Vielleicht ist Prigoschin einfach nur sehr gestresst?

Russische Experten sagen, Prigoschin spreche das Offensichtliche aus, während westliche »alternative Medien« darauf bestehen, dass er nur gestresst sei und eine Pause brauche. Irgendwo gibt es hier eine Lehre zu ziehen.

Jewgeni Prigoschin beschuldigt Russlands oberste Militärs der schamlosen Inkompetenz und des glatten Verrats. Er behauptet, eine anhaltende Kampagne politischer Intrigen habe zu einem Granatenhunger an der Front geführt, der unhaltbare Verluste zur Folge habe. Da Wagner keine Munition mehr habe, werde er gezwungen sein, sich am 10. Mai aus Bakhmut zurückzuziehen, so Prigoschin.

Was ist von all dem zu halten? Es ist sehr beunruhigend. Aber keine Sorge. The Duran hat eine Notfall‐​Gruppentherapiesitzung einberufen:

  • »Es gibt viele Theorien… Ich habe meine eigene Theorie, und ich sage nur, dass ich glaube, dass Prigoschin eine kleine Auszeit nehmen muss. Das ist meine eigene Meinung dazu.«
  • »Ich denke, der Mann steht unter extremem Stress, und das schon seit sehr langer Zeit… Er ist eindeutig am Ende seiner Kräfte.«
  • »Er ist erschöpft, er ist völlig gestresst… Ich glaube, er verliert den Überblick über das, was er tut.«
  • »Er hat eindeutig die Kontrolle über das verloren, was er sagt und tut, und er braucht eine Pause.«
  • »Er ist ein Zivilist in Bakhmut, in einem Kriegsgebiet, und das ist wahrscheinlich ein Ort, an dem ein Zivilist, selbst ein milliardenschwerer Gründer von Wagner, nicht allzu viel Zeit verbringen sollte. Denn nach einer Weile wirkt sich das natürlich auch auf einen selbst aus.«

Dreißig Minuten lang schwadroniert The Duran über Prigoschins psychischen Zustand, ohne auf einen einzigen seiner Vorwürfe einzugehen.

Es wird nichts über den gut dokumentierten Granatenhunger gesagt; es wird über nichts gesagt, wirklich nichts. (Etwa bei Minute 2:30 eilt Alexander Mercouris durch ein paar sorgfältig ausgewählte Aufzählungspunkte, die er ganz offensichtlich aus Rolos Aufzeichnung von Prigoschins Interview mit Semyon Pegov entnommen hat – ohne Rolo zu zitieren.)

Prigoschin ist einfach am Ende seiner Kräfte und braucht eine nette kleine Pause. Der Fall ist abgeschlossen.

Dann, in den letzten Sekunden des Videos, platzt Mercouris heraus: »Ich lehne nicht alles ab, was er [Prigoschin] gesagt hat, aber ich denke, es ist Zeit für ihn zu gehen.« Nun, was hat er gesagt? Und diese Dinge, die er gesagt hat – und die nach 30 Minuten Ausflüchten nicht mehr sinnvoll diskutiert werden, aber auch nicht abgewertet werden sollten – sind sie zutreffend? Wo ist der Kontext? Wo ist die »Analyse«?

Da wir von The Duran keine klare Antwort bekommen, fragen wir die russischen Medien. Beginnen wir mit Svobodnaya Pressa (Freie Presse), einer patriotischen, pro‐​SMO russischen Ausgabe mit sozialistischen/​kommunistischen Tendenzen.

Quelle

»Alles, was hier gesagt wurde [über Prigoschins Streitigkeiten mit dem Verteidigungsministerium], ist leider schon lange keine Neuigkeit mehr«, schreibt Sergej Ischenko. Dann tut Ischenko etwas wirklich Unerwartetes: Er liefert eine detaillierte Abschrift all dessen, was Prigozhin gesagt hat! Nachdem er Prigoschins düstere Warnungen und Anschuldigungen durchforstet hat, kommt der Autor zu dem Schluss:

Das erste, was einem nach der Lektüre dieses Interviews mit dem Wagner‐​Chef in den Sinn kommt, ist: ›Das kann doch nicht sein! Sicherlich übertreibt Prigozhin!‹

Okay, so sei es. Aber in jedem Fall sind die Behörden einfach verpflichtet auf diesen für die russischen Generäle, und persönlich für Schoigu und Gerasimow, einfach verheerenden Text sofort und öffentlich zu reagieren.

Nehmen wir an, Prigoschin rastet völlig aus und beginnt, die Armeeführung bösartig zu verleumden und sie schwerster Verfehlungen zu beschuldigen. [Sollte man ihn dann nicht wegen Verunglimpfung der russischen Streitkräfte anklagen? […]

Aber wenn Prigoschin nicht vor Gericht gestellt wird (und aus irgendeinem Grund sieht es so aus, als würde er nicht vor Gericht gestellt werden), was sollen wir Normalsterblichen dann denken? Dass der Anführer der Wagneriten im Recht ist? Dass das Schicksal Russlands bereits buchstäblich am seidenen Faden hängt?

Um es zusammenzufassen: Prigoschins Probleme mit Schoigu und Gerassimow sind allgemein bekannt. Wenn er also nicht in ein Arbeitslager geschickt wird, weil er das russische Militär diskreditiert hat, läuft vielleicht wirklich nicht alles nach Plan.

Svobodnaya Pressa folgte mit einem Artikel über die zügellose Korruption in der russischen Verteidigungsindustrie, die nach Ansicht des Autors dazu geführt hat, dass die russischen Soldaten nicht ausreichend ausgerüstet sind.

Quelle

Wenden wir uns an Voyennoye Obozreniye (»Militärische Revue«), Russlands beliebtestes militärisches Nachrichtenportal. Die Website wird von pro‐​militärischen Turbo‐​Patrioten herausgegeben, die einhellig der Meinung sind, dass die Ukraine nicht existieren sollte.

Also, Voyennoye Obozreniye, sagen Sie es uns: Ist Prigoschin außer Rand und Band?

Ich hörte ruhig und aufmerksam einem anderthalbstündigen Gespräch zwischen Pegow und Prigoschin und seinen Kameraden zu. Zweimal. Wenn wir die Emotionen und die obszöne Sprache beiseite lassen, dann stimmen wir mit 90 Prozent von dem überein, was er [Prigoschin] gesagt hat.

Fangen wir am Ende an, denn am Ende seiner Rede formulierte Prigozhin das, worüber er und seine Mitstreiter eineinhalb Stunden lang gesprochen hatten. Und ich muss sagen, dass dies nicht die angenehmsten Themen sind, die man ansprechen kann.

1. Die Armee muss mit Granaten kämpfen.
2. Die Armee muss mit normaler Kontrolle kämpfen.
3. Alle Militärbürokraten des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation müssen sich an die Front begeben, um die Realität der Situation zu verstehen.
4. Hören Sie auf, sich selbst und alle anderen zu belügen, reduzieren Sie die Propaganda, schätzen Sie den Feind normal ein und verstehen Sie, dass es eine Gegenoffensive geben wird. Und die kann für Russland zu einer Tragödie werden. […]

Dass an der Spitze unseres Militärs Angeber und Lügner sitzen, ist seit langem klar. Das ukrainische Militär, das nach Berichten unseres Verteidigungsministeriums immer wieder zerstört wurde, erhebt sich wie ein Phönix aus der Asche und leistet weiter Widerstand. […]

Das Management beginnt wirklich in den Schützengräben und endet in den Büros der Region Moskau. Und vice versa. Und beide Linien müssen wie ein Uhrwerk funktionieren. Aber leider zeigt die Entwicklung der russischen Armee in den letzten 30 Jahren, dass alles ganz anders ist, als [das russische Verteidigungsministerium] sagt. […]

Ich würde mir wünschen, dass Prigoschins harsche Kritik zumindest einen minimalen Einfluss auf den bürokratischen Sumpf der russischen Realität hat. […]

Prigoschin hat viele interessante Dinge gesagt, die mit unserem Standpunkt übereinstimmen. Natürlich geht er in mancher Hinsicht zu weit – Russland wird nicht ohne Granaten sterben, aber es wird einfach Teile der Regionen Cherson, Saporoschje, Donezk und Luhansk verlieren.

Aber verdammt noch mal, gebt WAGNER GESCHOSSE!!!

Sie wollen also sagen, dass es nicht stressbedingt ist? Nun ein paar Worte von dem altgedienten Militärblogger »DonRF«:

Es gibt nur zwei Möglichkeiten – Herr Prigoschin hat Recht, wenn er über Menschen mit Nachnamen, die den Namen des Verteidigungsministers und des Generalstabschefs ähneln, und über deren Kinder schlecht redet. Oder er hat Unrecht. Das ist alles.

Wenn er Recht hat, wenn dies die aufrichtigen Worte eines älteren Mannes sind, der jeden Tag seine Angestellten beerdigt, dann muss der Oberste Befehlshaber dringend etwas unternehmen. […]

Wenn er sich irrt, dann muss er heute verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt werden. Wie Sie sehen, ist alles ganz einfach.

Aber ich wollte eigentlich über etwas anderes sprechen, neben den Jungs vom PMC Wagner, die Helden sind, ohne Bedingungen, gibt es noch andere Jungs – Jungs in der russischen Armee. Ein Bericht von der Front: #Schwere Kämpfe haben sich in Richtung Ugledar verschärft. Befehlshaber aus dem Feld berichten, dass die Lage schwierig, aber unter Kontrolle ist. Es gab keinen Durchbruch. Und ja, mehr Granaten würden nicht schaden.‹

Dies deutet auf eine Art SYSTEMISCHES Problem mit Granatenhunger hin.

DonRF ist ein wenig frech, denn er weiß, dass der Granatenhunger ein systemisches Problem ist, denn er hat in den letzten zwölf Monaten wiederholt darüber geschrieben.

Ein paar abschließende Gedanken. Warum ist die westliche Berichterstattung über diesen Krieg unvereinbar mit den Kommentaren, die aus Russland kommen?

Die Russen, die für Voyennoye Obozreniye schreiben (und die Dutzenden anderer Websites und Telegram‐​Kanäle, die eine Warnung nach der anderen zu diesem zunehmend bizarren und tragischen Konflikt herausgegeben haben), haben viel mehr zu verlieren als westliche Experten, wenn die Dinge schief gehen. Sollte uns das nicht zu denken geben?

Ich verstehe einfach nicht, warum es so gut wie keine Überschneidungen zwischen dem gibt, was westliche »alternative Medien« sagen, und dem, was russische »alternative Medien« sagen. Es sind zwei getrennte Welten. Die Kluft zwischen diesen beiden Medienräumen ist so groß, dass es fast so aussieht, als würden sie über zwei verschiedene Kriege sprechen. Und das tun sie auch. Das Problem ist nur, dass nur einer dieser Kriege tatsächlich existiert. Welcher ist es?

Ich möchte The Duran nicht herausgreifen (das Problem ist allgegenwärtig), und verzeihen Sie mir meine kleinen Sticheleien. Alles, was ich verlange, ist ein gleiches Spielfeld, auf dem wir alle zusammenarbeiten können, in gutem Glauben und guter Laune, um die schwer zu beantwortende Frage zu beantworten: Was zum Teufel ist in der Ukraine los?

Ein Teil dieses Prozesses muss Perspektiven von patriotischen Russen einschließen, die nicht auf der Gehaltsliste des Kremls stehen. Tut mir leid, aber das sind die Regeln. Ich habe keine Ahnung, was als nächstes passieren wird. Vielleicht waren Prigoschins Ausbrüche wirklich ein 5D‐​Psyop, und er wird morgen Bakhmut übernehmen. Wer weiß das schon?

Eines weiß ich jedoch: Die Ansichten derjenigen zu ignorieren, die am meisten zu verlieren haben, ist höchst unklug.

Ihr Korrespondent machte diese Feststellung vor mehr als einem Jahr, im April 2022:

Unter den Befürwortern von Russlands »spezieller Militäroperation« in der Ukraine haben sich zwei unterschiedliche Lager herausgebildet.

Im Großen und Ganzen ist die »pro‐​russische« englischsprachige Fachliteratur weiterhin so fröhlich wie in den frühen Morgenstunden des 24. Februar: Alles läuft nach Plan, Putin säubert die fünfte Kolonne, der Sieg steht unmittelbar bevor, usw.

Ein sehr ähnliches Narrativ war unter den pro‐​militärischen, »patriotischen« Kommentatoren in Russland während des ersten Monats des Konflikts vorherrschend (wahrscheinlich nahezu einhellig).

Anfang April jedoch begannen sich die russischsprachigen Kommentatoren der »Sonderoperation« mit der Tatsache abzufinden, dass es keine rasche, entscheidende Lösung geben würde. In Russland räumen glühende Befürworter des Konflikts ein, dass ihr Land schlecht auf einen langwierigen Krieg gegen den kollektiven Westen vorbereitet ist. Einige fordern nun, dass Russland in den Kriegszustand übergehen soll: ›Alles für die Front.‹

Russische Kommentatoren warnen nun, dass eine Mobilisierung notwendig sei, um ein Szenario zu vermeiden, in dem ein stark militarisiertes und für immer feindseliges ›Anti‐​Russland‹ an Russlands Grenze verbleibt – was Putin angeblich verhindern wollte.

Ja, das war im April 2022, als sich die westlichen »Alternativmedien« einig waren, dass das ukrainische Militär am Rande des Zusammenbruchs stand und die bloße Andeutung, Russland solle mobilisieren, als absurd und extrem schädlich galt.

Vielleicht ist es an der Zeit, sich neu zu orientieren? Besser spät als nie.

Zuerst in englisch erschienen im Substack von Edward Slavsquat: https://​edwardslavsquat​.substack​.com/

Bild: Übernommen von Edward Slavsquat, der das Bild untertitelt mit »Er hört sich erbost an«

Nachbemerkung der Redaktion: Inzwischen wurde folgendes bekannt, was Slavsquats Überlegungen bestätigt. So berichtet der Telegramkanal Bürgerinitiative für Frieden, dass »der Leiter der privaten russischen Militärfirma Wagner, Prigoschin, vermeldete, dass Wagner vom russischen Verteidigungsministerium zum ersten mal eine offizielle Anordnung erhalten habe, mit der Zusicherung dass die Wagner‐​Einheiten ausreichend Munition und Waffen zur Verfügung gestellt bekommen werden, dass alle Flanken von der russischen Armee in ausreichenden Maße abgesichert werden und dass die Gruppe Wagner in der umkämpften Donbass‐​Stadt Artemovsk (Bachmut) eigenständig so vorgehen kann wie man es für notwendig erachtet um bei der Erstürmung erfolgreich zu sein. Zudem werde der russische General Surowikin vom russischen Verteidigungsministerium als Verbindungsmann und Kommandeur zur Seite gestellt.«

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