Protest in Translation

  • Politischer Protest artikuliert sich in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften in der Regel als Kampf zwischen sozialen Formationen und weniger zwischen Klassen.
  • Die marxistische Regulationstheorie versucht auf Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie die konkrete Ausprägung des gesellschaftlichen Überbaus zu erklären.
  • Bailey, Lewis und Shibata haben in der Capital&Class die Proteste in Japan, Deutschland, Spanien, den USA und Großbritannien seit 2009 untersucht. 
  • Sie zeigen, dass auf Grund unterschiedlicher Rahmenbedigungen die Widersrpüche durch Finanzkrise und Neoliberalismus ganz unterschiedliche Ausdrucksformen sozialen Protests annahmen. 
  • Theorien wie die Regulationstheorie können helfen, die komplexen Protestlagen während des »heißen Herbstes« zu verstehen.

Der »heiße Herbst« kommt langsam ins Rollen. Doch die Verhältnisse sind kompliziert. Zur für heute angekündigten Großdemonstration von Sören Pellmann haben auch rechte Kräfte wie »Freie Sachsen« und Compact mobilisiert. Auf Seiten der Linken besteht eine permanente Angst, man könne sich von rechts vereinnahmen lassen. Daher ist es ungeheuer wichtig, sich mit der aktuellen Protestforschung und marxistischen Interpretationen des ideologischen Überbaus moderner kapitalistischer Gesellschaften auseinanderzusetzen.

Eine Theorie, welche hier Beachtung finden sollte, ist die so genannte Regulationstheorie. Sie analysiert, wie sich Gesellschaften politisch, ökonomisch, sozial, ideologisch und ökologisch aufstellen, um Krisen hinauszuzögern, gesellschaftlichen Konsens zu erzwingen und Proteste zu vermeiden. Sie nimmt zur Kenntnis, dass Ausbeutung und Profitmacherei zwar letztendlicher Grund aller gesellschaftlichen Konflikte sind, aber keine hinreichende Erklärung für konkrete Konfliktlagen schaffen.

David Bailey, Paul Lewis und Saori Shibata haben in der aktuellen Capital & Class vergleichend die Proteste zwischen 2009 und 1017 in fünf Ländern im Lichte der Regulationstheorie untersucht. Sie zeigen, wie langfristig ähnliche Entwicklungen, wie Neoliberalismus und Finanzkrise, in den einzelnen Ländern in unterschiedliche Konflikte und Proteste übersetzt werden. Vielleicht gelingt es mit Hilfe der Regulationstheorie, mehr Bewusstsein für die anstehenden sozialen Kämpfe in Deutschland zu finden.

Die marxistische Regulationstheorie

Zunächst: Regulationstheorie ist nicht gleich Regulationstheorie. Es gibt sowohl marxistische als auch linksliberale Ansätze. Gemeinsam haben beide, dass sie sich stark auf auf die französische Schule nach Michel Aglietta beziehen. Der marxistische Zweig der Regulationstheorie versucht ökonomische Basis und gesellschaftlichen Überbau näher zu bestimmen. Seine Quellen gehen auf die Ideen Antonio Gramscis, Nicos Poulantzas und Louis Althussers zurück. Bekannte zeitgenössische Marxist*innen, welche diesen Ansatz fortschreiben, sind Bob Jessop, Joachim Hirsch oder Alain Lipietz. Bailey, Lewis und Shibata fokussieren sich bei ihrem Artikel auf die Auslegung Robert Boyers.

Alle auf die Straße: Aber wer kämpft gegen wen und warum?
Alle auf die Straße: Aber wer kämpft gegen wen und warum?

Um es einfach zu sagen, versucht die Theorie die Frage zu beantworten, warum spätkapitalistische Gesellschaften trotz wachsender Widersprüche weitgehend stabil bleiben. Anstatt den Klassenkampf als solchen zu verwerfen, beschäftigt sich die Regulationstheorie mit den komplexen Formen, die er annehmen kann. Sie geht dabei davon aus, dass das Kapital dauerhaft die Arbeiter*innen ausbeutet, beständig mehr Werte produziert als die Arbeiter*innen abkaufen können und somit in Überakkumulationskrisen gerät. Nun springen die Kapitalisten in Krisenzeiten nicht wie Lemminge von der Klippe, sondern versuchen gesellschaftliche Formationen zu finden, welche die Krisen und deren gewaltsame Entladung hinauszögern, so genannte Akkumulationsregime. Im Fordismus beispielsweise versuchte das Kapital durch großindustrielle Massenproduktion neue Waren für die Arbeiter*innen bezahlbar zu machen und so neuen Absatz zu kreieren. Dies konnte jedoch nur zeitweise funktionieren und führte nur zu neuen Widersprüchen. Um ein Akkumulationsregime zu stabilisieren, benötigt die herrschende Klasse zudem einen Regulationsmodus, also einen Zuschnitt der staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen, sozialen Netzwerke und ideologischen Denkformen auf das herrschende Akkumulationsregime. So benötigte der Fordismus disziplinierte Fließbandarbeiter*innen und formte die einst einem humanistischen Bildungsgedanken verhaftete Schule in eine Disziplinaranstalt. Nach Boyer gibt es sieben prägende Regulationsmodi:

  • Arbeit‐​Lohn‐​Beziehungen
  • Wettbewerbsregime
  • Geld‐ und Kreditregime
  • Staats‐​Wirtschafts‐​Beziehungen
  • Einbindung in den Weltmarkt
  • Gesellschafts‐​Umwelt‐​Beziehungen
  • Institutionalisierung der Reproduktion

Diese Differenzierung erlaubt es nun Marxist*innen, das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft genauer zu bestimmen. Allerdings auf Kosten einer zunehmenden Komplexität der Analyse, wodurch leicht der rote Faden der Kritik am Kapitalismus verloren gehen kann.

Methode

Um die Erklärungsmächtigkeit dieser Theorie nun auf die empirische Probe zu stellen, haben die Autoren der vorliegenden Studie sozialen Protest zwischen 2009 und 2017 in fünf entwickelten kapitalistischen Ökonomien vergleichend untersucht: die USA, Deutschland, Großbritannien, Japan und Spanien. Zur Grundlage nahmen sie Meldungen der Agentur Reuters und schätzten mit Hilfe der Artikel, Bilder und weitergehender Recherche Größe und politische Ausrichtung der jeweiligen Proteste ab. Die Autoren sind sich natürlich bewusst, dass solche Agenturmeldungen nicht das reale Ausmaß der Proteste widerspiegeln, sondern reflektieren, was als gesellschaftlich relevant wahrgenommen wird. Darin liegt jedoch auch die Stärke der Methode. Es wird quasi sui generis eine Vorauswahl relevanten Protests vorgenommen. Auch wenn klassenanalytisch gesehen der Großteil der Proteste durch Proletarier*innen oder zusätzlich abgehängten Schichten des Kleinbürgertums getragen wurden, haben die Autoren die Akteure nach Kategorien unterteilt, welche den einzelnen Formen der Regulationsmodi entsprechen. Insgesamt analysierten die Forscher 1.167 Ereignisse.

Anzahl untersuchter Proteste nach Land. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.457 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.

Bereits die Abbildung der zeitlichen Verteilung der Proteste in den einzelnen Ländern zeigt, dass sie sich ganz verschieden verhalten und kein eindeutiger Trend erkennbar ist. Daher haben die Autoren die einzelnen Länder näher analysiert, die Proteste nach Akteuren aufgeschlüsselt und im Rahmen der Regulationstheorie diskutiert.

Die empirische Analyse

Deutschland

Deutschland ist zwar massiv exportabhängig und damit auch von wegfallenden Exporten durch die Weltfinanzkrise betroffen gewesen. Dennoch erwies sich das deutsche Modell, das immerhin noch einen rudimentären robusten Sozialstaat erhalten hatte, als relativ widerstandsfähig. Deutschland ging im Allgemeinen als Gewinner aus der Weltfinanzkrise heraus, sodass massive Bewegungen wie Occupy‐​Wall‐​Street oder Antikürzungsproteste geringer blieben. Dennoch hatten die Hartz‐​Reformen, welche die Kürzungen etwa zehn Jahre vorweggenommen haben, ihren bedeutenden Einfluss auf die Gesellschaft. Sie schufen ein von der Gesellschaft abgehängtes Prekariat und durch die Liberalisierung des Arbeitsmarktes eine mittleren und Niedriglohnsektor, deren Angehörige in beständiger Angst vor dem sozialen Abstieg leben. Während des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Finanzkrise wurde das Proletariat kaum am zunehmenden Wohlstand beteiligt.

Proteste in Deutschland 2009 – 2017. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.462 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.
Dies äußerte sich dann 2015 im Unmut über die (vergleichsweise zur vorher Deutschland übervorteilenden) liberalen Asylpolitik, die von rechten Agitatoren aufgegriffen wurde. Das Narrativ, dass die deutsche Regierung nicht genug für deutsche Bürger*innen tue, hat ihre Verankerung in der Realität zumindest in der Abkoppelung der Löhne vom Wirtschaftswachstum. PEGIDA und Co dienten mit ihren Anti‐​Asyl‐​Protesten zwar dem deutschen Kapital, da sie den Fokus von der sozialen Frage weg richteten, verschreckten jedoch mit zunehmender Radikalisierung auch ausländische Investoren, was sie zu einem großen Problem für das Akkumulationsregime machte und macht.

Die Arbeiter*innenproteste wurden klassisch von den DGB‐​Gewerkschaften – insbesondere ver.di und IG Metall – geführt, welche immerhin für festangestellte Stammbelegschaften Geländegewinne erzielen konnten.

Japan

Am Beispiel Japans sehen wir die Probleme der Methode. Der Niedergang der Hausbanken und des Keiretsu‐​Systems – dem Zusammenschluss der japanischen Wirtschaft in großen oligarchischen Verbünden, die immerhin langfristig Arbeitsplatzsicherheit garantierten – prekarisierten die Arbeit‐​Lohn‐​Beziehungen. Immer mehr Verträge wurden nur noch befristet ausgestellt, viele Arbeiter*innen entlassen. In Anbetracht der aufständischen Tradition Japans ist kaum zu vermuten, dass das Proletariat keinen spontanen Widerstand entgegengesetzt hätte. Dennoch berichtete Reuters ab 2011 vorrangig über die Umweltproteste im Zusammenhang mit der Fukushima‐Katastrophe.

Proteste in Japan 2009 – 2017. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.465 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.

Der zweite sichtbare Peak ist eine Reaktion auf die Ankündigung der Abe‐​Regierung 2015, Japan verstärkt zu remilitarisieren und dafür auch die Verfassung zu ändern. Auch wenn der Charakter im Wesentlichen der einer Friedensbewegung ist, kann man solche Vorstöße gut im Lichte des Wandels des japanischen Akkumulationsregimes interpretieren. Mit dem Zerfall des Keiretsu‐​Systems, dass auf einheimische Zulieferer in den Schlüsselindustrien setzte, wurde Japan zunehmend abhängig vom internationalen Markt … und das bedeutet an dieser Stelle auch von China. Der Verlust an wirtschaftlicher Überlegenheit versuchte die Regierung durch verstärkte militärische Stärke zu kompensieren. Ein Schritt zur Eskalation in den traditionell schlechten Beziehungen zwischen beiden Ländern, der insbesondere kurz nach der Fukushima‐​Katastrophe kritisch gesehen wurde.

Spanien

Spanien ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Verflechtung der Institutionen der Reproduktion und das Finanzregime die Gestalt der Proteste prägen. Die spanische Wirtschaft des 21. Jahrhunderts beruhte stark auf einer Liberalisierung der Finanzmärkte, um durch Kredite das Bauwesen zu finanzieren. Mit der Finanzkrise konnten die Kredite nicht mehr bedient werden, die Mietpreise explodierten und zehntausende Menschen verloren ihre Häuser. Davon waren Proletarier*innen und Kleinbürger*innen gleichermaßen betroffen. Es lebten die Sammlungsbewegungen, wie die 15‑M in Barcelona und andern Großstädten, auf. Sie stellten soziale Forderungen, wie günstige Mietpreise und Subventionen alltäglicher Güter in den Mittelpunkt. Die Jugend der Gewerbetreibenden, junge Arbeiter*innen und Student*innen waren gleichermaßen auf der Straße. Aus dieser Bewegung ging dann die Partei Podemos hervor, die das spanische Parteiensystem umkrempelte.

Proteste in Spanien 2009 – 2017. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.459 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.

Ein weiterer bestimmender Faktor des spanischen Akkumulationsregimes ist natürlich die Föderalismusfrage. Das Referendum um die katalanische Unabhängigkeit, die Verfolgung von Aktivisten und die Demonstration spanischer Nationalist*innen prägten die zweite Hälfte der 2012er‐Jahre.

USA

In den Vereinigten Staaten liegen die neoliberalen Reformen schon etwa 40 Jahre zurück. Die Erosion der traditionell auf Arbeitgeberverantwortung beruhenden sozialen Sicherungssysteme hat dazu geführt, dass fast jeder Regulationsmodus des Akkumulationsregimes permanent umstritten ist. Die beiden signifikanten Bewegungen waren zweifellos die Occupy‐​Wall‐​Street– (Geld‐ und Kreditregime) und die Black‐​Live‐​Matters‐​Bewegung (Staats‐​Wirtschafts‐​Beziehungen). Daneben werden jedoch auch viele Kämpfe innerhalb der Institutionen mit großer Härte geführt, wie etwa der Kampf für das Recht auf Abtreibung (Institutionalisierung der Reproduktion) oder der Wirtschaftskrieg mit China (Einbindung in den Weltmarkt).

Proteste in den USA 2009 – 2017. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.459 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.

Großbritannien

Auch in Großbritannien setzte die Neoliberalisierungpolitik bereits mit der Regierung Thatcher ein und kann mittlerweile als abgeschlossen gelten. Dennoch fällt im Vergleich zu den USA auf, dass es noch einen hohen Grad an traditionellen Arbeiter*innenprotesten gibt. Wie kann der Unterschied zu den Vereinigten Staaten begründet werden?

Proteste in Großbritannien 2009 – 2017. Abbildung: Bailey, Lewis & Shibata (2022). S.459 (siehe Literaturangabe). Lizenz: CC4.0 BY‐NC.

Großbritannien setzte wesentlich stärker als die USA auf seine Rolle als internationaler Finanzplatz. Die dort erwirtschafteten Erlöse dienten als Motor der restlichen Ökonomie auf der Insel. Die Finanzkrise traf das Land daher wesentlich härter als die USA. Die anschließende Austeritätspolitik traf somit jeden Sektor. In diesem Kontext ist auch schlüssig, dass die Arbeiter*innenproteste stark in mit dem Staat verflochtenen Sektoren stattfanden, wie der Londoner U‑Bahn oder British Airways.

Deutschland im Herbst 2022

Argumentieren wir abschließend im Geiste des Artikels hinsichtlich der aktuellen Lage in Deutschland. Das Akkumulationsregime der BRD ist noch immer durch den exportzentrierte Industrie in der Endverarbeitung charakterisiert. Durch geringe Lohnstückkosten, aber auch den Zugriff auf günstige Rohstoffe – wie Erdgas aus Russland – bei hohen Exportpreisen, konnten in den letzten Jahren hohe Gewinnmargen erzielt werden, die genügend Steuern für einen robusten, wenn auch prekären, Sozialstaat abwarfen. Die deutsche Wirtschaft war dadurch aber auch wie keine andere von einströmenden Extraprofiten abhängig. Mit dem Wegfall günstiger Rohstoffe verteuert sich die Produktion und gefährdet so das bisherige Wirtschaftsmodell. Auf Ebene der Arbeits‐​Lohn‐​Beziehungen bedeutet das eine Entwertung der Löhne durch die massive Inflation. Das Wettbewerbsregime befördert gerade in immensem Maßstab eine Subventionierung großer Energiekonzerne, die entweder enorme Übergewinne verzeichnen oder durch die Gasumlage aufgefangen werden. Diese Umverteilung findet aus Richtung der Taschen der kleinen Kapitalisten, der Kleinbürger und der Proletarier*innen in Richtung der Konzerne und der Zulieferer aus den Niederlanden, Norwegen und den Vereinigten Staaten statt. Somit ist eine materielle Grundlage für einen breiten populären Konflikt, der über die lohnabhängigen Teile der Gesellschaft hinausgeht, gegeben.

Auch die Gesellschafts‐​Umwelt‐​Beziehungen sind von dieser Situation betroffen. Die Abkoppelung vom russischen Gas wird durch die Grüne Partei als Energiewende hin zu neuen Energien verkauft. Allerdings hat Deutschland große Probleme, in der gegenwärtigen Lage die finanziellen, aber auch die technischen Mittel für einen solchen Umbau zu stellen. Da diese Finte zu leicht durchschaubar ist, gerät die gesamte Nachhaltigkeitspolitik, so berechtigt sie ist, unter Korruptionsverdacht. Die Institutionen der Reproduktion sind nicht im Besonderen betroffen, da sie schon seit vielen Jahren prekarisiert sind. Die gewerkschaftlichen Formierungsprozesse in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen könnten aber unter dem Eindruck der Preisanstiege noch weiter an Fahrt aufnehmen.

Zusammenfassung

Bailey, Lewis und Shibata zeigen, wie makropolitisch gleiche Entwicklungen unter den speziellen Bedingungen der einzelnen Länder sehr verschiedene Formen annehmen. Während sich der neoliberale Umbau in Japan als Friedensbewegung und in Spanien als populare Kommunalbewegungen niederschlug, zeigen Großbritannien und die USA, wie systematisch umkämpft und instabil jeder Lebensbereich nach 40 Jahren Freihandel geworden ist. In Deutschland überlagern sich die Hartz‐​Reformen mit dem bisherigen Erfolg der Exportorientierung und und erzeugen so ein Klima der beständigen Angst vor sozialem Abstieg.

Die sozialen Konflikte des 21. Jahrhunderts gehen über »Klasse gegen Klasse« hinaus, auch wenn in ihrem Kern Ausbeutung der Arbeiter*innen auf der einen und Akkumulation von Reichtum durch die Bourgeoisie auf der anderen Seite stehen. Marxist*innen sollten in ihrer Analyse darauf vertrauen, dass der prinzipielle Klassenwiderspruch immer erhalten bleibt, auch wenn die Proteste sich eher popular artikulieren. Statt Ausschlussrethorik müssen linke Kräfte alle Fragen auf den Widerspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie zurückführen. Denn das ist das Gegengift für eine Rechte, die sich eine nationale Einheit herbeifantasiert. Und es ist Gegengift für die AfD, die Übergewinnsteuer und die Erhöhung der Sozialleistungen ablehnt.

Literatur:

Bailey, D., Lewis, P. & Shibata, S. (2022): Contesting Neoliberalism: Mapping the terrain of Social Conflict. In: Capital&Class. Jahrgang 46. Ausgabe 3. S.449 – 478.

Boyer, R. & Saillard, Y. (1995): Regulation Theory. The State of the Art. London & New York: Routledge.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz.

Bild: Demonstration in Paderborn, 10.09.2022.

9 thoughts on “Protest in Translation

    1. Es gibt sicher verschiedene Lösungsansätze, um den steigenden Strom‐ und Gaspreisen zu begegnen. Die Vorschläge, welche die nachdenkseiten machen sind sicher bedenkenswert, sie haben aber folgende Nachteile: Sie sind entweder bürokratisch und damit bei schneller Umsetzung akut rechtsunsicher. Und sie erfordern am Ende doch Steuerzuschüsse oder Umlagen, wobei nicht erklärt wird, woher das Geld kommt.
      Übergewinnsteuer ist am Ende auch nicht Übergewinnsteuer. Eine Übergewinnsteuer von 10 – 30% entlastet den Verbraucher natürlich nur sekundär über Rückverteilung durch den Staat. Eine Übergewinnsteuer zwischen 80 – 100% jedoch senkt jegliche Motivation zur Preistreiberei. Woher das Geld kommt, nämlich von den großen Konzernen, ist klar. Sie ist schnell eingeführt und wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt hat, rechtssicher. Dazu vielleicht noch einiges hier: http://​www​.spectrumofcommunism​.de/​u​e​b​e​r​g​e​w​i​n​n​s​t​e​u​er/
      Die AfD begründet ihre Ablehnung der Übergewinnsteuer a) mit angeblicher Rechtsunsicherheit (was faktisch falsch ist) und b) mit einer steigenden Belastung der kleinen Betriebe. Jetzt möchte ich aber gerne die kleinen Betriebe sehen, die bei den aktuellen Gas‐ und Strompreisen höhere Gewinne erzielen, als in den letzten drei Jahren. Die Argumente sind so schwach, dass die Vermutung nahe liegt, dass die AfD hier nur das Kapital schützt und nicht die Bürger.

      1. Wenn ich die Berger‐ und Riegel‐​Artikel auf den NDS lese, muss ich sagen, dass eine Strompreisbegrenzung viel leichter umsetzbar wäre als eine Übergewinnsteuer. Strompreis? Aussetzung des Merit Order‐​Systems. Wen interessiert den seit Corona noch die »rechtssichere Umsetzung«. Wo kein Kläger, da muss keiner aus der seit Corona ebenfalls sorgsam gleichgeschalteten Richterkaste ran.
        Euren Artikel habe ich gelesen, z.T. überflogen. Schon die Rosa‐​Luxemburg‐​Stiftung herzunehmen, finde ich bedenklich. Nach etlichen Erwägungen und dem unvermeidlichen Marx‐​Zitat kommt was heraus? Ein höheres Preisniveau, das die Lohnabhängigen ja mit Lohnerhöhungen ausgleichen werden – bitte???? Wo seht Ihr zurzeit die Aussicht für das beschäftigte Proletariat, Lohnerhöhungen durchzusetzen? Sind Firmen wie Audi oder BMW nicht immer noch in Kurzarbeit?
        Ihr seid auch keine Transferleistungsbezieher, sonst würde Euch gleich auffallen: von der Übergewinnsteuer sieht der Transferleistungsbezieher nichts. Wenn’s hochkommt, mal ein Zuckerl wie die 100 Euro neulich.
        Nein, die Ausschüttung einer – möglichen! – Übergewinnsteuer auf zahllose betroffene Betriebe und Millionen und Abermillionen betroffene Beschäftigte und Transferleistungsbezieher ist praktisch undurchführbar, unwirksam.
        Ohnedies wird es aber keine Übergewinnsteuer geben. Mal drüber reden, »da muss Politik was machen«, das war’s dann.

        1. Um es ganz knapp zu machen: Ein Übergewinnsteuer von 80 – 100% führt deshalb zur Kostensenkung, weil sie hohe Preise nicht mehr profitabel macht. Die Preistreiber haben keine Motivation für hohe Preise, weil sie diese ohnehin vollständig oder fast vollständig versteuern müssen. Eine Strompreisbremse ist deshalb komplizierter, weil sie dazu führt, dass einige bis viele Anbieter in die roten Zahlen, weshalb die nachdenkseiten hier auch Umlagen und Steuersubventionen als notwendig erachten. Bei der Übergewinnsteuer hingegen werden solche Unternehmen ohnehin nicht abgeschöpft.
          Und für diese Rückverteilung bei der Strompreisbremse bleibt die Finanzierung unklar, während die Übergewinnsteuer zwar nicht rückwirkend, aber immerhin für dieses Steuerjahr die bereits erzielten Übergewinne mit einholt. Die Aussetzung, nicht Abschaffung, des Merit‐​Order‐​Systems ist bedenkenswert, da es zumindest den urspünglichen Zweck nicht erfüllt, aber ehrlich gesagt weiß keiner so wirklich, ob ein preissenkender Effekt eintritt.

      1. Interessanter Artikel. Allerdings wird nicht berücksichtigt, dass die Dominanz des Reformismus über die Arbeiterklasse und das Fehlen eines relevanten revolutionären Faktors zentrale (!) Gründe dafür sind, dass die Arbeiterklasse so passiv bleibt. Früher waren nahezu alle progressiven Bewegungen an die Linke und die Arbeiterklasse gebunden. Heute sind es in weit stärkerem Maße die Mittelschichten, die politische Bewegungen prägen. Typisch dafür sind die »grünen« Bewegungen, die im Kern weder fortschrittlich noch wirkliche Massenbewegungen sind. Das Problem dabei ist, dass die gesamte Linke und der Reformismus dem grünen Obskurantismus hinterherlaufen, anstatt ihn zu attackieren.
        Das Herrschaftsregime im Kapitalismus hat sich in den vergangenen 100 – 150 Jahren nach Marx und Lenin gravierend geändert. Herrschaftsfaktoren (-instrumente) wie Medien, Kultur, Wissenschaft (bzw. Pseudo‐​Wissenschaft), Verwaltung, Bildungswesen haben heute ein ganz anderen Stellenwert als früher. Dazu kommt der Größen‐ und Bedeutungszuwachs der lohnabhängigen Mittelschicht (nicht identisch mit Kleinbürgertum), die an allen »Schaltstellen« der Gesellschaft sitzt. Diese letzte Tendenz widerspricht klar der Marxschen Annahme der Erosion der Mitte.
        Das Drama der antikapitalistischen Linken und »Marxisten« besteht auch darin, dass sie sich unfähig zeigen, diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Schlüsse für ihre Programmatik und Praxis abzuleiten. Die gesamte Linke ist ist leider ein Milieu von Opportunisten und /​oder Dogmatikern und Sektierern, das grundlegend an Haupt und Gliedern erneuert werden muss. Nur so kann die »historische Führungskrise des Proletariats« (Trotzki) überwunden werden.

  1. Sehr interssant. Schwachstelle wird die Datengrundlage sein.

    Viele Proteste werden nicht mehr in Nachrichten erwähnt. Zudem bedienen die Medien die Diffamierungslinie des Politmedialen Komplexes, der die Einordnung rechts nicht immer ganz sauber verteilt.

    Ändert aber nix groß an den grundlegenden Aussagen, wahrscheinlich.

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