- Karl Marx und Friedrich Engels gelten allgemein als fortschrittsgläubig.
- Kritiker entgegnen, dabei handele es sich um eine unwissenschaftliche Metatheorie, bzw. eine zu enge oder zu weite Definition des technischen Fortschritts.
- Michael Gaul diskutierte die Kritik vor dem Hintergrund der Marxschen Theorie des technischen Fortschritts im Kapitalismus.
- Er zeigt, dass allein die Kritik der Sraffa‐Schule, den Kapitalisten ginge es nicht um Fortschritt, sondern um Profit, theoretisch stichhaltig ist.
- Allerdings bestätige augerechnet das sraffianische Modell der Lohnkurven die Marxschen Prognosen.
Über Karl Marx und Friedrich Engels weiß man eines, wenn man auch sonst nichts weiß. Beide waren der Fortschrittsgläubigkeit verfallen. Die permanente Entwicklung und ständige Revolutionierung der Produktionsmittel war nach ihrer Auffassung der Motor der Geschichte. Das zu verteilende Mehrprodukt werde immer größer, bis es im Kapitalismus nur noch mittels eines riesigen Ideologie‐ und Gewaltapparates von den Arbeitern getrennt werden kann und im Kommunismus ein Leben ohne materielle Not garantiere. Dies wurde nicht zuletzt häufig moralisch gelesen. Marx habe ja dem Kapitalismus doch etwas Gutes abgewinnen können, nämlich eine enorme Modernisierung, entdecken die Liberalen. Umgekehrt wurde Marx aus linksradikalen Kreisen als nicht kritisch genug gegenüber dem Zerstörungspotential der kapitalistischen Produktionsweise angesehen. Dabei entbehrt der Marxsche Begriff des technischen Fortschritts jeder moralischen Bewertung. Er ist Fluch und Segen für die Bourgeoisie zugleich.
Michael Gaul hat in der Review of Radical Politcal Economics die Kritik am Marxschen Fortschrittsmodell einer gründlichen Revision unterzogen. Er zeigte, dass die meiste Kritik aus einem ungenügenden Verständnis der ökonomischen Theorie von Marx resultiert. Die fundierteren Einsprüche wiederum lassen sich empirisch widerlegen.
Marx und technischer Fortschritt
Die Theorie des technischen Fortschritts scheint untrennbar mit dem Werk von Karl Marx verbunden zu sein. Die Steigerung der Produktivkräfte sei es, welche die Produktionsverhältnisse über sich hinaus treibe und somit der Motor beständiger gesellschaftlicher Revolution sei. Die Begründung liegt auf der Hand. Eine einmal gewählte Produktionsweise, die sich als günstig herausgestellt hat, wird verallgemeinert und man nutzt nicht mehr die unproduktive Methode der Vergangenheit. Nach der Erfindung und breiten Anwendung des Traktors werden wenige Bauern freiwillig auf das Ochsengespann zurückgreifen.
Neben der Entwicklung der Produktivkräfte als allgemein historischer Tendenz, sicherlich unterbrochen von Phasen des geplanten oder ungeplanten Rückschritts, gibt es auch die ganz spezifische technische Entwicklung im Kapitalismus. Während in vorkapitalistischen Zeiten nur von einzelnen konkreten technischen Fortschritten gesprochen werden kann, bestimmte Gebrauchswerte in einer kürzeren Zeit oder mit weniger Ressourcen herzustellen, bietet erst die Warenform die begriffliche Voraussetzung eines universellen technischen Fortschritts. Erst im Kapitalismus ist der Bourgeois vor die Wahl gestellt, sein Kapital in die Verwohlfeilerung der Produktionsmittel oder in eine Ausweitung des Arbeitskrafteinsatzes zu investieren. Und da sich durch Geld konstantes und variables Kapital sektorenübergreifend vergleichen lassen, so lässt sich der technische Fortschritt auch allgemeinen daran messen, wie wenig durchschnittlich notwendige Arbeit zur Herstellung eines Tauschwerts aufgewendet werden muss. Im dritten Band des Kapitals führte Marx hierzu zwei Größen ein: die Wertzusammensetzung als eher qualitative Beschreibung des Verhältnisses von Maschinerie zu lebendiger Arbeit und die organische Zusammensetzung als Relation aus Kosten für die Produktionsmittel und die gekaufte Arbeit.
Marx begründet die Tendenz des beständigen technischen Fortschritts im Kapitalismus ganz konkret. Kann ein Kapitalist durch neue Maschinerie eine Ware mit weniger Arbeit herstellen lassen, so verkörpert sie auch einen geringeren Wert. Wenn der Rest der Kapitalisten noch mit der alten Produktionsweise produziert, ist deren Produktionspreis höher. Der entwickeltere Kapitalist kann also seine Ware günstiger anbieten oder einen Surplusprofit einstreichen und zwar solange, bis die anderen Kapitalisten die neue Produktionsweise übernommen haben, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Ist die neue Produktionsweise erst einmal verallgemeinert, verkörpert die Ware nur noch einen geringeren Anteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. So hat sich etwa der Preis von 1‑GB‐USB‐Sticks im letzten Jahrzehnt auf einen Bruchteil des ursprünglichen Preises reduziert. Da jedoch mit zunehmender Technisierung auch der Anteil lebendiger, mehrwertbildender Arbeit abnimmt, sinkt tendenziell auch die Profitrate.
Die Kritik an Marx
Nun hat es an dieser Voraussage von Marx allerlei Einspruch aus dem bürgerlichen Lager gegeben. Kritik 1 ist die Unterstellung, beim Marxschen Technikbegriff handele es sich um ein metaphysisches, geschichtsphilosophisches, teleologisches und deterministisches Konzept, das andere Einflussfaktoren ungebührend berücksichtige. Diese Kritik existiert dabei in zwei Fassungen und zwar einmal, dass es unwissenschaftlich sei, da es nicht falsifizierbar wäre oder dass die Theorie zwar falsifizierbar sei, aber eben auch falsifiziert werden könne. Dieser Vorwurf wird insbesondere aus der postmodernen und poststrukturalistischen Ecke der Philosophie geäußert, die individuelle Bewusstseinsformen wieder ins Zentrum der philosophischen und politischen Analyse rücken möchten. Ökologische Wissenschaftler halten hingegen Marxens Begriff des technischen Fortschritts für zu eng gefasst, da er Aspekte wie die Verringerung des Material‐ und Energiebedarfs nicht mit erfasse. Viele bürgerliche Ökonom hingegen sahen Marxens Begriff eher zu weit gefasst. Marx würde unter technischem Fortschritt nur die Erhöhung der Arbeitsproduktivität erfassen, obwohl der Begriff eigentlich auch die Kapitalproduktivität erfassen müsste beziehungsweise das Kapital als unabhängigen Faktor behandeln müsse.
Die an Pierro Sraffa anschließende ökonomische Schule kritisierte Marx in besonderer Weise. Sraffa gilt als Ökonom, der die marxistische Kritik der politischen Ökonomie so modifizieren wollte, dass sie an andere Theorien heterodoxer Ökonomen anschlussfähig wäre. Diese Schule sagt, dass die Bourgeoisie nicht den technischen Fortschritt zum Ziel habe, sondern die Profitmaximierung. Wenn sich durch geringeren Produktionsmitteleinsatz ein höherer Profit erzielen lasse, dann würde diese Technik auch genutzt.
Erste Erwiderungen
Die Kritik an der Metaphilosophie kann insofern ausgehebelt werden, als sie auf die Spekulation über vorkapitalistische Gesellschaften beschränkt bleibt. Ohne die Arbeitswerte vergleichende Form der Waren ist es tatsächlich schwer einen allgemeinen Begriff des technischen Fortschritts oder der Entwicklung der Produktivkräfte zu bilden, der nicht nur als Summe der Einzelphänomene aufzufassen wäre (zum Beispiel Buchdruck und Dreifelderwirtschaft als Ausdruck eines ihnen gemeinsamen technischen Fortschritts aufzufassen). Im Kapitalismus vergleicht das Kapital aber selbst verschiedene Produktionsweisen und wenn der Buchdruck produktiver arbeitet als die Landwirtschaft, sucht sich das Kapital die entsprechende Anlagemöglichkeit. Insofern ist spätestens mit der konkreten Kritik der kapitalistischen Ökonomie nicht mehr von einer Metaphilosophie zu sprechen, sondern von einer untersuchbaren Größe im Ausdruck der organischen Zusammensetzung.
Die ökologische Kritik verfehlt wiederum den Punkt, dass Marx ja selbst eine Kritik der bürgerlichen Ökonomie verfasst hat. Marx behauptet nicht, dass eine möglichst große Produktivität als allgemein menschlicher Fortschritt aufzufassen wäre, sondern dass es die Form des Fortschritts ist, an welcher die Bourgeoisie als herrschende Klasse ein Interesse hat. Der Sozialismus und Kommunismus zeichnen sich ja gerade dadurch gegenüber dem Kapitalismus aus, dass die Produktivkraftentwicklung nicht mehr von den Kapitalinteressen bestimmt ist. Wenn Marx also den Begriff des technischen Fortschritts zu eng zieht, dann, weil die herrschende Klasse ihn auf Grund ihrer Unterwerfung unter die Profitproduktion zu eng zieht.
Der Kritik an einer fehlenden Berücksichtigung der Kapitalproduktivität beziehungsweise des Kapitals als eigenem Produktionsfaktor unterliegt wiederum dem prinzipiellen Irrtum der bürgerlichen Ökonomen, Kapital könnte ohne Arbeit irgendetwas vermehren oder produzieren. Damit wird die Kritik nicht mehr eine des Marxschen Fortschrittsbegriffs, sondern eine der gesamten Marxschen Theorie. Eine gesonderte Kritik am Begriff des technischen Fortschritts bei Marx wäre damit zirkulär, da sie die Falsifikation der Marxschen Theorie zum Ausgangspunkt nimmt und damit als Falsifizierungsmittel nicht mehr geeignet ist.
Die Lohnkurve
Nicht mehr ganz so einfach ist die Erwiderung der Kritik der Postsraffisten. Um dem Argument, Kapitalisten würden auf die Profitmaximierung schauen und nicht auf die Maximierung der Produktivität, zu begegnen, muss man zu deren eigenen Voraussetzungen vordringen. Die konsensuell geteilte Auffassung einer Definition der Steigerung des technischen Fortschritts ist die Vergrößerung der Fläche unter der Lohn‐Profit‐Kurve. Die Lohn‐Profit‐Kurve ist ein theoretisches Modell, in dem die Arbeitsproduktivität über der Profitrate abgetragen wird:
Die Idee der Kurve ist folgende. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die eine einzige Ware produziere, zum Beispiel. Getreide. Dann ist a im Diagramm der Anteil des Getreides, der als Saatgut verwendet wird und repräsentiert somit die Produktionsmittel. l ist der Quotient aus verrichteter durchschnittlicher Arbeitszeit und Gesamtgetreide (zum Beispiel 100 h/10 t). Da in einer kapitalistischen Gesellschaft alle Waren als Gallerten abstrakter Arbeit aufgefasst werden können, können verschiedene Waren in ihren Werten verglichen werden und die Kurve somit auf eine Gesellschaft, die viele Waren herstellt, übertragen werden. W als Maß für die Arbeitsproduktivität steigt nach der im Bild angegebenen Definition, wenn die benötigte Arbeit weniger wird und der Profit R steigt, wenn die aufgewendeten Produktionsmittel im Vergleich zum erzielten Getreide weniger werden. In dieser Theorie lässt sich dann technischer Fortschritt auf verschiedene Arten repräsentieren:
Wenn nur weniger Arbeitszeit verwendet wird, aber genauso viele Produktionsmittel wie vorher gebraucht werden, dann erhöht sich nur der Schnittpunkt mit der W‑Achse. Die Fläche unter dem Diagramm steigt und wir haben einen arbeitssparenden technischen Fortschritt. Wenn genauso viel Arbeitszeit benötigt wird, aber weniger Produktionsmittel verbraucht werden, dann wird die Kurve flacher aber schneidet beide Achsen an einem höheren Punkt, da a in w ebenfalls enthalten ist. Dies nennt man kapitalsparenden technischen Fortschritt. Viele technische Erneuerungen sparen jedoch sowohl Material als auch Arbeitszeit ein (dritte Kurve). Man kann sich auch Erneuerungen vorstellen, welche zwar mehr Arbeit benötigen, aber Produktionsmittel sparen (Kurve 5).
Karl Marx himself ging vom vierten Fall als dem vorherrschenden aus. Das Kapital investiere immer mehr in die Produktionsmittel, um lebendige Arbeit zu ersetzen. Die organische Zusammensetzung erhöhe sich tendenziell immer weiter durch die oben beschriebenen Prozesse. In der Lohnkurve ist auch ein zweiter bekannter Effekt zu sehen. Wenn die organische Zusammensetzung erhöht wird, dann sinkt die gesamtgesellschaftliche Durchschnittsprofitrate. Die Postsraffaistten gingen hingegen davon aus, dass neue Technologien neue Erwerbszweige schaffen, welche die gesellschaftliche Gesamtarbeitszeit erhöhen. Damit wären gleichbleibende Profitraten bei technischer Neuerung theoretisch zu begründen. Beim Marx würde sich die Kurve also wie links und bei den Postsraffaist wie rechts verschieben.
Beide Positionen sind theoretisch begründbar. Es lässt sich daher nur empirisch überprüfen, welcher Fall in der globalen Ökonomie nun vorliegt.
Empirische Resultate
Michael Gaul hat nun die Lohnkurven von 13 Ländern in ihrer zeitlichen Entwicklung untersucht. Die Daten wurden aus Input‐Output‐Tabellen der verschiedenen Volkswirtschaften generiert. Als Beispiel sei hier die Entwicklung von W und R in Deutschland seit 2000 aufgezeigt. Für alle anderen Kurven sei ein Blick in das Originalpaper empfohlen, wenn eine wissenschaftliche Bibliothek in der Nähe ist und/oder ihr Zugang zu den großen wissenschaftlichen Bibliotheken wie SAGE habt.
Es ist deutlich zu erkennen, wie seit 2000 die Arbeitsproduktivität W konstant zu‐ und die Profitrate R konstant abnimmt. Das entspricht genau der Voraussage von Karl Marx. Die Substitution von lebendiger Arbeit durch Produktionsmittel, die sich im Anstieg von W widerspiegelt, lässt sich ausnahmslos in allen Ländern beobachten. Die Profitraten verhalten sich Belgien, Dänemark, Finnland, Österreich, Frankreich, die Niederlande, Norwegen und Großbritannien weitestgehend äquivalent zum dargestellten Fall. In Ungarn, den USA, der Slowakei und Spanien gibt es hingegen größere Variationen. Damit legt die Empirie nahe, dass die Kritik der Postsraffaisten zwar theoretisch eine Möglichkeit darstellt, in der Empirie jedoch nicht nachgewiesen kann. Man muss natürlich ergänzen, dass die Profitratenbestimmung nach Sraffa eine etwas andere ist, als die von Marx, aber hier wurde seine Schule mit ihren eigenen Waffen geschlagen.
Zusammenfassung
Wie Michael Gaul zeigt, lässt sich der Großteil der bürgerlichen Kritik an Marxschen Vorstellung vom technischen Fortschritt theoretisch nicht halten. Die theoretisch stichhaltige Kritik der Postsraffaisten hingegen ist empirisch nicht haltbar. Die Grenzen der empirischen Untersuchung benennt Gaul dabei selbst. Erstens berücksichtigen Lohnkurven in der Regel nicht das fixe Kapital, sondern analysieren nur jene Wertbestandteile, die innerhalb einer Zirkulationsperiode verbraucht werden. Zweitens rechnen Input‐Output‐Tabellen auf nationaler Ebene in monetären Werten und nicht in physischen, wie es Sraffa bei seinem Lohnkurvenmodell voraussetzte. Damit werden drittens auch die verschiedenen Dimensionen der technischen Veränderung geglättet und die Input‐Output‐Tabellen geben nur hochaggregierte Werte wider. Und viertens beeinflusst zwar die technische Entwicklung die Lohnkurven, aber diese können durchaus noch von anderen Parametern abhängig sein, wie das abweichende Verhalten einiger Profitraten begreiflich macht.
An diesen Mängeln der empirischen Untersuchung leiden jedoch die Kritiker am Marxschen Begriff des technischen Fortschritts aus der Schule Sraffas nicht weniger. Hier wäre es natürlich unredlich, bei der Bestätigung von Marxens Theorie auf die methodischen Mängel zu verweisen, diese jedoch bei der Kritik an Marx zu unterschlagen. Bei Gleichheit der methodischen Waffen gibt es jedenfalls wenig Veranlassung dazu, die Vorhersage Marx als empirisch widerlegt anzusehen. Die Daten sprechen stark für ihn.
Literatur:
Gaul, M. (2023): A Discussion of Marx’s Account of Technical Progress by Means of Wage Curves and Their Historical Evolution. In: Review of Radical Political Economics. Online First. DOI: 10.1177/04866134231188585.
Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz, im Gegensatz zum Original wurde auf gendern nach Rücksprache mit den Autoren verzichtet
Bild: Erich Westendarp auf Pixabay