»Es wäre ein Verbrechen, irgendwelche legalistischen Illusionen in unseren Reihen zu dulden« – in Erinnerung an Ernst Thälmann

Liebe Genossen,

wenn wir heute Ernst Thälmanns gedenken, dann kommt mir vor allem Ziegenhals in den Sinn, die letzte Tagung des Zentralkomitees der KPD. Es gab keinen Moment, in dem die Schwierigkeit, vor der die damalige Sitzung des ZK der KPD stand, im Februar 1933, so auf der eigenen Haut nachvollziehbar waren wie heute. Man muss nur die aktuellen Nachrichten hören, um unmittelbar an den Reichstagsbrand zu denken.

»Jetzt droht der Staatsstreich. Jetzt droht die Vernichtung der Partei. Jetzt sind in höchsten Grad, die entscheidende Wochen.« Diese Sätze sagte Ernst Thälmann in seiner Rede in Ziegenhals, und schon zehn Tage später brannte der Reichstag und der Faschismus war an der Macht.

Und heute im doppelten Sinne, mit dem Blick auf die damaligen Ereignisse, mit dem Wunsch, das Andenken Thälmanns zu ehren, und mit der Frage, an welchem Punkt wir stehen, und wir könnten die gleichen Sätze sagen, auch wenn die Form sich unterscheidet.

Man kann es nicht mehr leugnen – die Angriffe auf unser Erinnern, sei es über das entfernen und Zerstören von Gedenktafeln, die Kommentierung des größten Thälmanndenkmals in Berlin, die vor allem seiner Herabwürdigung dient, über die Aufforderung, es einzuschmelzen und den Erlös an die Ukraine zu spenden – das sind nichts Anderes als Manöver, um Platz zu machen für faschistisches Gedenken, faschistische Gedanken und faschistisches Handeln.

Das Tempo der letzten Monate war atemberaubend. Der Krieg in der Ukraine wird zum Hebel, um die Entwicklung abzuschließen. Dazu nur zwei Punkte – die Kundgebung vor dem Reichstag, bei der ein junger Ukrainer singend dazu aufforderte, alle Russen zu töten, unter Beifall des deutschen Publikums, und die Tatsache, das Deutschland inzwischen nicht nur den Buchstaben »Z«, sondern auch die sowjetische Fahne verbietet und unter Strafe stellt, und sich im Grunde klar abzeichnet, dass Feiern zum Tag des Sieges, sofern sie überhaupt stattfinden dürfen, auch in diesem Jahr werden erkämpft werden müssen.

Wobei von heute aus schon nicht mehr möglich ist, zu sagen, was in vier Wochen noch getan werden kann, und um welchen Einsatz.

»Es wäre ein Verbrechen, irgendwelche legalistischen Illusionen in unseren Reihen zu dulden.« Das ist ein weiterer Satz aus Thälmanns Rede. Und auch er gilt heute so sehr wie damals. Es ist klar erkennbar, aus den Entwicklungen der letzten Monate, dass es in diesem Land verboten ist, die Wahrheit über viele Dinge zu sagen. Über den Krieg im Donbass; über den Faschismus in der Ukraine; über die Politik der NATO, ihre Aggression; es stellt sich nur noch die Frage, wie brutal die Angriffe sein werden.

Ich weiß gut, womit man es in der Ukraine zu tun hat, die vielen Videos auf denen sich diese Nazitruppen im Einsatz zeigen. Und jeder kann mit eigenen Augen sehen, wie verblendet inzwischen viele sind, in Deutschland, in Europa und jener Gesang vor dem Reichstag zeigt klar, dass die faschistische Gesinnung bei allem mit ihm Gepäck ist, was unter »Solidarität mit der Ukraine« abläuft.

»Die herrschende Bourgeoisie sucht immer mehr ihre Rettung im Faschismus, um die schlimmsten Ausplünderungsmaßnahmen gegen die Werktätigen durchzuführen, um einen imperialistischen Raubkrieg, um den Überfall auf die Sowjetunion, die Versklavung und Aufteilung Russlands und Chinas vorzubereiten und durch alle diese Maßnahmen die Revolution zu verhindern. Die imperialistischen Kreise suchen die ganze Last der Krise auf die Schultern der Werktätigen abzuwälzen. Dafür brauchen sie den Faschismus.«

Dieses Zitat stammt aus Dimitroff seiner Rede vor dem VII. Weltkongress der Komintern, und es passt genau auf die heutige weltpolitische Lage, sobald man die Rollen Chinas und Russlands vertauscht. Der Überfall auf das sozialistische China und die Versklavung und Aufteilung Russlands, das ist die genaue Beschreibung der Kriegsziele der NATO.

Die Abwälzung der Krise auf die Schultern der Werktätigen ist bereits im Gange; die Folgen der Sanktionspolitik werden dafür sorgen. Und der Faschismus, der zur Umsetzung dieser Kriegspläne erforderlich ist, ist bereits so weit vorbereitet, dass wir uns heute zweifach in Ziegenhals wiederfinden.

Was heißt es, die sowjetische Fahne zu verbieten? Man verbietet das Symbol für den Sieg über den Faschismus. Man verbietet, dazu gehören die Angriffe auf die Denkmäler für Thälmann ebenso wie die auf die sowjetischen Ehrenmale, die Erinnerung daran, wer diesen Sieg errungen hat. Aber es gibt, wenn es um Faschismus geht, keine neutrale Position. Man ist gegen ihn oder man ist für ihn.

Der EU‐​Außenbeauftrage Borrell twitterte »dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld gewonnen.« Annalena Baerbock will Russland »ruinieren.« Die Worte zeigen längst, dass es ein Krieg des Westens gegen Russland ist. Ein Krieg, der von Faschisten geführt wird.

Aber während wir auf die politischen Zustände in Deutschland blicken, auf die kärgliche Überreste einer damals, zur Zeit der Ziegenhals‐​Rede, großen und stolzen kommunistischen Partei in Deutschland, sollten wir auch einen Blick auf den Rest der Welt werfen; denn was hier Niedergang ist, ist andernorts Befreiung.

Der Westen führt diesen Krieg in der Ukraine, weil er keinen Ausweg aus seiner Krise findet, und diese Krise zeigt sich auch darin, dass sein Einfluss in der Welt im Schwinden begriffen ist.

Den zweiten Weltkrieg begann der Imperialismus aus der ökonomischen Krise, aber noch in voller politischer Macht. Er endete mit einer Niederlage nicht nur für Nazideutschland, sondern auch für das britische Empire, für den Imperialismus insgesamt, und er brachte zwei Jahrzehnte, in denen sich Dutzende Länder, wenn auch meist nur vorübergehend, aus der kolonialen Kontrolle befreien konnten, auch wenn er die USA als stärkste imperialistische Macht nach oben spülte.

Diesen Krieg beginnen die imperialistischen Länder abermals aus der Krise, die schon über zehn Jahre andauert, aber sie sind auch politisch bereits geschwächt. Das Bündnis, das wir augenblicklich sehen, dass alle imperialistischen Kernländer umfasst, ist eines, in dem gleichzeitig der eine den anderen würgt, wie die USA es mit den Sanktionen in Richtung der europäischen Konkurrenten tun.

Selbst der soziale und ökonomische Untergang ist ein Preis, der von der herrschenden Klasse im Interesse der eigenen Machterhaltung eingefordert wird. Wenn das wahnhafte Züge annimmt, liegt das daran, dass es ein Wahn ist, dieses wirtschaftliche System und seine globalen Machtstrukturen zu erhalten. Seine Zeit ist längst abgelaufen. Aber er scheint bereit, die Menschheit mit sich in den Untergang zu reißen.

Auf der anderen Seite sehen wir den gewaltigen Aufstieg Chinas, das sich in drei Generationen aus einem Abgrund und Elend erhoben hat und heute Städte aus dem Boden stampft, die für uns wie Visionen aus einem kommenden Jahrhundert scheinen.

Mit Russland und China erhebt sich die Mehrheit der Weltbevölkerung von den Knien. In Afrika werden die Verkehrsverbindungen geschaffen, die Ost und West, Nord und Süd verbinden. In Lateinamerika werden selbst von den USA installierte Marionetten aufmüpfig und weigern sich, sich den Sanktionen anzuschließen. Und Afrika entledigt sich seiner Sklavenhalter und Kolonialherren, wie in Mali und Niger.

Während nicht nur Deutschland, sondern fast ganz Westeuropa sich mit dem Faschismus in die Finsternis begibt, geht außerhalb der ehemaligen Herrscher der Welt gerade die Sonne auf. Das ist der eine große Unterschied zu damals. Der andere: es wird keine soziale Demagogie mehr geben. Im Gegenteil.

Das Kriegsgeschrei ertönt bereits auf voller Lautstärke, als wären wir im August 1914, weil die Herrschenden dem Volk verordnet haben, künftig zu hungern und zu frieren.

Die Errungenschaften von Jahrzehnten werden der Erhaltung eines Rentenkapitals geopfert, das selbst nichts ist als auf Macht bestehender Anspruch, der mit der Macht untergeht; nutzlos und blind für die Regeln seiner eigenen Entstehung.

Es wird deutlich sichtbar und tagtäglich spürbar werden, dass seine Interessen den unmittelbaren Lebensinteressen der werktätigen Menschen feindselig, ja, zerstörerisch gegenüberstehen.

Das, was sich abzeichnet, ist Klassenkampf in einer Schärfe, wie ihn Generationen hierzulande nicht erlebt haben. Ob unter solchen Bedingungen, bei denen das Elend dem Krieg vorausgeht und ihm nicht erst folgt, die schärfste Unterdrückung genügt, wird sich erweisen. Es sind schwere Zeiten und heftige Stürme, auf die wir uns zubewegen, und wir tun dies in einem Zustand extremer Schwäche.

Wir müssen Kenntnisse neu erwerben, die seit Jahrzehnten nicht nötig waren, wir müssen Entscheidungen treffen und uns dabei selbst offen in den Blick nehmen.

Seit Monaten trifft man immer wieder auf Menschen, die sich die Frage stellen: gehen oder bleiben? Man kann sich die Standhaftigkeit eines Ernst Thälmann wünschen, aber Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist das nützlichste Instrument. Und die einfache Frage: wo bin ich von Nutzen? Mit dem Mut, der Kühnheit, der Besonnenheit, der Ausdauer, der Klugheit, der List, der Überzeugung, der Hoffnung, der Erkenntnis, der Erfahrung die da ist?

Wenn die Größe seines Denkmals seine Gegner besonders stört, sollten wir uns an ihm aufrichten. Weil Thälmann für eines steht, für eine unerbittliche Zuversicht. Wir werden sie brauchen.

Ich möchte mit einem Satz von Thälmann schließen, und ich habe lange darüber nachgedacht, mit welchem. Und ich bin bei einem hängengeblieben, der euch vermutlich überraschen wird, aber der tatsächlich tragen kann, auch in der kommenden Zeit: »Die größten Aufgaben, die das Leben stellt, werden nicht nur durch Arbeit und Fleiß gelöst, sondern es muss eine Lust hinzukommen, die diese Arbeit zwingend macht.«

In diesem Sinne: Rot Front

Bild: Thälmanndenkmal Berlin

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