Sou­ve­rä­ni­tät und Gegensouveräne

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Es zei­gen sich anhand unse­res heu­ti­gen Stand­punk­tes (das ist: Der Punkt, an dem die Din­ge gesche­hen, aber auch, der Punkt, von dem aus wir den­ken und han­deln) zwei Pro­ble­ma­ti­ken, wel­che zwar seit jeher als mit­ein­an­der ver­schwis­tert gedacht wur­den, deren Zusam­men­hang aber nur schein­bar, inner­halb einer begrenz­ten Form besteht. Die­se bei­den Pro­ble­ma­ti­ken sind fol­gen­de: Die des Zwan­ges und die der Sou­ve­rä­ni­tät. Davon ist ers­te­re die ein­fa­cher zu ver­ste­hen­de, indem sie sich offe­ner zeigt. Das mag para­dox erschei­nen, da dem Zwang heu­te die (figu­ra­ti­ve und tat­säch­li­che) Mas­ke der Pflicht vor­ge­scho­ben wird, wel­che sich para­dig­ma­tisch in der Pflicht der Mas­ke zeigt. Gera­de die­ser Appell an das Pflicht­be­wusst­sein soll­te uns daher zwei­fel­haft erschei­nen und zu den­ken geben: Er offen­bart, und das wird jedem, selbst dem, der es sich nicht ein­zu­ge­ste­hen wünscht, inner­lich bewusst sein, eine Dis­kre­panz zwi­schen der »vor­ge­hal­te­nen« Ver­mitt­lung und den tat­säch­li­chen Anwei­sun­gen des Zwan­ges. Soll hei­ßen: Der Zwang, wie wir ihn heu­te an Kör­per und Geist erle­ben, ist nicht expli­zi­ter, son­dern impli­zi­ter Natur.

Und die­ser impli­zi­te Zwang ist mit­un­ter der drän­gen­de­re, da er das Indi­vi­du­um nicht an sich, son­dern in sich erfasst. Er unter­legt dem kon­trak­tu­el­len Ver­hält­nis, wel­ches gleich­zei­tig durch ihn geschaf­fen wird, den Bereich des Gewis­sens und for­dert die Ein­wil­li­gung zur Frei­wil­lig­keit. Dadurch erst ent­steht die Mög­lich­keit zur Äch­tung auf Basis der Sozi­al­mo­ral. Die »eigen­wil­li­ge« Par­ti­zi­pa­ti­on ist ange­ra­ten. Und hin­ter die­sem Rat steht die enor­me Sug­ges­tiv­kraft zwei­er Insti­tu­tio­nen, wel­che für die heu­ti­ge Herr­schafts­ord­nung der­ma­ßen kon­sti­tu­tiv sind, dass sie eigent­lich iden­tisch mit die­ser gedacht wer­den kön­nen; Es han­delt sich frei­lich um die Medi­zin und den (bür­ger­li­chen) Jour­na­lis­mus. Ers­te­re schafft auf Basis der Ängst­lich­keit um die Selbst­er­hal­tung, wohin­ter sich auch die momen­ta­ne Arbeits­fä­hig­keit um jeden Preis ver­birgt, ein im Bewusst­sein stets gegen­wär­ti­ges Pri­mat der Gesund­heit, wel­ches letz­ten Endes nur der Erhal­tung der Medi­zin selbst zugu­te­kommt. Der hier ange­spro­che­ne Jour­na­lis­mus hin­ge­gen ist im Grun­de ein Kon­glo­me­rat aus Kleinst­po­li­ti­kern, die ihre Ambi­tio­nen dadurch ver­wirk­li­chen wol­len, dass sie ihren per­sön­li­chen Ansich­ten (oder gege­be­nen­falls den­je­ni­gen des Meist­bie­ten­den), den Anstrich der Objek­ti­vi­tät zu geben ver­ste­hen. Wir ver­ste­hen also war­um die­sen bei­den Insti­tu­tio­nen der Zwang der Mas­ke so genehm kommt und gar nicht fern liegt – durch die impli­zi­te Wir­kung ihres Zwan­ges, die schon in ihren heu­ti­gen Funk­tio­nen ange­legt ist, durch die Dar­stel­lung der Mas­ke als Teil eines Prin­zips, wel­ches zur Auf­recht­erhal­tung der sozia­len Ord­nung und der kör­per­li­chen und mora­li­schen Unver­sehrt­heit des an ihr teil­ha­ben­den Bür­gers wesent­lich ist, gelingt Medi­zin und Jour­na­lis­mus erneut auch ihre eige­ne Mas­kie­rung. Und es ist gera­de die­se sinist­re Mas­kie­rung, wel­che den fal­schen Anschein der wohl­mei­nen­den Mensch­lich­keit voll­endet – »Par­odie humaine«.

Die heu­ti­ge Pro­ble­ma­tik der Sou­ve­rä­ni­tät gestal­tet sich hin­ge­gen weit weni­ger ein­fach. Im Grun­de beläuft sie sich näm­lich auf eine Fra­ge der Ent­schei­dungs­fä­hig­keit, sowie einer Wil­lig­keit von eben­die­ser Fähig­keit Gebrauch zu machen. Die­se Fra­ge rich­tet sich zunächst und not­wen­dig an eine staats­po­li­ti­sche Ebe­ne; Sie spielt ihr Fra­gen auf die­ser Ebe­ne ab. Im uns betref­fen­den Fall der COVID-19 Pan­de­mie haben wir es aller­dings mit einem inter- bezie­hungs­wei­se trans­na­tio­na­len Rah­men zu tun, in wel­chem den ein­zel­nen Staa­ten zwar ein Hand­lungs­ge­bot zukommt[1], ohne dass aber die Aus­ma­ße eines sol­chen Han­delns genau kon­kre­ti­siert wer­den. Hier­durch ist den­sel­ben Staa­ten die Ent­schei­dungs­ge­walt über das Aus­maß von Son­der­re­ge­lun­gen im Wesent­li­chen nach Eige­nermes­sen gegeben.

Am Punkt die­ses »Eige­nermes­sens« kommt nun außer­dem die Kom­po­nen­te der jewei­li­gen Staats­in­ter­es­sen, noch genau­er aber der Eigen­in­ter­es­sen jener Poli­ti­ker, bezie­hungs­wei­se gan­zer poli­ti­scher Par­tei­en, wel­che den Staat füh­ren, ins Spiel. Es war bereits von der Zuge­hö­rig­keit des Jour­na­lis­mus und der Insti­tu­ti­on Medi­zin zur Herr­schafts­ord­nung, an wel­cher die Poli­tik eben­falls wesent­lich teil hat, deren Gesicht sie ist, die Rede; Es fehlt noch die Bedeu­tung der Wirt­schaft, oder spe­zi­fisch: Der Mono­pol­wirt­schaft. An die­ser Stel­le soll­te dadurch genug gesagt sein, auf Félix Guat­ta­ris Kon­zept eines »Inte­grier­ten Welt­ka­pi­ta­lis­mus«[2] hin­zu­wei­sen. Dass die ver­meint­lich lei­ten­de Staats­spit­ze selbst (oder gera­de) im Aus­nah­me­zu­stand wei­ter­hin den Aus­tausch mit ihren »Spen­dern« im Auge behält, dürf­te anhand der Cau­sa Hygie­ne Aus­tria, um nur das bekann­tes­te Bei­spiel zu nen­nen, jeder­mann ersicht­lich sein. Und die­ser Aus­tausch von Spen­den beläuft sich, wei­test­mög­lich her­un­ter­ge­bro­chen, auf die­ses ein­fa­che Prin­zip: Geld spen­det Macht, wel­che wie­der­um zurück­ge­spen­det wer­den kann.

All dies ist der heu­ti­gen Sou­ve­rä­ni­täts­pro­ble­ma­tik inhä­rent, und es stellt sich uns allen, den Teil­neh­mern an der Herr­schafts­ord­nung, wie auch den von die­ser Beherrsch­ten, damit gleich­zei­tig die Fra­ge in wel­cher Form mit den Ansprü­chen jener Men­schen umzu­ge­hen ist, wel­che die Ent­schei­dungs­fä­hig­keit, der sie Beherr­schen­den anzwei­felt, oder, dar­über hin­aus, nicht aner­kennt. Spre­chen wir es ruhig aus: In der libe­ra­len Demo­kra­tie, da das Macht­ge­fü­ge nicht durch einen expli­zi­ten, ein­zel­nen Reprä­sen­tan­ten (die sou­ve­rä­ne Per­son des Herr­schers) ver­steh­bar ist, ist die Sou­ve­rä­ni­tät eine Bewe­gung zwi­schen Akteu­ren. Aber die­se Akteu­re sind nicht etwa, oder sind nur ver­meint­lich, das Volk als Gan­zes. Die hypo­the­ti­sche Volks­sou­ve­rä­ni­tät, wel­che im Wahl­recht vor­ge­scho­ben wird, ist erneut die Mas­ke über einer immer auto­kra­ti­scher, da in sich, durch ein stei­gen­des psy­chisch-mora­li­sches und phy­sisch-gesund­heit­li­ches Kon­troll­po­ten­ti­al, voll­kom­me­ner wer­den­den Inter­es­sens­herr­schaft – der Inter­es­sen des Kapitals.

Auf die Sou­ve­rä­ni­täts­be­we­gung inner­halb der Herr­schen­den durch das Kapi­tal muss aber eine ande­re Bewe­gung ant­wor­ten: Die­se, es ist die­je­ni­ge der Gegen­sou­ve­rä­ni­tät, die die eigent­li­che Volks­sou­ve­rä­ni­tät ist, kon­sti­tu­iert sich auf ähn­li­che Wei­se, näm­lich auf Basis eines geteil­ten Berei­ches an Inter­es­sen; Und den­noch könn­te sie von jener Sou­ve­rä­ni­tät, wel­cher sie oppo­niert, nicht grund­le­gend ver­schie­de­ner sein, denn die Sou­ve­rä­ni­tät des Kapi­tals ent­springt dem Bestre­ben nach Eigen­tum, wäh­rend die Gegen­sou­ve­rä­ni­tät sich auf dem Prin­zip der kol­lek­ti­ven Frei­heit, die kei­ne Frei­heit der Märk­te, son­dern eine der Men­schen ist, grün­det. Das Bedürf­nis, durch wel­ches sich unse­re heu­ti­ge Bil­dung zu Gegen­sou­ve­rä­nen erklärt, ist zwar unmit­tel­bar mate­ri­el­ler, aber damit nicht weni­ger unmit­tel­bar inti­mer Natur. Man möch­te bei­na­he von einer Kom­pli­zen­schaft spre­chen. Die Gegen­sou­ve­rä­ne zei­gen sich in dem vom impli­zi­ten Zwang befrei­ten Volk, der Mas­se an Indi­vi­du­en, wel­che sich für einen Augen­blick der Geschich­te als kon­sti­tu­tiv bil­den­de und kon­struk­tiv bau­en­de Antei­le einer Ganz­heit­lich­keit ver­ste­hen, wor­in deren revo­lu­tio­när-explo­si­ves Poten­zi­al in einem phan­tas­ma­ti­schen Drang zur Unität ihrer Hand­lungs­er­mäch­ti­gung strebt.

Es ist letzt­lich wie­der­um die­se Hand­lungs­er­mäch­ti­gung zur innigs­ten, tief per­sön­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät, die das wesent­lich Wir­ken­de aller Gegen­sou­ve­rä­ne ermög­licht. Und gera­de die­ses Wir­ken wird durch die auf sozi­al­po­li­ti­scher wie auch auf öko­no­mi­scher Ebe­ne gel­ten­den Regle­men­tie­run­gen des Aus­nah­me­zu­stan­des als unmensch­lich, da unmo­ra­lisch, abge­ur­teilt. Die Ent­schei­dun­gen über den Aus­nah­me­zu­stand müs­sen sich auch auf ein Urteil dar­über erstre­cken, an wel­chen Punk­ten tat­säch­li­che Not­wen­dig­keit zur Hand­lung gebo­ten ist, und wor­in sich im Gegen­teil nur schnö­de, aus Inter­es­sen­ge­mein­schaf­ten resul­tie­ren­de öko­no­mi­sche und sozi­al­po­li­ti­sche Will­kür ver­steckt. Die Will­fäh­rig­keit der Staats­ge­walt, wel­che der Mono­poll­kar­tel­li­sie­rung und der medi­zi­ni­schen Macht­aus­wei­tung, der eben­so eine Pro­fit­ma­xi­mie­rung zugrun­de liegt, unter­steht, zeigt sich am Bei­spiel der heu­ti­gen Sou­ve­rä­ni­täts­pro­ble­ma­tik ein­deu­ti­ger denn jemals. Aber: Das Gefü­ge, aus dem sich auch der Staat zusam­men­setzt, ist bereits die Sou­ve­rä­ni­tät. Und die Gegen­sou­ve­rä­ni­tät besteht im Wesent­li­chen dar­in, dass sie die Bewe­gung ist, wel­che der Staats­sou­ve­rä­ni­tät sou­ve­rän ent­ge­gen­steht. Womög­lich kön­nen an sol­cher Stel­le eini­ge Zei­len Gior­gio Agam­bens den Grund die­ses Prin­zips bereits erhel­len, wenn er schreibt, »dass die Ein­be­zie­hung des nack­ten Lebens in den poli­ti­schen Bereich den ursprüng­li­chen – wenn auch ver­bor­ge­nen – Kern der sou­ve­rä­nen Macht bil­det. […] Indem der moder­ne Staat das bio­lo­gi­sche Leben ins Zen­trum sei­nes Kal­küls rückt, bringt er bloß das gehei­me Band wie­der ans Licht, das die Macht an das nack­te Leben bin­det, …«[3]

Wir kon­sta­tie­ren abschlie­ßend: Die Sou­ve­rä­ni­tät, gera­de in jener Gestalt, wie sie sich heu­te durch die Gegen­sou­ve­rä­ne dar­stellt, meint nicht zwangs­läu­fig die Erha­ben­heit über den Ande­ren, son­dern auch die Ent­ho­ben­heit von dem Zwang einer Ord­nung, die nur an sich selbst fest­hält. Und der Sinn unse­rer Ent­ho­ben­heit ist der­je­ni­ge, die Sou­ve­rä­ni­tät selbst durch Sou­ve­rä­ni­tät abzuschaffen.

Ver­wei­se

[1] Die­ses Zukom­men ent­steht frei­lich aus der Anbin­dung an ande­re Staa­ten, die bei­spiels­wei­se durch sol­che »regio­na­len« Insti­tu­tio­nen wie der EU oder glo­ba­len Insti­tu­tio­nen wie der UN gege­ben ist.

[2] Inte­grier­ter Welt­ka­pi­ta­lis­mus ist zu ver­ste­hen »als trans­na­tio­na­le, sich welt­weit ver­schär­fen­de Inte­gra­ti­on inter­na­tio­na­ler wirt­schaft­li­cher Bezie­hun­gen und ihrer Unter­ord­nung unter ein poly­zen­tri­sches, rigo­ros geplan­tes Kon­troll­pro­jekt.« (Félix Guat­ta­ri / Anto­nio Negri: Neue Räu­me der Frei­heit, S.67)

[3] Gior­gio Agam­ben: Homo sacer, S.16

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