Seit dem Scheitern der ukrainischen Offensive im Sommer des vergangenen Jahres sind die Meinungsmacher des Westens in Unruhe geraten. Bestimmte zu Beginn des Krieges noch Überheblichkeit die Haltung gegenüber Russland, so geht heute die Angst um. Beides aber sind Ausgeburten eines Denkens, das sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt hat.
Überheblichkeit und Verzweiflung
»Wenn die EU nicht richtig reagiert und die Ukraine nicht ausreichend unterstützt, um Russland aufzuhalten, sind wir die Nächsten.«(1) Das ist die Einschätzung der Lage durch Charles Michel, den Präsidenten des Europäischen Rates. Immerhin handelt es sich bei Michel um einen führenden europäischen Politiker und nicht um einen hinterwäldlerischen Stammtischbruder aus irgendeinem Provinzkaff hinter dem Mond.
Doch mit diesen Befürchtungen steht Michel nicht alleine da, wie die sich überschlagenden Kommentare in den Medien über Russlands Pläne und Putins Absichten belegen. Angesichts des Mangels an Munition, Waffen und Soldaten scheinen alle von Panik ergriffen zu sein, dass die Ukraine dem Vordringen Russlands nicht mehr lange standhalten könnte. Diese Vorstellung von Bedrohung entspringt dem eigenen Denken und Handeln. Denn wo immer ein Gegner des Westens Schwäche zeigt, wird nicht nachgelassen, bis dieser in die Knie gezwungen ist.
Dass natürlich auch Putin und Russland so handeln werden, ist deshalb in den Augen der westlichen Meinungsmacher selbstverständlich. Da der Westen über Jahrzehnte gewohnt war, dass sich sein Denken weltweit durchsetzt und zu einem globalen Maßstab geworden ist, kann es nach seiner Sicht gar nicht anders sein, als dass dieselben Überlegungen auch Russlands Handeln bestimmen. Wie sollte es also anders sein, als dass Putin die derzeitige Schwäche des Westen nutzt, um ihm früheren Wortbruch nun mit doppelter Münzen heimzuzahlen?
Eine Erklärung für die Verbreitung solcher wirklichkeitsfernen Sichtweisen besteht in der bewussten Täuschung der Öffentlichkeit. Eine andere aber ist die Verblendung. Man will die Wirklichkeit nicht wahrhaben, ist verfangen im eigenen Weltbild. Denn die Kehrseite dieser nun eingetretenen Panik ist die Überheblichkeit des Westens zu Beginn des Krieges, als man Russland als eine Tankstelle mit Atomwaffen belächelte. Panik jetzt wie die Verachtung vorher sind die zwei Seiten derselben Medaille: das Ausblenden der Wirklichkeit.
In der westlichen Welt bedeuten Erfahrung und Wirklichkeitsnähe nicht mehr viel. Ganz oben im Kurs stehen Ideen, Konzepte, Visionen, alles, was mit Intellekt und Wissenschaftlichkeit, also mit Geist im weitesten Sinne zu tun hat. Dagegen ist Wirklichkeit langweilig, und zudem macht es Arbeit, sie verstehen zu wollen. Langeweile und Anstrengung haben im westlichen Weltbild kein hohes Ansehen.
Bedrohliche Wirklichkeit
Entsetzt musste der gelernte Philosoph Habeck, also ein Mann des Geistes, vor einiger Zeit feststellen: »Wir sind umzingelt von Wirklichkeit«(2). Aber die Bedrohung, die Habeck und viele Seinesgleichen sehen, kommt nicht aus der Wirklichkeit selbst, sondern aus ihrer Leugnung. Wer die Sicherheitsinteressen Russlands nicht wahrhaben will und glaubt, sie beiseite schieben zu können, darf sich nicht wundern, wenn Russland diesen seinen Sicherheitsinteressen Geltung verschaffen will. Denn warum sollten die Russen ihre eigenen Interessen geringer schätzen als die des Westens?
Letzterer war es Jahrzehnte lang gewohnt, dass sich aufgrund seiner wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit, alles in der Welt nach seinen Interessen richtete. Dass sich das nun ändert, will man noch nicht wahrhaben. So glaubt man noch immer als diejenigen auftreten zu können, die die Regeln in der Welt setzen, anderen Völkern Vorschriften machen und sie entsprechend den eigenen Moralvorstellungen belehren und maßregeln zu können.
So verwundert es nicht, dass die Wahlen in Russland nur als Scheinwahlen angesehen werden, weil es dort kaum politische Kräfte gibt, die sich für die sogenannten westlichen Werte einsetzen. Dementsprechend sind auch die anderen Bewerber keine wirkliche Opposition sondern kremlnah, weil sie keine anderen Werte vertreten als die politische Führung Russlands auch.
Anscheinend aber sind solche Kritiker schon nicht mehr in der Lage zu erkennen, dass auch im Westen die meisten Parteien sich den sogenannten westlichen Werten verpflichtet fühlen. Wie keine der westlichen Parteien den Aufbau eines Gesellschaftssystems betreibt, das sich an Russland oder China orientiert, so vertritt keine russische Partei die Übertragung westlicher Vorstellungen auf die eigene Gesellschaft. Ganz selbstverständlich aber erwartet der politische Westen von anderen Gesellschaften, was er für denen eigenen Hoheitsbereich rundweg ablehnen würde.
Einfache Weltbilder
In diese einseitige Sicht passt auch nicht die Vorstellung, dass die Russen ihrem Präsidenten nicht so ablehnend gegenüber stehen, wie der Westen es für richtig hält. Man kann es sich nur so erklären: »Das Volk ist erfolgreich eingeschüchtert worden. Nichts scheint den Putin‐Monolithen erschüttern zu können«(3). In einer solchen Sicht sind die Russen unfähig, ihre Lage zu erkennen, oder zu feige, um die nach westlicher Sicht richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und zu handeln.
Dazu scheinen sie offenbar der Denkanstöße vonseiten westlicher Intellektueller zu bedürfen. So stellt der Kommentator der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Reinhard Veser, angesichts der Gegenstimmen bei der Wahl fest, »dass die russische Bevölkerung nicht so geschlossen hinter Putin und seinem Krieg gegen die Ukraine steht«(4). Will er damit der russischen Opposition Mut machen oder eher die eigene Leserschaft beruhigen, dass Putin doch nicht so fest im Sattel sitzt?
Glaubt Veser in seinem einfachen Russenbild, dass alle mit Putin einer Meinung sein müssen, weil nach seiner Sichtweise die Russen sich keine eigene bilden können? Oder ist er gar so verblendet zu glauben, dass man einem gebildeten Volk wie den Russen, das zu großen Teilen die Welt bereist hat, eine Weltsicht aufzwingen kann, obwohl es eine andere Welt gesehen hat? Solche Äußerungen sagen weniger über die Russen aus als über das Bild, das sich die Veser von ihnen machen.
So gibt er denn auch vor zu wissen – vermutlich besser als jeder Russe, was für dieses Land und seine Menschen das Beste wäre. Getrieben von Weltuntergangsphantasien, prophezeit er, dass sich in der Ukraine »das Schicksal Europas auf lange Zeit«(5) entscheidet, was er aber nicht ausführt. Und als bestens informierter Intellektueller weiß er natürlich auch, »ein Scheitern Putin dort [Ukraine] wäre auch für Russland das Beste«(6). So einfach kann sich die Welt machen, wer die Tatsachen nicht wahrhaben will.
Ein weiterer Kommentator der FAZ, Jochen Stanke, zeigt sich überrascht darüber, dass »auch die schärferen Ermahnungen aus Europa gegen China wenig Wirkung zeigen«(7) und das Land die Zusammenarbeit mit Russland verstärkt. Wieso sollte sich China von Europa ermahnen lassen? Würde sich Europa von China solches Verhalten gefallen lassen? Da ist die Überheblichkeit schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird.
Denn andererseits stellt Stanke in seinem Artikel fest, dass sich der Handel zwischen Russland und China sehr positiv entwickelt und neue Rekorde erreicht. Wieso ist er dann überrascht, dass die beiden Länder ihre Zusammenarbeit vertiefen und sich von Dritten nicht wollen reinreden lassen, schon gar nicht von ihren gemeinsamen Gegnern?
Dabei hat er doch die Informationen darüber, wie der politische Westen nicht nur Russland sanktioniert. Dieser versucht doch auch seit Jahren, Chinas Entwicklung durch Sanktionen und protektionistische Maßnahmen zu behindern, mischt sich in dessen innere Angelegenheiten ein und redet offen von einem unvermeidlichen Krieg. Was liegt da näher für China und Russland, als sich anzunähern gegen einen Westen, der sie beide bedroht? Das ist doch ganz normale und vernünftige Reaktion. Aber Stankes Weltbild scheint, solch ein Handeln nicht zu verstehen oder für unangemessen zu halten.
Die große Kunst
Wieso aber verstehen die Stanke, Veser und all die anderen Meinungsmacher in Medien und Politik das nicht? Fehlt es ihnen an Intelligenz? Sind sie gekauft und korrupt? Natürlich werden sie für ihre Kommentare bezahlt, so wie jeder andere für seine Arbeit bezahlt wird. Aber deshalb sind sie nicht korrupter als alle anderen, die für ihre Arbeit bezahlt werden. Sie tun es nicht allein wegen des Geldes. Sie sind überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben.
Das aber ist es, was viele der Mainstream‐Kritiker nicht verstehen. Sie glauben, dass all jene, die anders denken als sie selbst, korrupt sind, käuflich und anders reden, als sie in Wirklichkeit denken, also lügen. Auch das gibt es sicherlich, ist aber nicht die Regel. Es ist vielmehr so, dass die Wahrheit der anderen anders ist. Insofern ist die Frage des Friseurs von Wolfgang Bittner berechtigt: »Warum meinen Sie, die politische Lage besser beurteilen zu können als ich«(8). Nur weil man alternative Fakten hat? Fakten allein schaffen noch kein Weltbild. Aber sie stützen es oder bringen es ins Wanken.
Die intellektuellen Führungskräfte sind Überzeugte. Sie brauchen keine von oben verordnete Agenda, weil die Verteidigung der herrschenden Ordnung ihre ureigenste Agenda ist. Mit ihr identifizieren sie sich. Man muss ihnen nicht auftragen, was sie sagen sollen. Sie wissen es selbst. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Entwicklung von Geistigem: Gedanken, Behauptungen, Theorien und so weiter. Sie sehen keinen Widerspruch zwischen ihrem Denken und der Wirklichkeit. Wo aber der Widerspruch auftaucht, beherrschen sie die große Kunst, neue Sichtweisen zu entwickeln, die die Widersprüche aufheben. Darin besteht ihr Nutzen für die herrschende Ordnung.
Aber diese Aufgabe wird immer schwieriger, denn die Widersprüche zwischen diesen ihren Erklärungsversuchen und der Wirklichkeit selbst sind immer schwerer zu überbrücken. Man verhilft aber nicht der Wahrheit ans Licht, indem diesen Sichtweisen alternative entgegen gestellt und diese als wahrer behauptet werden. Stattdessen muss solchen Ansichten die Wirklichkeit entgegen gehalten werden, die Widersprüche zwischen dem verbreiteten Weltbild und der erkennbaren Wirklichkeit:
Wie kann sich die NATO von Russland bedroht fühlen, wo sie es doch selbst war, die immer näher an dessen Grenzen herangerückt ist? Wie kann Putin eine Bevölkerung einschüchtern, wenn diese zu Millionen die Welt bereits, im Ausland studiert, arbeitet, wohnt und zu Kriegsbeginn Hunderttausende das Land verlassen konnten? Diese Wirklichkeit passt nicht zu den verbreiteten Ansichten.
Verweise
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16.3.2024: Eingeschüchtertes Volk – aus The Irisch Times (Dublin).
(4) FAZ vom 18.3.2024: Das Beste für Russland
(5) ebenda
(6) ebenda
(7) FAZ vom 10.3.2024: Peking hält weiter zu Putin
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
Bild: Pixabay
Die USA mit ihrer Doktrin stellen das gleiche Problem dar wie Bekehrungs‐Sekten, missionarische Kirchen, Kommunismus, und generell Besserwissertum mit Weltverbesserungs‐Attitüde und Herrenmenschen‐Gehabe:
_erst wenn die ganze Welt zu der jeweiligen Heilslehre »bekehrt« ist, würde Friede, Glück und Wohlstand auf der Welt herrschen._
In Deutschland haben wir besonders viel von diesem »Bessermenschentum« in der Normalbevölkerung das nicht ertragen kann, dass Menschen anderswo nach ihrer eigenen Facon leben wollen, und die nicht ruhen können, bis überall auf der Welt alles nach ihrer Pfeife tanzt (von wegen Feminismus, »Gleichberechtigung«, »Demokratie«, Gendern, Religions‐ und Kulturvernichtung, Heimatflucht, Klimawahn, Virenwahn, …). In den USA und anderen westlichen Ländern sind es eher nur die »Eliten« die unter diesen Deckmäntelchen ihre Macht und ihren wirtschaftlichen Zugriff (Profitoptimierung) ausweiten.
Der extreme Kulturchauvinismus und die Missionierungs‐Penetranz der Deutschen ist aber seit über 100 Jahren schon einzigartig. Und wenn man denkt, welche hervorragende Rolle Deutsche beim Coronawahn gespielt haben und dass ein Deutscher der Aushänge‐Boss des WEF ist …