Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde,
ich schreibe dieses Jahr aus der Ferne zu euch, aus Russland. Und auch, wenn ich es bedauere, nicht bei euch sein zu können, ist es gut, dass ich manche Dinge von außen betrachten kann. Denn sehr vieles sieht dort anders aus, für die 85 Prozent der Menschheit, die nicht Teil des Westens sind.
Als sich damals, 1945, die sowjetischen und die amerikanischen Soldaten begegneten, einte sie eine Sehnsucht nach einer Welt des Friedens, die sie sich erhofften. Eine Welt, in der für den niedergerungenen Nazismus kein Platz mehr ist. Eine Welt, die die Völker in Frieden miteinander teilen.
Wir alle wissen, dass diese Sehnsucht nach Frieden schon sehr bald von der Regierung der Vereinigten Staaten verraten wurde. Ein Verrat, der in Gestalt von Treffen der Gebrüder Dulles mit Vertretern der SS in der Schweiz angebahnt wurde, und der bald dazu führte, dass die besiegten Nazis in der amerikanischen Zone Sicherheit finden konnten; darunter auch die baltischen und ukrainischen Kollaborateure. Ein Verrat, der mit dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki für die ganze Welt sichtbar wurde; denn jeder wusste, dass dieses schreckliche Verbrechen ebenso sehr dazu diente, die Sowjetunion einzuschüchtern wie Japan zur Kapitulation zu zwingen.
Es waren so wenige kostbare Wochen, in denen die Hoffnung von Torgau leben durfte. Und heute sehen wir uns weit hinter jenen Moment zurückgeworfen, Selbst beim Gedenken an die Befreiung von Auschwitz werden die Vertreter Russlands nicht mehr eingeladen, nicht in Buchenwald, nicht in Mauthausen; im vergangenen Jahr wurden in Berlin in Treptow sowjetische Fahnen verboten, russische ebenso.
Es wird mit allen Kräften daran gearbeitet, die Erinnerung an den Beitrag, den die Sowjetunion zur Niederringung des Faschismus leistete, aus dem Gedächtnis zu löschen. Und warum? Weil die politische Vorgabe lautet, mit der Ukraine solidarisch zu sein; einer Ukraine, die Nazi‐Kollaborateure verherrlicht und selbst Ostereier mit Nazisymbolen dekoriert.
Die Saat, die die Vereinigten Staaten aus der zusammenbrechenden Naziherrschaft retteten, ist aufgegangen. Deutschland liefert Waffen an das ukrainische Regime. Und diese Waffen werden so eingesetzt, wie man es von Kiew erwarten konnte. Deutschland lieferte unter anderem Himars‐Raketenwerfer. Vor wenigen Tagen, in der Nacht des orthodoxen Osterfests, wurde einer dieser Raketenwerfer auf die Kathedrale von Donezk gerichtet. Weit und breit kein militärisches Ziel. Eine Schwangere kam durch diesen Beschuss ums Leben, mehrere Menschen wurden schwer verletzt, mitten in der Osterandacht.
Auch deutsche Minen wurden bereits in der Stadt gefunden. Alles, was in die Ukraine geschickt wird, dient dem Terror gegen die Zivilbevölkerung im Donbass. Ich war gerade im September dort und ich bin gerade vor Ort, ich kann das bezeugen.
Dieser Terror, dieser verschwiegen achtjährige Krieg ist den ukrainischen Truppen so wichtig, dass der Ort, aus dem Donezk beschossen wird, einer der am schwersten befestigten Orte in der ganzen Ukraine ist. Das wird in Deutschland natürlich nicht erzählt. Aber die Menschen im Donbass wissen, sie wissen es seit 2014, dass mit all dem Gerede über die territoriale Integrität der Ukraine, die so wichtig war, dass das Minsker Abkommen nur ein Betrugsmanöver sein konnte, niemals sie gemeint waren, die Menschen, sondern immer nur der Grund und Boden, auf dem sie leben. Das hat ihnen der tägliche Beschuss immer wieder bewiesen.
Ich möchte noch einmal an die Minsker Abkommen erinnern. Das waren nicht einfach unterschriebene Stücke Papier; diese Abkommen wurden vom UN‐Sicherheitsrat beschlossen, und das heißt, die beiden westlichen Garantiemächte Deutschland und Frankreich hatten die völkerrechtliche Verpflichtung, diese Abkommen umzusetzen. Wir wissen heute, dass weder Deutschland noch Frankreich auch nur einen Handschlag unternahmen, um diesen möglichen Weg zum Frieden in der Ukraine zu nutzen; wir wissen das aus den Aussagen von Francois Hollande und Angela Merkel, die beide zugegeben haben, sie wollten der Ukraine nur Zeit zur Aufrüstung verschaffen. Wir wissen aus dem Mund eines US‐Generals, dass die USA währenddessen in der Ukraine Munitionsdepots anlegten und den Angriff auf den Donbass planten. Es ist alles eingestanden, und dennoch wird in Deutschland immer noch so getan, als sei da im Februar vergangenen Jahres plötzlich aus dem Nichts ein Konflikt ausgebrochen.
Aber der Blick von außen ermöglicht es nicht nur, besser zu erkennen, wer wen angreift und wer was verteidigt. Er lässt auch erkennen, was in der Welt geschieht, und das ist groß. Auch darüber wird gern geschwiegen, oder es werden Geschichten gestrickt, wie heldenhaft unsere Außenministerin überall für Werte eintritt, wenn sie in Wirklichkeit nur von einem Land nach dem anderen fordert, die Seite der Vereinigten Staaten gegen Russland zu wählen. Sie hat wenig Erfolg damit.
Warum? Weil die Menschen in den meisten Ländern nicht nur erkennen, wie wenig Bedeutung die Stimme eines Landes hat, das sich von seinem engsten Verbündeten die Energieversorgung wegbomben lässt; sie erkennen auch, dass es dem Westen vor allem darum geht, die koloniale Ordnung zu erhalten. Diesen Zustand ständigen Unfriedens, in dem der Westen nach Belieben Regierungen stürzt und Kriege entfacht, um seine Interessen zu sichern.
Dieser Zustand kommt gerade an sein Ende. Und das geschieht so schnell, dass man fast meint, jenen Frühlingstag des Jahres 1945 schon riechen zu können. Im Jemen ist plötzlich Frieden ausgebrochen, nachdem der Iran und Saudi‐Arabien wieder miteinander reden. Nachdem das kleine Land jahrelang unter der brutalsten Blockade der Welt litt und Zehntausende an Hunger starben, mit dem Segen der USA. Syrien und die Türkei verhandeln. Der saudische Außenminister fliegt nach Damaskus. Das sind die ersten kleinen Nebenwirkungen einer Entwicklung, die gerade die US‐amerikanische Macht beendet. Eine Macht, die damals, im April 1945, erst begann, die den Weltfrieden sabotierte, der die Sehnsucht der Menschen war, und die jetzt gerade ihre Möglichkeit verliert, es weiter zu tun.
Ja, wenn man heute vom Wunsch nach Frieden spricht, sollte man diesen Wunsch nicht zu klein werden lassen.
Die Männer, die sich damals dort begegneten, wo ihr heute steht, die miteinander den nahen Sieg feierten, wussten, dass der Nazismus besiegt werden musste, damit Frieden möglich war, und sie hofften, dass dieser Frieden der große, wahre, umfassende Friede zwischen den Völkern würde. Damals wurde die Hoffnung nicht wahr. Einer der Gründe dafür ist, dass der Nazismus der Zwilling des Kolonialismus ist, und er immer wieder auferstehen kann, solange einige Länder über alle anderen herrschen.
Aber heute kann man, muss man diese Hoffnung hegen, denn die Brandstifter, denen wir in den letzten Jahrzehnten so viele Kriege zu verdanken haben, die USA und die NATO, sie verlieren gerade. Nicht nur in der Ukraine; sie verlieren in Lateinamerika, in Afrika und in Asien. Sie verlieren, weil ganze Kontinente sich aus der Umklammerung lösen, sich vom Dollar abwenden und neue Verbindungen untereinander pflegen, zwischen Gleichen. Sie verlieren, weil sie nur noch mehr Armut, mehr Unterdrückung, mehr Elend zu bieten haben.
Und auch für uns hier gilt der Satz aus dem Solidaritätslied, der gerade rund um die Welt – zum großen Entsetzen der Frau Baerbock – Wirklichkeit wird: »reden erst die Völker selber, werden sie schnell einig sein«. Könnten wir selbst reden, selbst entscheiden, würden wir dann mit der Ukraine einen Krieg gegen Russland führen? Ich denke nicht. Würden wir eine Gesellschaft wählen, in der sich einzig die Interessen der Milliardäre durchsetzen? Nein, das würden wir nicht.
Wenn erzählt wird, der Westen müsse seine Werte verteidigen, gegen Russland und gegen China und Woche für Woche weitere Länder, dann ist dieses Wort nur halb gelogen. Werte, ja. Werte, die an Börsen notiert werden, in Immobilienfonds stecken, in Investmentfirmen und Versicherungen. Werte, die wir mit geschaffen haben, die uns aber nicht gehören, und für deren Wachstum auch unsere Mieten steigen und unsere Löhne sinken. Dieser Westen, er steht auch gegen uns. Nicht wir gewinnen, wenn er sich durchsetzt.
Wir Deutschen müssen, wie damals in jenem April 1945, erst wieder dahin kommen, selbst zu reden. Unsere Stimme hörbar zu machen. Wir müssen das Geraune von der transatlantischen Treue durchbrechen und unsere eigenen Wünsche und Interessen formulieren. Die nach wie vor lauten:
Raus aus der NATO! Frieden mit Russland und China! Dann haben wir eine Chance, ein Teil dieser neuen Welt zu werden, in der die Völker im Frieden leben und der Wunsch der sowjetischen und amerikanischen Soldaten, die sich in Torgau damals die Hände reichten, endlich wahr wird.
Bild: Symbolisches Treffen am 27. April 1945 zwischen William Robertson und Alexander Silwaschko nahe Torgau ( )