- Die aktuellen Bauernproteste haben gezeigt, dass die Bauernschaft als politisches Subjekt nicht ganz aus dem Fokus der Linken verschwinden sollte.
- Insbesondere in der kapitalistischen Peripherie und Halbperipherie sind die Bauern größter Bestandteil der arbeitenden Klassen und häufig Träger sozialen Protestes.
- Paramjit Singh und Mukesh Kumar haben im Journal of Agrarian Change eine Aktualisierung der Klassenanalyse der indischen Bauern vorgenommen.
- Nach ihnen ist nicht mehr nur der Verkauf und Kauf von Arbeitskraft zu berücksichtigen, sondern auch der Besitz von Land und Maschinen.
- Empirisch zeigte sich, dass durch die Einbeziehung dieser Parameter die Klassenspaltung auf dem Land deutlicher hervortritt, als bei der reinen Berücksichtigung der Arbeit.
In der letzten Woche kam man nicht umhin, auch in Deutschland die Bauern als politisches Subjekt wahrzunehmen. Bemerkenswert dabei war, dass es ihnen gelang, sich trotz aller Heterogenität hinter einheitliche Kernforderungen zu stellen. Die sozialen Lagen des kleinen Biobauern gegenüber dem Viehzuchtgroßbetriebsleiter könnten unterschiedlicher kaum sein, aber die Abhängigkeit von den Subventionen einte den Protest. Genau diese Subventionsabhängigkeit rechneten Liberale in der verkürzten Annahme den Bauern vor, dass gesellschaftlicher Nutzen und Marktfähigkeit immer zusammenfielen. Die Linke wiederum versuchte den Protest in für sie verständliche Codices zu übersetzen. Entweder war man gegen die Proteste, weil sich auch rechte Kräfte daran beteiligten oder man war dafür, weil man der Ampelregierung mit eins auswischen wollte. Von einer auf materialistischer Klassenanalyse basierenden Einschätzung der deutschen Agrarökonomie ist man hierzulande dagegen noch meilenweit entfernt.
In anderen Teilen der Welt ist die marxistische Forschung da weiter und elaborierter. Gerade in der Peripherie und Semiperipherie ist die Landbevölkerung nicht nur relativ größer, sondern stellt mitunter die absolute Mehrheit der werktätigen Bevölkerung. Und dort grassiert die Armut und damit der Wille zum radikalen Wandel nicht nur in den Städten. Für dortige Kommunisten ist es daher sehr wichtig, die Lage der Bauern und ihre Schichtung hinreichend zu verstehen, um Ihnen ein überzeugendes politisches Angebot zu machen. Paramjit Singh und Mukesh Kumar von den Universitäten in Panjab und Toronto haben den Exploitation‐Index zur Kategorisierungen der bäuerlichen Klassen in Indien untersucht. Ist jeder, der Landarbeiter anstellt, gleich ein Ausbeuter? Reicht die Fläche des Bodens aus, um auf die soziale Stellung zu schließen? Und wie wirkt sich die zunehmende Mechanisierung in der Landwirtschaft aus?
Die Problemstellung: der Exploitation‐Index
Nicht nur in den imperialistischen Zentren, sondern auch in der kapitalistischen Peripherie haben sich die sozialen Verhältnisse auf dem Land in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Große Teile der agrarischen Produktion sind mittlerweile in globale Lieferketten eingebunden. Während auf der einen Seite nun ein immer größerer Teil der Bevölkerung von Proletarisierung und Kommodifikation betroffen sind, haben sich damit allerdings auch die sozialen Beziehungen verkompliziert. Die Verhältnisse in der Mehrwertproduktion sind nun weltweit vernetzt und können nicht mehr nur in Hinsicht auf einen Stadt‐Land‐Dualismus betrachtet werden. In den letzten Jahren hatte dies zur Folge, dass sich linke Forschungsschwerpunkte weg von der Klassenanalyse hin zu popularen Erklärungsmustern entwickelt haben. Allerdings haben es diese Ansätze nicht vermocht, die zunehmende Ungleichheit innerhalb des agrarischen Sektors adäquat zu beschreiben.
Klassenmodelle haben also keineswegs ausgedient, aber sie bedürfen beständiger Anpassung. Paramjit Singh und Mukesh Kumar nehmen ein Modell von U. Patnaik aus den 60er und 70er Jahren zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Dieses differenziert die Landbevölkerung entlang einer Skala auf dem so genannten Exploitation‐Index. Patnaik versuchte mit diesem, die Betrachtungen Lenins und Maos Klassenanalyse der Landbevölkerung zu operationalisieren. Dieser Exploitation‐Index E setzte die durch den Familienhaushalt geleistete Arbeit in einer Verhältnis zur eingekauften oder verrichteten Lohnarbeit auf dem eigenen oder gepachtetem Land.
Hi und Ho sind hierbei die eingekaufte bzw. die verkaufte Arbeitszeit, F die Familienarbeitszeit. Für einen vollständig agrarproletarischen Haushalt strebt dieser Index gegen die negative Unendlichkeit, zum Beispiel, wenn kein Feld da ist, um Familienarbeit zu leisten, aber die Familienmitglieder für Lohn arbeiten. Umgekehrt streben kapitalistische Haushalte, in denen die Familienmitglieder selbst keine Arbeit mehr verrichten müssen und sämtliche Tätigkeiten durch gekaufte Arbeit verrichtet werden, gegen die positive Unendlichkeit. Dazwischen lassen sich nun Klassen wie arme Bauern, Kleinbauern, mittlere Bauern und Großbauern ausdifferenzieren und deren quantitative Größe bestimmen.
Der Modifizierte Exploitation‐Index
Die Funktionsweise des Exploitation‐Index ist ziemlich offensichtlich. Die Klassenzuordnung erfolgt nicht über Besitz oder Einkommen, sondern darüber, ob jemand seine Arbeitskraft verkaufen muss oder nicht oder ob sämtliche Arbeit im subsidiär im Familienverband organisiert wird. Singh und Kumar halten diesen Index jedoch aus drei Gründen nicht mehr für zeitgemäß. Erstens erfasse der E‑Index nicht jene Arbeit, die zwar von Farmern gekauft werde, aber nicht im agrarischen Bereich stattfindet. Gerade in entwickelteren landwirtschaftlichen Regionen ist die Weiterverarbeitung direkt an den Betrieb angeschlossen. Damit gibt es auch viele Arbeiter auf dem Land, die ihre Arbeit nicht mehr für die Feldarbeit verkaufen, sondern in der primären Weiterverarbeitung. Diese Klasse, sowie die gegenüberstehende Bourgeoisie würde vom herkömmlichen E‑Index nicht mehr erfasst.
Eine zweite neue Entwicklung sei die Absenz der Landbesitzer. Es komme immer häufiger vor, dass große Firmen oder auswärtige Anleger den Boden aufkauften, um ihn jedoch nur zu verpachten und nicht selbst zu bestellen oder bestellen zu lassen. Auch hier gibt es wieder die umgekehrte Seite. Viele Bauern müssen Boden pachten und kaufen nur deshalb Lohnarbeit ein, weil ansonsten der Gewinn nicht ausreichend wäre, um die Pacht zu bezahlen, obwohl der Selbstbehalt nicht groß über den Lohn der Arbeiter hinausgeht. Ein rein arbeitszentriertes Konzept könnte hier nicht zwischen einer akkumulationsgetriebenen Beschäftigung von Arbeitern oder ein durch die Pacht notwendigen unterscheiden.
Und drittens hat die Mechanisierung der Landwirtschaft eine immer größere Bedeutung erlangt. Damit einher geht die Beschaffung preisintensiver Produktionsmittel, zum Beispiel Traktoren. Insbesondere arme, kleine und mittlere Bauern können sich jedoch die Anschaffungskosten nicht leisten und müssen die Maschinen mieten. Der eingenommene oder abgeführte Mietzins für den benötigten Maschinenpark kann hier zu erheblichen Verzerrungen der wahren Klassenposition führen.
Mit diesen drei zusätzlichen Erwägungen haben Singh und Kumar nun den Modifizierten Exploitation‐Index ausgearbeitet:
Dabei drückt X erneut die Differenz zwischen gekaufter und verkaufter Arbeitszeit aus, allerdings mit dem Unterschied, dass nun auch der Verkauf von Arbeitskraft in den verarbeitenden Sektor mitgezählt wird. Y drückt die Differenz zwischen verpachtetem und gepachtetem Land aus und Y die Differenz zwischen vermieteten und gemieteten Maschinen. Ein Beispiel: Wenn eine bäuerliche Familie sowohl Landarbeiter*innen zeitweise anstellt, Land verpachten kann und Maschinen verleiht, dann sind alle drei Summanden im Zähler positiv und der gesamte Index wird positiv. Muss sie hingegen Teile der Arbeitskraft verkaufen, Land selbst pachten und Maschinen mieten, sind X, Y und Z negativ und der MEI wird negativ.
Die Schwierigkeit bestand im Wesentlichen darin, alle in der Zählersumme ausgedrückten Größen auf die gleiche Einheit zu bringen, und zwar die Arbeitszeit. Beim Pachtland haben die Autoren den Pachtpreis durch den durchschnittlichen regionalen Tageslohn geteilt. Dieses Vorgehen folgt zwar einer umstrittenen monetären Wertinterpretation, sollte den Bedürfnissen der Analyse jedoch genügen. Ähnlich wird die Maschinenpacht mit dem Durchschnittslohn verglichen. Die Erwägung hierbei ist, dass genau dieser Gleichgewichtspreis den Pächter davon abhält, nicht lieber die billigere Arbeitskraft zu kaufen und der Verpächter damit nicht mehr verlangen kann. Fragen des Einflusses der Maschinen auf die Produktivität oder überhaupt mögliche Anbautechniken wurden hier ausgeklammert.
Agrarklassen
Das besondere des Modifizierten Exploitation‐Index ist nun, dass nicht nur ein einzelner Zahlenwert Aussagekraft besitzt, sondern auch die Höhen und Verhältnisse der einzelnen Teilgrößen relevant sind. Zum Beispiel kann der MEI in zwei verschiedenen Fällen gegen die positive Unendlichkeit streben. Entweder, weil F gegen 0 geht, also keine Familienarbeit verrichtet wird. In diesem Fall ist eine Abwesenheit des Besitzers vom Boden anzunehmen und es handelt sich um einen reinen Verpächter. Strebt der MEI aber gegen die positive Unendlichkeit, weil X, Y oder Z zusätzlich zu F=0 ansteigen, dann haben wir es mit einem feudalen und kapitalistischen Grundherren zu tun. Ist der MEI größer gleich 1, wobei mehr Arbeit gekauft als durch die Familie verrichtet wird, zählt der Haushalt zu den reichen und bourgeoisen Bauern. Die mittleren und kleinen Bauern vereint, dass der Betrag der verkauften oder gekauften Arbeitskraft kürzer als die Familienarbeit andauert, sie trennt, ob der MEI noch positiv oder negativ ist und ob sie über Maschinen selbst verfügen oder sie mieten müssen.
Am unteren Ende des Spektrums befinden sich die armen Bauern, die einen großen Teil des familiären Arbeitsvermögens für Lohn verkaufen müssen, um Pacht und Maschinenmieten zu zahlen und noch darunter die landlosen Agrararbeiter*innen. Bei diesen ist F = 0, da sie über keinerlei subsidiären Strukturen verfügen, sondern ihre gesamte Existenz vermittels Lohnarbeit zu bestreiten haben.
Empirische Ergebnisse
Die beiden Forscher haben abschließend empirisch untersucht, inwiefern sich die Klassenzusammensetzung der Landbevölkerung durch den Modifizierten im Vergleich zum konventionellen Exploitation‐Index anders darstellen würde. Dazu haben sie jeweils ca. 250 Haushalte aus einer eher rückständigen und einer modernen Agrarregion untersucht. Ein erstes Ergebnis war, dass der Index kaum mit der Fläche des Ackerlandes korrespondiert. Zwischen 2,5 und 5 Hektar wären genauso 61 arme Bauern, wie 17 kapitalistische Rentiers zu finden gewesen, was die Erklärungsmacht dieser Größe natürlich stark beschränkt.
Als zweites zeigten sich große Unterschiede zwischen entwickelten und rückständigen Regionen. Während es in zweiterem kaum reine Agrarabreiter*innen gab, so gehörten 15 Prozent der Flächen abwesenden Grundbesitzern, welche mit den Flächen spekulierten. In den entwickelten Regionen hingegen war die vollständig proletarisierte Bevölkerung auf 12 Prozent gegenüber 5 Prozent angewachsen. Je entwickelter die Region war, desto ausdifferenzierter wurde auch die weitere Klassenlage. In rückständigen Regionen machten arme und kleine Bauern die absolute Mehrheit der Bevölkerung aus, in den entwickelten Regionen haben selbst alle Gruppen unterhalb der mittleren Bauern keine Mehrheit.
Das dritte Ergebnis war, dass der konventionelle Exploitation‐Index einen starken Trend zur Mitte und damit zur Verwischung der Klassenunterschiede aufzeigt. Er überschätzt über alle Regionen die mittlere Bauernschaft um das Doppelte, in rückständigen Regionen liegt der Wert beim Vierfachen des MEI. Das ist schon ein bemerkenswerter Befund, da normalerweise eine Erweiterung der berücksichtigten Daten zu einer Tendenz zur Mitte führt. Nur an den extremen Rändern der reinen Landbesitzer und Kapitalisten, beziehungsweise der armen Bauern und der reinen Arbeiter sind beide Indices de facto identisch. Der MEI kann also die Klassenspaltung auf dem Dorf wesentlich sichtbarer machen.
Zusammenfassung
Ließe sich der Modifizierte Exploitation‐Index nun auch auf die deutsche Landbevölkerung anwenden, um deren Klassenzusammensetzung zu analysieren? Ganz allgemein spricht wenig dagegen und eine solche Analyse würde wohl einige spannende Einsichten befördern. Während der Diskussion um die Bauernproteste wurde recht deutlich, dass hierzu in linken Kreisen kaum statistisches Wissen vorhanden ist, um einzuordnen, wie groß jeweilige Gruppen sind, die von bestimmten politischen Maßnahmen betroffen sind. Zu häufig regiert hier noch selektive Wahrnehmung und anekdotisches Wissen.
Natürlich gibt es einige sehr einschneidende Randbedingungen. Erstens muss natürlich das gesamte Subventionsregime berücksichtigt werden, durch das die Landwirtschaft nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern im Kontext der Reproduktion des Gesamtkapitals. Zweitens sind Land und Stadt in Deutschland wesentlich enger verzahnt als in Indien, schon alleine weil Distanzen kleiner und die Infrastruktur besser ausgebaut ist. Hier wären Wohn‐Arbeits‐Muster stärker zu berücksichtigen. Wie Singh und Kumar schon für Indien feststellten, ist jedoch auch das Netz von Landwirtschaft, primärer Verarbeitung und Distribution wesentlich dichter geknüpft als vor einigen Jahrzehnten. Drittens ist die Maschinenvermietung in Deutschland kaum ein Faktor; das Problem der Verpachtung stellt sich allerdings hierzulande nicht weniger als in Indien. Stichworte sind hier Land Grabbing und die Konkurrenz in der Flächenausschreibung.
Die Frage ist letztendlich, ob die theoretisch‐empirische Aufarbeitung der Agrarfrage der deutschen Linken die Mühen wert wäre. Eine dezidiert marxistische oder sozialistische Forschung in diesem Bereich ist kaum etabliert. Der Aufwand wäre also hoch. Die wenige bestehende kritische Agrarwissenschaft verengt ihren Blick zumeist auf ökologische Fragen. Die rein quantitative Bedeutung des Agrarsektors, dessen wesentliche Zielgruppe einer Linken – in der Landwirtschaft tätige Arbeiter – gerade einmal 200.000 Leute umfasst, ist hingegen klein. Gleichzeitig sitzt die Landwirtschaft an einer Schlüsselposition, wenn es ernst mit dem ökologischen Sozialismus meint. Das Aufbrechen imperialistischer Strukturen und ein geplanter ökologischer Umbau werden an der Ernährungs‐ und Flächenbewirtungsfrage nicht vorbei kommen. Die Mühen könnten sich also als fruchtbar erweisen.
Literatur
Kumar, M. & Singh, P. (2024): How to differentiate peasant classes in capitalintensive agriculture? In: Journal of Agrarian Change. Online First. DOI: 10.1111/joac.12566.
Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz, im Gegensatz zum Original wurde auf gendern nach Rücksprache mit den Autoren verzichtet
Bild: Bauernproteste in Indien 2021 (
CC BY‐SA 4.0 Deed)
»dass die Bauernschaft als politisches Subjekt nicht ganz aus dem Fokus der Linken verschwinden sollte.«
Wirklich.Hört doch endlich auf mit Eurer Weltzwangsbeglückerei. Ihr entlarvt Euch doch ständig selbst:
ihr seid eine nutzlose Gruppe die sich als Retter anderer aufschwingen will – ohne jeden Kontakt zu diesen anderen.
Die »Proletarier« genauso wie die Bauern wollen und brauchen Euch nicht. Ihr seid selbst‐entfremdet. Und Eurer Aktivismus, oft »gegen rechts«, dient zu nichts anderem, als das SPALTE UND HERRSCHE! der Bedrücker und Ausbeuter am Laufen zu halten. Wenn man die Slogans verschiedener »linker« Gruppen und die WEF‐Agenda nebeneinander hält, so überschneiden sich diese in vielen Punkten 1:1.
Spätestens wenn man gesagt bekommen hat, dass die eigenen Ziele doch seltsamer Weise mit denen der Bedrücker und Ausbeuter fast völlig übereinstimmen (Globaliserung, Weltkontrolle, Migrationsförderung, Genderwahn, Virenwahn, »Klimagerechtigkeit«, …, oft alles nur noch härter und extremer formuliert) sollte man sich doch als angeblich antikapitalistisch aufgestellt mal endlich Gedanken machen, …
Werte Kollegen
SO werdet Ihr nicht zum Magazin der Masse. Euer Anspruch in allen Ehren, aber Eure sich marxistisch gebende Analysen und Sprache sind zwanghaft. Sie passen nicht in die Zeit, eher in die Zeiten des zugespitzten Klassenkampfes zwischen den beiden Weltkriegen. diese Zeiten aber sind lange vorbei, nur einige wollen es anscheinend nicht wahrhaben. Es gibt heute keinen Klassenkampf mehr. Also löst Euch endlich von dieser Sprache. Sie kommt bei den Werktätigen nicht an. Das ist der Versuch der Bewusstseinsvermittlung mit dem Holzhammer.
Damit ihr mich nicht willentlich oder unbewusst falsch versteht. Ich bestreite keineswegs die Existenz von Klassen. Diese Struktur hat sich nicht geändert. Nur es findet kein Kampf zwischen den Klassen statt. Weder die Proletarier noch die Gegenseite verstehen sich heute als Klasse. Sie handeln nach ihren Interessen – mehr oder weniger bewusst. Aber sie handeln nicht als Klassenmitglieder, die sich als solche verstehen und sich ihres speziellen Klasseninteresses bewusst sind. DAs war der Fall zwischen den beiden Weltkriegen. Da stand ein klassenbewusstes Proletariat einer Bourgeoisie gegenüber, die die inneren Widersprüche unterdrückte, um gegen die Gefahr des heraufziehenden Sozialismus zu bestehen. Das ist aber heute nicht der Fall. Wir haben derzeit KEIN klassenbewusstes Proletariat. Also redet und argumniert nicht so, als lebten wie noch in solchen Zeiten. Die Klassenbewussten müssen sich darüber Klarheit verschaffen, WIE Klassenkampf heute aussieht. Das ist zum einen die Unterstützung der Bauern. Nicht weil man darin irgendwelche klassenkämpferischen Teile zu erkennen glaubt und diese scheinmarxistisch begründet. Die Bauern müssen unterstützt werden, weil sie einerseits für wirtschftliche Interessen kämpfen, die für viele Menschen Bedeutung haben. Nur wer an diesen Protesten teilnimmt, kann politisch wirksam werden. Politisch bieten sie die Möglichkeit, den Prozess der Bewusstwerdung über die Klassenverhältnisse voran zu treiben. Aber dazu müssen wir vernünftige und zeitgemäße Sichtweisen vortragen, mit denen die Leute etwas anfangen können. Mit Klassenkampfgetöse ist heute niemandem genutzt. Da stellt man sich ins Abseits. Aber wenn wir die Forderung der Bauern, die sie leider derzeit nicht weiterverfolgen, nach der Senkung der CO2‐Preise immer wieder zur Sprache bringen, dann kann daraus eine Mobilisierung über den Kreis der Bauernschaft hinaus entstehen. Das aber scheinen die Bauern nicht zu sehen oder sie haben sich bereits davon verabschiedet. Wenn es ihnen aber nicht gelingt, denProtest auf weitere Kreise der gesellschaft auszudehnen, dann dürften auch ihre speziellen Forderungen Schiffbruch erleiden.
Nun habe ich Euren Auftritt kritisiert. Ich hoffe, ihr könnt es verkraften und erkennt dahinter den Wunsch, voranzukommen.
Lieber Rüdiger, bis auf den Satz, es gäbe keinen Klassenkampf mehr, sehe ich das durchaus auch so. Aber auch wenn es bei den Schaffenden (Arbeiter, Angestellte, Handwerker …) kein Klassenbewußtsein gibt, so findet durchaus Klassenkampf von oben statt – und die haben Klassenbewußtsein. Es ist aber klar für mich, daß marxistisch‐leninistische Fachtermini in internen Diskussion durchaus am Platz sind, aber nicht in der Außenkommunikation.
Daher immer auf zu neuen Siegen und herzliche Grüße nach Trier von Luxemburg
Jean‐Marie Jacoby