Wenn der Strom fehlt – Sank­ti­ons­fol­gen in Syrien

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Den Krieg in Syri­en hat der Wes­ten ver­lo­ren, aber den Wie­der­auf­bau blo­ckiert er immer noch mit sei­nen Sank­tio­nen. Ein neu­er UN-Bericht schil­dert aus­führ­lich, wel­che Fol­gen es hat, dass die Sank­tio­nen den Wie­der­auf­bau der Strom­ver­sor­gung behindern.

Syri­en wird nach wie vor von den west­li­chen Staa­ten mas­siv sank­tio­niert. Die­se Sank­tio­nen umfas­sen auch Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­de, die zur Auf­recht­erhal­tung bezie­hungs­wei­se Wie­der­her­stel­lung der Strom­ver­sor­gung nötig sind. Das Ent­wick­lungs­pro­gramm der Ver­ein­ten Natio­nen hat in einem Bericht aus­führ­lich geschil­dert, wel­che viel­fäl­ti­gen Fol­gen das Feh­len der Strom­ver­sor­gung hat.

Die Daten, die im Bericht ver­wen­det wur­den, stam­men von in Syri­en täti­gen Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen. Sie bele­gen, wie absurd deren Situa­ti­on oft ist, weil die Sank­tio­nen nicht nur das Elend erzeu­gen hel­fen, das sie zu lin­dern ver­su­chen, son­dern außer­dem die Arbeit selbst auf viel­fa­che Wei­se behin­dern und erschweren.

Syri­en wur­de um Jahr­zehn­te zurück­ge­wor­fen. Das zei­gen die grund­le­gen­den Daten in zwei Berei­chen aus der Zeit vor dem vom Wes­ten aus­ge­lös­ten Krieg. Im Jahr 2010, so der Bericht, stieg die Strom­erzeu­gung zwar nicht schnell genug an, um mit der Nach­fra­ge mit­hal­ten zu kön­nen, aber das Land war zu 93 Pro­zent elek­tri­fi­ziert. In der Stadt hat­ten hun­dert Pro­zent Zugang zu elek­tri­scher Ener­gie, auf dem Land immer noch 83 Prozent.

Ähn­lich war die Lage bei der Was­ser­ver­sor­gung. 92 Pro­zent der Land­ge­mein­den und 98 Pro­zent der städ­ti­schen Zen­tren hat­ten Zugang zu siche­rem Trink­was­ser. Die jähr­lich gelie­fer­te Men­ge an Trink­was­ser belief sich auf 1.700 Mil­lio­nen Kubik­me­ter, das ergab 125 Liter pro Kopf.

Die Abwas­ser­be­hand­lung war, zumin­dest auf dem Land, noch nicht sehr weit ent­wi­ckelt, dort hat­ten 13,5 Pro­zent der Bevöl­ke­rung einen Anschluss an ein Abwas­ser­sys­tem, aber in städ­ti­schen Regio­nen war die Lage besser.

Im Jahr 2021 betrug die Men­ge elek­tri­scher Ener­gie, die pro Kopf zur Ver­fü­gung stand, nur noch 15 Pro­zent des Werts von 2010. 59 Pro­zent der Haus­hal­te hat­ten weni­ger als acht Stun­den Strom am Tag, und bei 30 Pro­zent waren es sogar weni­ger als zwei Stun­den. Selbst in den öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen waren die Ver­hält­nis­se nicht besser.

Natür­lich war auch die Strom­ver­sor­gung von den Kämp­fen betrof­fen. Zwei der drei­zehn größ­ten Kraft­wer­ke des Lan­des wur­den völ­lig zer­stört, sechs teil­wei­se. Von 5.800 Mega­watt fiel die Strom­ka­pa­zi­tät auf nur noch 2.000 Megawatt

Finan­zi­el­le Nöte und die durch inter­na­tio­na­le Sank­tio­nen her­vor­ge­ru­fe­ne Unmög­lich­keit, Ersatz­tei­le zu impor­tie­ren, haben die Fähig­keit des Staa­tes beschnit­ten, beschä­dig­te Infra­struk­tur zu repa­rie­ren und ganz oder teil­wei­se funk­tio­nie­ren­de Kraft­wer­ke zu war­ten. In jün­ge­rer Zeit, seit 2020, haben wie­der­hol­te und erns­te Treib­stoff­knapp­heit und deut­lich ange­stie­ge­ne Treib­stoff­prei­se der vor allem auf fos­si­len Ener­gien beru­hen­den Ener­gie­er­zeu­gungs­ka­pa­zi­tät des Lan­des wei­te­re Schlä­ge versetzt.

Dabei ist zu berück­sich­ti­gen, dass die­ser Bericht vor dem jüngs­ten Anstieg der Ölprei­se ver­fasst wur­de. Und man soll­te auch nie ver­ges­sen (das erwähnt die­ser Bericht nicht), dass die eige­nen syri­schen Ölvor­kom­men nach wie vor von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten geplün­dert werden.

Aber zurück zu den Kon­se­quen­zen des Strom­man­gels. Die ers­te und mas­sivs­te betrifft die Was­ser­ver­sor­gung. »Zwi­schen 2011 und 2021 erlit­ten alle grund­le­gen­den Anla­gen der Was­ser­ver­sor­gung, abge­se­hen von dem Sys­tem, das die Küs­ten­ge­bie­te Syri­ens ver­sorgt, direk­te und schwe­re Schä­den.« Auch hier wird die Repa­ra­tur beschä­dig­ter Anla­gen durch die Sank­tio­nen erschwert; aber die Strom­knapp­heit macht sich selbst da bemerk­bar, wo die Anla­gen noch funk­tio­nie­ren, da die Pum­pen ohne Strom nicht arbeiten.

In den gan­zen Jah­ren 2020 und 2021 führ­te Strom­knapp­heit zu einer mas­si­ven Ver­rin­ge­rung der Pump­ka­pa­zi­tä­ten in allen syri­schen Was­ser­net­zen, und man­che davon arbei­te­ten nur eini­ge Stun­den in der Woche.

Auf dem Land müs­sen die Men­schen inzwi­schen oft Was­ser aus Tank­wa­gen kau­fen. Sie müs­sen dafür bis zu 15 Pro­zent ihres Ein­kom­mens auf­wen­den. Vie­le ärme­re Haus­hal­te kön­nen sich das nicht leis­ten, und »sind gezwun­gen, unsi­che­res Was­ser zu trin­ken, was sie der Gefahr von durch das Was­ser über­tra­ge­nen Krank­hei­ten aussetzt.«

Die Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen berich­ten auch, dass der unglei­che Zugang zu Was­ser, der davon abhängt, ob das loka­le Sys­tem funk­tio­niert oder nicht, zu Span­nun­gen zwi­schen den Gemein­den führt.

Auch das Niveau der Abwas­ser­be­hand­lung ist durch den Strom­man­gel gefal­len. Inzwi­schen haben nur noch drei Pro­zent der länd­li­chen Gemein­den Zugang dazu, was bedeu­tet, dass mehr Abwas­ser die Ober­flä­chen­ge­wäs­ser und das Grund­was­ser belastet.

Die Fol­gen für die Was­ser­ver­sor­gung sind aber nur eine von vie­len Kon­se­quen­zen. Der Bericht betont die Fol­gen, die die Strom­knapp­heit auf die Bil­dung hat. Da vie­le Schu­len zer­stört sind, wer­den die übri­gen viel­fach in einem Schicht­sys­tem betrie­ben. Wenn aber der Strom für die Beleuch­tung fehlt, fällt ein gro­ßer Teil des Unter­richts für die zwei­te Schicht aus.

Bezüg­lich der beruf­li­chen Bil­dung, die man­che der am Bericht betei­lig­ten Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen anbie­ten oder anzu­bie­ten ver­su­chen, sind die Fol­gen noch gra­vie­ren­der. Ohne den nöti­gen Strom für die ver­wen­de­ten Maschi­nen kann man weder Nähe­rin­nen noch Zim­mer­leu­te, Schwei­ßer oder Auto­me­cha­ni­ker aus­bil­den. »Ein Bei­spiel ist die Berufs­schu­le in Duma, die vom UNDP [Ent­wick­lungs­pro­gramm der Ver­ein­ten Natio­nen] 2020 wie­der auf­ge­baut wur­de. Die Schu­le arbei­tet nur in Teil­zeit, weil sie nur alle zehn oder zwölf Stun­den für eine Stun­de Strom hat. Die huma­ni­tä­ren Part­ner müs­sen die Berufs­bil­dungs­zen­tren mit alter­na­ti­ven und teu­ren Ener­gie­quel­len aus­stat­ten, was von den ver­füg­ba­ren Mit­teln abgeht.«

Für die Aus­übung der dort gelern­ten Beru­fe stellt sich die­sel­be Fra­ge, sodass in man­chen Regio­nen Syri­ens die Hälf­te der klei­nen Unter­neh­men den Betrieb auf­ge­ge­ben hat. Selbst wenn Treib­stoff und Gene­ra­to­ren zur Ver­fü­gung ste­hen, ist der erzeug­te Strom zu teu­er. Wohl­ge­merkt, er war es bereits im Jahr 2021.

Auch die Gesund­heits­ver­sor­gung leidet.

Schät­zungs­wei­se 30 Pro­zent der öffent­li­chen Kli­ni­ken in elf syri­schen Pro­vin­zen benö­ti­gen Strom­ge­ne­ra­to­ren, um arbei­ten zu kön­nen. (…) 51 Kli­ni­ken, die in der Wie­der­be­le­bung Neu­ge­bo­re­ner arbei­ten, bei 6.000 Neu­ge­bo­re­nen im Monat, von denen 500 eine inten­si­ve­re medi­zi­ni­sche Betreu­ung benö­ti­gen, sind direkt von kurz- und lang­fris­ti­gen Strom­aus­fäl­len betroffen.

Nicht nur vie­le Behand­lungs­mög­lich­kei­ten ent­fal­len bei Strom­man­gel. Vie­le tech­ni­sche Gerä­te wie Dia­ly­se­ma­schi­nen oder Inku­ba­to­ren reagie­ren emp­find­lich auf Strom­schwan­kun­gen. Blut­kon­ser­ven kön­nen ohne Küh­lung nicht auf­be­wahrt wer­den, und selbst die Kühl­schrän­ke ver­sa­gen, wenn der Strom immer wie­der weg­bleibt. Die hohen Treib­stoff­kos­ten füh­ren zusätz­lich dazu, dass weni­ger Ambu­lan­zen zur Ver­fü­gung ste­hen. Letzt­lich über­setzt sich das alles in den unnö­ti­gen Tod vie­ler Menschen.

Die huma­ni­tä­ren Ein­rich­tun­gen ste­hen vor der Wahl, ent­we­der ihre Diens­te nicht mehr anbie­ten zu kön­nen, oder einen Teil ihres Bud­gets für die Strom­ver­sor­gung auf­wen­den zu müs­sen, was eben­falls zu einem ver­rin­ger­ten Ange­bot führt. »Ein Gesund­heits­zen­trum im Unter­be­zirk Suran in der länd­li­chen Pro­vinz Hama, das Unicef ein­ge­rich­tet hat, muss­te sei­ne medi­zi­ni­schen Leis­tun­gen wegen des Strom­man­gels streichen.«

Die Zer­stö­rung von Pump­an­la­gen und die unsi­che­re Strom­ver­sor­gung haben aber auch Fol­gen für die Nahrungsversorgung.

In der syri­schen Pro­vinz Al-Hasa­keh, frü­her der Brot­korb des Lan­des, wur­de der Wei­zen­an­bau vor der Kri­se mit Bewäs­se­rung auf 252.468 Hekt­ar geschätzt und erzeug­te 974.000 Ton­nen Wei­zen pro Jahr. Heu­te liegt die bebau­te Flä­che unter 120.500 Hekt­ar und erzeugt 354.238 Ton­nen Weizen.

In der Pro­vinz sind die meis­ten Pum­pen wegen Strom­man­gels außer Betrieb. Andern­orts betrei­ben wohl­ha­ben­de­re Bau­ern Bewäs­se­rung mit­hil­fe von Gene­ra­to­ren, aber die Kos­ten, die (im Jahr 2021) beim Sechs­fa­chen des staat­li­chen Strom­prei­ses lagen, sor­gen für eine ent­spre­chen­de Preis­er­hö­hung des Getreides.

Auch land­wirt­schaft­li­che Pro­duk­te hal­ten sich nur bei ent­spre­chen­der Lage­rung. Selbst Getrei­de­si­los benö­ti­gen Strom zur Belüf­tung und Trock­nung. »Ohne Strom kön­nen ihre Belüf­tung, die Ste­ri­li­sa­ti­on und die Umwälz­sys­te­me nicht arbei­ten. In der Fol­ge wird der Wei­zen offen gela­gert und die Ern­te kann ver­der­ben, was für die Bau­ern erheb­li­che Ver­lus­te bedeu­tet.« Und die Gemü­se­pro­duk­ti­on, die in Syri­en vor­wie­gend in Gewächs­häu­sern in der Küs­ten­re­gi­on statt­fin­det, lei­det eben­falls. »Seit 2020 haben bei­spiels­wei­se nicht weni­ger als 12.000 Gewächs­häu­ser (…) ihren Betrieb wegen des Strom­man­gels eingestellt.«

Das alles führt zu stei­gen­den Nah­rungs­mit­tel­prei­sen und höhe­rer Armut. Inzwi­schen schätzt der UNHCR, der Flücht­lings­kom­mis­sar der Ver­ein­ten Natio­nen, dass 90 Pro­zent der syri­schen Bevöl­ke­rung unter der Armuts­gren­ze leben, und 60 bis 65 Pro­zent sogar in extre­mer Armut. Im Som­mer 2021 wur­de fest­ge­stellt, dass der Anteil der Syrer, die mani­fes­te Hun­ger­fol­gen zei­gen, inzwi­schen bei 4,7 Pro­zent liegt.

All die­se Pro­ble­me wären beheb­bar, oft sogar schnell beheb­bar, wären da nicht die west­li­chen Sanktionen.

Die Zahl der Men­schen, die huma­ni­tä­re Hil­fe benö­ti­gen, steigt seit 2020. Ange­sichts der sich ver­schlech­tern­den sozio­öko­no­mi­schen Lage im Land sind wei­te­re Anstie­ge zu erwar­ten. Wie es die vul­ner­ablen Syrer selbst sagen, spielt der Man­gel an Elek­tri­zi­tät bei die­ser Dyna­mik eine ent­schei­den­de Rol­le, sowohl als Sym­ptom als auch als Motor eines sozio­öko­no­mi­schen Verfalls.

Nie­mand kann, ange­sichts der Anga­ben die­ses Berichts, noch behaup­ten, die Sank­tio­nen gegen Syri­en rich­te­ten sich nicht gegen die ein­fa­che Bevöl­ke­rung. Es sind immer kolo­nia­le Straf­maß­nah­men, die Gehor­sam erzwin­gen sol­len, und sie zu ver­hän­gen, ist eine Schan­de für Staa­ten, die sich selbst demo­kra­tisch nennen.

Nun, Euro­pa wird gezwun­gen, zu ler­nen. Denn auch euro­päi­sche Maschi­nen, Was­ser­pum­pen und Getrei­de­si­los funk­tio­nie­ren nicht ohne Strom, sowe­nig wie Nah­ver­kehrs­net­ze und moder­ne Kran­ken­häu­ser. Die EU, die wei­ter dar­auf besteht, Syri­en im Elend zu hal­ten, indem sie die Wie­der­her­stel­lung der Strom­ver­sor­gung blo­ckiert, bekommt ihre eige­ne Medi­zin zu kos­ten. Die Syrer dürf­ten das mit einer gewis­sen Genug­tu­ung betrachten.

Dag­mar Henn ist Mit­glied des Deut­schen Frei­den­ker-Ver­ban­des, von des­sen Web­site frei​den​ker​.org der Bei­trag über­nom­men wur­de. Erst­ver­öf­fent­li­chung am 09.08.2022 auf RT DE.

Bild: Sym­bol­bild

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