird, hängt jedoch von anderen Umständen ab, zum Beispiel, ob potentielle Käufer genügend Geld haben, um die Ware tatsächlich zu kaufen. Ihr Tauschwert ist also in der Warenform nur tendenziell potentiell vorhanden (3).

Können Computer denken?

Ein Lackmußtest der Wissenschaftstheorie ist die Frage, ob Computer selbst Wissen erzeugen können und ob sie in der Lage wären, menschliches Denken zu ersetzen. Hierzu gibt es verschiedene gut begründete Positionen: Manche sagen, Computer können lernen, andere sagen, dass sie nur das eingegebene Wissen neu ordnen können. Manche behaupten, Computer könnten menschliches Denken immitieren, andere halten dagegen, dass soziale Beziehungen ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Denkens seien und Computer diese nicht eingehen könnten.

Anhand des oben aufgestellten Konzepts erläutert Carchedi seine Antwort. Computer arbeiten nach den Boolschen Gesetzen, also der Sammlung der Gesetze der formalen Logik. Ihnen fehlt damit die zeitliche Dimension des Denkens, die durch das Mitdenken der potentiellen Wirklichkeit im Wesen eines Phänomens gekennzeichnet ist. Computer arbeiten abgesehen von rein zufälligen Fehler deterministisch. Der Arbeitsprozess eines Computers erschafft bei der Umwandlung von A in B kein B, welches das Potential zu C oder D hat, sondern nur zu C. Die logischen Ketten können dabei sehr komplex werden und Denken zum verwechseln ähnlich sehen, aber ohne zeitliche Dimension können Computer bestenfalls Scheinpotentiale generien. Computerdenken leibt immer statisch, auch wenn die Illusion von Dynamik erweckt wird. Es ist daher richtig, davon zu sprechen, dass Computer neues Wissen erschaffen, da sie Zeit, Energie und Ressourcen zur Transformation von A in ein gewünschtes B benötigen, aber nicht, dass sie denken. Oder um eine alte Frage der Populär‐​Science‐​Fiction zu beantworten: Computer werden sich nie gegen ihre Erschaffer wenden, da sie nicht in der Lage sind das Potential ihrer eigenen Existenz zu erkennen, außer es wurde ihnen bereits von vorneherein gegeben.

Und Quantencomputer?

Wenn Potentiale aber durch Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen ausgedrückt werden können, wie sieht es dann eigentlich mit Quantencomputern aus, die tatsächlich mit Überlagerungszuständen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen arbeiten? Dieses Argument beruht nach Carchedi auf der Ähnlichkeit der Überlagerung zweier Quantenzustände auf der einen und der Einheit der Gegensätze beziehungsweise der Einheit von realisiertem und potentiellem Phänomen auf der anderen Seite.

Zur Erinnerung: Die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik, die heute die gängige Lehrmeinung ist, sagt aus, dass in einem Quant so lange zwei Zustände überlagert sind, bis ein Experiment einen der beiden Zustände herstellt. So seien in einer geworfenen Münze die beiden Zustände Kopf oder Zahl während der Drehung solange überlagert, bis das Experiment, der Aufprall auf den Boden, einen der beiden Zustände herstelle.

Zunächst einmal klingt das sehr nach großer Übereinstimmung mit der Dialektik. Carchedi merkt an, dass sich die Quantenphysik plausibler beschreiben ließe, wenn ein dialektisches Konzept zu Grund gelegt würde. Ein Quant ist zunächst als Produkt eines Transformationsprozess, etwa der Änderung der Elektronenkonfiguration in der Hülle eines Atoms, etwas realisiertes, welches verschiedene Potentiale hat. Die Einheit der beiden Potentiale, Materie‐ oder Lichteigenschaften zu besitzen, ist seine materielle Realität. Der Messprozess selbst ist ein Arbeitsprozess, der eines der beiden Potentiale realisiert, in manchen Experimenten dterministisch und in manchen propabilistisch. Der Unterschied zur Kopenhagener Deutung bestünde hierbei darin, dass der Begriff der Überlagerung kein zeitliches Moment enthielte und damit dem Gegenstandsbereich der formalen Logik verhaftet bliebe.

Allerdings macht das Quantencomputer noch lange nicht zu denkenden, potentiell zur Dialektik befähigten Wesen. Wahrscheinlichkeiten können nur ein quantitatives Verhältnis von bestimmten Größen zueinander ausdrücken. Es gibt zwei genau definierte Ausgänge des Experiments mit einer genau definierten Wahrscheinlichkeitsverteilung. Ein gesellschaftliches Phänomen habe jedoch ein formloses Potential. Die Ausgänge sind stofflich unbestimmt. Ein Quantencomputer kann im Endeffekt nur die Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Zustände der Materie manipulieren und für Berechnungen zu Grunde legen, die physikalisch genutzt wird, aber nicht des sozialen Phänomens, dass durch den Quantencomputer abgebildet wird. Er ist immer an die Materie gebunden, mit der er arbeitet und nicht an die, welche abgebildet werden soll. Beide Wahrscheinlichkeiten sind grundsätzlich verschieden und die eine lässt sich nicht in die andere überführen. Quantenschafe träumen also nicht. Oder etwas genauer: sie träumen nicht anders als Quanten, aus denen sie bestehen.

So plausibel Carchedis Argumentation ist, kann er eine Frage nicht beantworten. Welcher materielle Unterschied befähigt das menschliche Gehirn im Gegensatz zu den Schaltkreisen eines Computers zum dialektischen Denken? In seinen Eingangsthesen vertrat Carchedi ja eine ganz biologisch‐​materialistische Sicht auf Denkprozesse als Neuverschaltung von Neuronen durch Synapsen. Warum sollten diese Verschaltungen nicht durch Computerschaltkreise abgebildet werden können? Carchedi antwortet zumindest im vorliegenden Text nicht auf diese Frage, aber vielleicht könnte eine Antwort sein, dass es keine Frage der Hard‑, sondern eine Frage der Software ist. Vielleicht könnten mit Fortschreiten der Entwicklung der dialektischen Logik, die einen gesellschaftlichen revolutionären Prozess voraussetzt, die Booleschen Gesetze um die zeitliche Dimension so erweitert werden, die von Computern verarbeitet werden kann. Vielleicht ist dies ein Potential, was erst noch realisiert werden muss … und kann, wenn die gesellschaftlichen Bedingung, eine über die realisierte Gesellschaft hinausweise Bewegung, dafür realisiert ist.

Im zweiten Teil werden die Implikationen der Überlegungen Carchedis für die digitale Wissensökonomie analysiert.

Literatur:

Carchedi, G. (2011): Behind the Crisis. Marx´s Dialectics of Value and Knowledge. Leiden, Boston: Brill.

Carchedi, G. (2022): The Ontology and Social Dimension of Knowledge: The Internet Quanta Time. In: International Critical Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2022.2113170.

Bild: Pixabay

Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz

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