Die Undenkbarkeit der Sklavenrevolte

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Diejenigen, die behaupten, Israel habe die ganze Zeit von den Plänen für den 7. Oktober gewusst, packen ein altes koloniales Klischee um, das davon ausgeht, dass die Eingeborenen zu fügsam, zu unterwürfig, zu feige und zu minderwertig seien, um sich gegen ihre Unterdrücker aufzulehnen.

Am 7. Oktober 2023 starteten die Palästinenser die größte antikoloniale Operation in der Geschichte Palästinas. Sie sägten ihre Fesseln ab, rissen ihren Käfig nieder und durchbohrten die eisernen Mauern. Die Palästinenser stiegen in die Lüfte. Sie blendeten Kameras, unterbrachen die Kommunikation und drangen in Siedlungen ein. Sie legten eine nukleare Siedlerkolonie lahm und zwangen das Imperium in die Knie. Sie durchtrennten die Nabelschnur der Unbezwingbarkeit, der Sicherheit und der sakrosankten Herrschaft, die für alle kolonialen Projekte unerlässlich ist.

Sofort machten sich imperiale Schriftgelehrte und Politiker, koloniale Siedler und Statthalter, Konservative und Liberale – vor allem Liberale – an die Arbeit. Ihre Aufgabe war eine doppelte: erstens dafür zu sorgen, dass die Welt die Eingeborenen als wilde Horden, Barbaren, Tiere, als Inbegriff des Bösen ansieht – hier vergaßen die Liberalen schnell ihre politische Korrektheit und beeilten sich zu verurteilen – und zweitens gleichzeitig die Herrschaft wiederherzustellen.

Erstere betreffend nahmen sie die Welt im Sturm, was aber ohnehin für jeden von klarem Verstand schon immer als falsch erkannt und inzwischen unermüdlich und gründlich entlarvt wurde. Zweitere betreffend jedoch drangen sie unbemerkt in die Köpfe vieler Menschen ein, selbst der potenziell wohlmeinenden. Diese Wiederherstellung des Imperiums hat sich auf verschiedene Weise manifestiert: Die Palästinenser hätten nicht selbst ausbrechen können, sie hätten den »Iron Dome« nicht durchdringen können, Israels Sicherheitssysteme seien zu fortschrittlich, als dass sie hätten überwunden oder entwaffnet werden können – Israel »ließ sie gewähren«.

Kurzerhand wurde eine beispiellose, die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit des Imperiums erschütternde Operation zu einem Werkzeug der Imperialisten umgedeutet. Sie war Teil eines größeren Masterplans zur weiteren Festigung und Ausweitung der Herrschaft – die Eingeborenen waren Spielfiguren ohne Sinn und Verstand, die einer allwissenden, intellektuell überlegenen Kolonialmacht zur Verfügung standen. Aus diesem Gedankengang heraus – und in ihn hinein – ergeben sich mehrere andere Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen, die ihn belegen und seine Macht festigen. Israel unterstützte die Hamas und habe sie sogar gegründet, sagen einige. Netanjahu habe dies geplant, um die kommenden Wahlen zu gewinnen, behaupten andere. Und mein persönlicher Favorit – vor allem, weil er jetzt von den zionistischen Stenographen der New York Times ausgearbeitet wurde – ist, dass Israel die ganze Zeit davon wusste.

Sicherlich wird die nächste Entdeckung sein, dass Israel von der Al-​Aqsa-​Flut vor den Palästinensern selbst wusste, dass es sie ausgeheckt, der Hamas vorgestellt und in die Köpfe der Palästinenser eingepflanzt hat. Die Grundlage für all dies – und der kollektive Existenzgrund dieser Theorien – ist die Undenkbarkeit einer Revolte der Sklaven (oder Eingeborenen).

Die Undenkbarkeit der Sklavenrevolte ist ein Konzept, das von Michel-​Rolph Trouillot eingeführt wurde, um die Reaktionen des westlichen Imperiums auf die Haitianische Revolution, sein Schweigen und seine Unterdrückung zu erklären. Trouillot verwendet ihn zwar in Bezug auf die Imperialisten des 18. Jahrhunderts, aber diese Undenkbarkeit lässt sich nahtlos auf die Gegenwart übertragen – das Imperium, seine Ideologien, sein Kolonialismus, seine Völkermorde und seine Kolonien sind keine Geschichte, die es zu studieren gilt, sondern materielle Realitäten und heute erlebte Gewalt.

Als die Haitianische Revolution ausbrach, war die häufigste Reaktion in Frankreich, England, Spanien und den USA Unglauben. Die Nachrichten seien falsch. Die Fakten – ähnlich wie die der Al-​Aqsa-​Flut – waren zu unwahrscheinlich. In jedem Fall mussten die Fakten falsch sein, denn die Schwarzen waren wie die Palästinenser hirnlose Bestien, Wilde, die zur Gefügigkeit gepeitscht wurden, faul, unorganisiert und minderwertig – sie waren schlichtweg nicht in der Lage, sich eine solche Operation auszudenken, geschweige denn sich zu organisieren oder sie durchzuführen.

Selbst wenn sie irgendwie Geister beschworen und diese Wunder vollbracht hätten, würde die intellektuelle, militärische, wirtschaftliche und rassische Überlegenheit der Weißen dafür sorgen, dass sie schnell wieder unterdrückt, gefesselt und zur Arbeit gezwungen würden. Das Problem war jedoch, dass der Westen erst im Nachhinein reagierte und sich Erklärungen ausdachte, während die Schwarzen und Palästinenser das Undenkbare vollbrachten, nämlich die Kolonialmächte aktiv zu neutralisieren und Land zurück zu erobern.

Langsam und zähneknirschend setzte sich die Realität der Operationen durch. Die Nachricht von den erbarmungslosen schwarzen die Weißen massakrierenden Horden erreichte Europa. Und erneut verkündeten die Zionisten die »Schrecken von St. Domingo«. Diese Nachrichten mussten nun auf andere Weise rationalisiert werden – die nackten Tatsachen waren und sind immer noch unvorstellbar. So war die Revolution »eine unglückliche Folge von Fehlkalkulationen der Plantagenbesitzer«, die Al-​Aqsa-​Flut war das Ergebnis einer »jahrelangen Kaskade von Fehltritten« Israels, »sie zielte nicht auf revolutionäre Veränderung«, sie zielte nicht auf Entkolonialisierung, »sie wurde nicht von einer Mehrheit des Sklavenvolks unterstützt«, es war die Hamas, die allein handelte, die Palästinenser unterstützten sie nicht, »sie war auf Agitatoren von außen zurückzuführen«, der Iran hatte sie angestiftet, »sie war die … Folge verschiedener von Nicht-​Sklaven ausgeheckten Verschwörungen, es gab »undichte Stellen innerhalb des israelischen Sicherheitsapparats«. Da die Schwarzen und die Palästinenser intellektuell unfähig waren, »wählte jede Partei ihren Lieblingsfeind als den wahrscheinlichsten Verschwörer … [und] beschuldigten sich gegenseitig, die Köpfe hinter der Revolte zu sein«. In Haiti waren es die Briten, die Royalisten und die Mullatten; in Palästina war Iran der Drahtzieher und hinter ihm standen Russland und China.

An dieser Stelle werden sich wahrscheinlich einige aufgebracht daran machen mich zu beschimpfen oder mir Naivität vorzuwerfen, weil ich die eklatanten Tatsachen des zionistischen Wissens außer Acht lasse (als ob ich das Imperium wäre). Ich möchte das klarstellen. Mit dem, was ich geschrieben habe, will ich nicht sagen, dass das zionistische Regime definitiv nichts gewusst hat – auch wenn mein Bauchgefühl immer noch zögert zu glauben, dass sie es wussten –, sondern vielmehr, dass die Operation für sie undenkbar war, dass ihr Wissen/​Unwissen irrelevant ist und dass der Ablauf der Ereignisse und ihre Ergebnisse nicht in ihren allmächtigen Händen liegen, sondern in denen der Palästinenser, der Besitzer des Landes, und des Widerstands.

Interessanterweise gibt es inmitten all der imperialen Schnellschrift, die in der Times-Untersuchung über die Al-​Aqsa-​Flut präsentiert wurde, eine Zeile, die übersehen und ignoriert wurde beim Versuch, die bahnbrechenden Erfolge des 7. Oktobers unter Belagerung zu stellen, zurück in den Bereich des Imperiums oder besser aus der Erinnerung zu bomben.

Man kann also herauslesen, dass diesem Satz die Möglichkeit der Wahrheit innewohnt:

»[Israel hielt an der] verhängnisvoll ungenauen Überzeugung fest, dass die Hamas nicht in der Lage sei, einen Angriff durchzuführen und es nicht wagen würde, dies zu tun…[eine] Überzeugung, die so tief in der israelischen Regierung verwurzelt war…, dass sie die zunehmenden Beweise für das Gegenteil ignorierte.«

Man beachte die Wahrnehmung der palästinensischen Unfähigkeit – die Fügsamkeit aus Angst – sowie die Erkenntnis, dass eine solche Operation so undenkbar war, dass die Zionisten, wie die Europäer im Jahr 1792, ihren eigenen Augen nicht trauten. Das ist die Arroganz des Imperiums, darin liegt seine Zerstörung.

Imperialismus beruht auf der Idee seiner selbst, der Zentralität und Überlegenheit des Selbst gegenüber denjenigen, die der Eroberung und Zivilisation harren. Die Vorrangigkeit des Imperiums beruht auf der Nachrangigkeit des Anderen. Die imperiale Überlegenheit beruht auf der Unterlegenheit der Eingeborenen. Diese Zweitrangigkeit und Unterlegenheit ist – paradoxerweise – für die Vorrangigkeit und Überlegenheit des Europäers und des Imperiums unerlässlich. Ereignisse wie die Haitianische Revolution, der Bombenanschlag auf die Milkbar und die Al-​Aqsa-​Flut stellen diese Hierarchien auf den Kopf, kehren sie um oder zerschlagen sie vollständig.

Daher ist diese Gewalt für den Eingeborenen eine »reinigende Kraft«, sie befreit ihn »von seinem Minderwertigkeitskomplex, seiner Verzweiflung und Untätigkeit; sie macht ihn furchtlos und gibt ihm seine Selbstachtung zurück«. Weiter gedacht bedeutet dies: Wenn der Eingeborene von seinem Minderwertigkeitskomplex befreit ist, ist er nicht mehr minderwertig; wenn er nicht mehr minderwertig ist, ist der Kolonisator nicht mehr überlegen; wenn der Kolonisator nicht mehr überlegen ist, dann ist die Idee des Imperiums kompromittiert, die Götzen stürzen ein und der Imperialismus fällt.

So schreibt Fanon: »Genau in dem Moment, in dem er [der Eingeborene] sich seiner Menschlichkeit bewusst wird, beginnt er die Waffen zu wetzen, die seinen Sieg sichern werden«. Die Funktion der rationalisierenden, das Undenkbare erklärenden Theorien wird dann offensichtlich: es ist die Erhaltung der Herrschaft, der Hierarchie, der Sicherheit der Siedler, des imperialen Selbst.

Die Bedrohung, die von jedem einheimischen Akt des Widerstands irgendwo in der kolonisierten Welt ausgeht, ist nicht nur eine materielle Bedrohung für das unmittelbare Ziel oder die lokale Herrschaft, sondern eine existenzielle Geißel für das Imperium und den Imperialismus als Ganzes. In den stets treffenden Worten von Ghassan Kanafani:

»Der Imperialismus hat seinen Körper über die ganze Welt gelegt, den Kopf in Ostasien, das Herz im Nahen Osten, seine Arterien erreichen Afrika und Lateinamerika. Wo immer man ihn trifft, schadet man ihm und dient der Weltrevolution

Ich muss mit einer Erklärung schließen. Die Idee zu diesem Artikel kam mir erstmals am 7. Oktober. Seitdem habe ich darüber nachgedacht ihn zu schreiben, aber ich fühlte mich durch den Eindruck der Verwüstungen des Völkermords zu sehr gehemmt. Wie kann ich über etwas anderes als den Völkermord schreiben? Während Sie diesen Artikel lesen, wurde in Gaza ein palästinensisches Kind – die Seele einer Seele – ermordet. Alle sieben Minuten. Während die Tage zu Monaten wurden, erschien es mir zunehmend unangemessen, ja sogar unmoralisch, über etwas anderes zu denken, zu sprechen oder zu schreiben. Nach endlosem Abwägen erinnerte ich mich an das Muster der Kolonialgeschichte: Auf einen Akt des Widerstands der Eingeborenen folgt die grausamste und ungezügelte Brutalität der Siedlerkolonie. Sie soll dem Eingeborenen eine Lektion erteilen, ihn seine Triumphe – und seien sie noch so klein – vergessen lassen, um ihn dann in Feuer zu tauchen und in Blut zu ertränken, bis er verzehrt ist. Diese Auslöschung und Eroberung darf nicht unwidersprochen bleiben.

Während wir beobachten, wie Nachrichtenagenturen, Politiker, Ideologen und Zuschauer das noch nie Dagewesene erklären und den Palästinensern die Handlungsfähigkeit – und Menschlichkeit – nehmen, müssen wir erkennen, dass die imperiale Maschinerie mit ihren desinfizierenden, zivilisatorischen und trivialisierenden Rädchen am Werk ist. Während die Bomben auf den Gazastreifen fallen und versuchen, die Erinnerung der Palästinenser an ihren Sieg auszulöschen, ihren Hauch von Befreiung unter Trümmern zu begraben und die Erinnerung der Welt an ihre Anwesenheit auszulöschen, dürfen wir nicht vergessen. Am 7. Oktober erschütterte Palästina die imperiale Weltordnung und heute oder morgen, in zehn oder hundert Jahren, wird es frei sein.

Dieser Artikel wurde zuerst in englisch auf Mondoweiss veröffentlicht

Bild: Schlacht von Ravine-​à-​Couleuvres (23. Februar 1802). Expedition nach Saint-​Domingue, Haitianische Revolution. Gezeichnet von Karl Girardet, gestochen von Jean-​Jacques Outhwaite (wikimedia commons)

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