Klingbeil ist wirklich gut darin, Vernunft vorzutäuschen. Und er nutzt zwar die Dämonisierung von Putin, aber ihn treibt kein notorischer Russenhass. Seine Variante ist indes schlimmer: Er wirft Putin »imperialistische Großmachtfantasien« vor, und betreibt sie selber.
Es gab einmal einen großen Vorsitzenden der SPD, der sagte: »Diesem System keinen Mann und keinen Pfennig.«
Das war August Bebel. Lars Klingbeil, der aktuelle Vorsitzende dieser Partei, hat eindeutig nichts mehr mit ihm zu tun, er steht eher in der Tradition eines Friedrich Ebert, wenn nicht gar eines Gustav Noske.
Sein hervorstechendstes Talent ist es, sich in die Tasche zu lügen. Das kann man in dem Interview mit Paul Ronzheimer von der Bild-Zeitung gut beobachten – Ronzheimer ist nun wirklich eingefleischter Russenfresser, aber verglichen mit Klingbeil ist er geradezu beinharter Realist. Klingbeil meint eindeutig, wenn die Wirklichkeit seiner Erwartung widerspricht, desto schlimmer für die Wirklichkeit.
Ein schönes Beispiel dafür liefert er in seiner Bemerkung zu dem jetzt vorgelegten Haushaltsentwurf:
»Deswegen war es für mich ganz wichtig, bei dem Abschluss jetzt der Haushaltsberatungen, dass wir nicht zulassen, dass Sozialstaat, also Leistungen für Rentnerinnen und Rentner und Alleinerziehende und Menschen mit Behinderung gegen notwendige industriepolitische Investitionen, gegen Ukrainehilfe ausgespielt wird, sondern dass alles drei weiter möglich wird.«
Als wären nicht die Inflation ebenso wie die Notwendigkeit dessen, was er »industriepolitische Investitionen« nennt, weitgehend die Folge politischer Entscheidungen, an denen seine Partei in Regierungsverantwortung beteiligt war. Ebenso übrigens wie daran, dass es überhaupt jemals zu einer »Ukrainehilfe«, die man ehrlicherweise lieber Ukrainesterbehilfe nennen sollte, gekommen ist. Schließlich war Frank‐Walter Steinmeier der Außenminister, dessen verlogene Manöver schon beim Ablauf des Maidan‐Putsches eine wichtige Rolle spielten, und der die Minsker Abkommen mit ausverhandelt hat, die nach Eingeständnis von Ex‐Bundeskanzlerin Angela Merkel von westlicher Seite nie ernst gemeint waren.
Klingbeil, der übrigens ebenso sehr Rheinmetall‐Lobbyist ist wie Marie‐Agnes Strack‐Zimmermann, erzählt nebenbei ein sehr aufschlussreiches Detail. Der für das Thema Ukraine zuständige General sei Christian Freuding. Der wiederum war im Jahr 2014 der Adjutant der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die durch einige exquisite Kapriolen auffiel. Da ist beispielsweise die nach wie vor unaufgeklärte Geschichte rund um die vermeintlichen OSZE‐Beobachter, die in Slawjansk festgesetzt wurden, nachdem sie in Zivil aufgegriffen wurden, woraufhin Flintenuschi das KSK einsetzen wollte. Dann ist da ihre plötzliche Behauptung, die OSZE habe deutsche Friedenstruppen für den Donbass angefordert, woraufhin sie 200 Fallschirmjäger in Bereitschaft versetzte.
Von der Leyen war also bereits 2014 geradezu davon besessen, irgendwie deutsche Truppen zu verwickeln, und Freuding war dabei ihre rechte Hand. Und wenn man Klingbeils Ausführungen lauscht, klingt es sehr wahrscheinlich, dass eben dieser Generalmajor Freuding seine Sicht auf die ganze Entwicklung in der Ukraine geprägt hat.
Dabei ist Klingbeil, verglichen mit Bundeskanzler Scholz oder gar mit Annalena Baerbock, ausgesprochen eloquent; es gelingt ihm zumindest wesentlich besser, Gedankentiefe vorzutäuschen. Außer, wenn bei ihm der innere Wehrmachtgeneral hervorbricht:
»Ich war dabei, was ein echt bewegender Moment war, als der erste ukrainische Soldat einen Schuss mit einem Leopard‐2‐Panzer abgegeben hat.«
Für einen Menschen mit Geschichtsbewusstsein eher erschütternd, aber derartiges zu besitzen täuscht Klingbeil nicht einmal vor. Nein, wenn man ihm lauscht, hat man immer wieder den Verdacht, diese ganze sozialdemokratische Führung sei schlicht einem Versprechen von Beute gefolgt. Irgendwann muss der damalige US‐Vizepräsident Joe Biden irgend jemandem aus dieser Truppe, vermutlich Steinmeier, versprochen haben, es gäbe ein Stückchen von Russland im Falle eines Sieges, und seitdem jiepern sie wie eine Hundemeute vor der Treibjagd.
Klingbeil folgt einem Programm. Ein Programm, das schon vor Jahren zu erahnen war, aber jetzt ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt wird: die Umgestaltung der EU in einen Militärblock unter deutscher Führung, eine komplette Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft und eine dauerhafte Konfrontationsstellung gegen Russland. Er lobt sich sogar dafür, auf dem letzten SPD‐Parteitag erfolgreich dafür gesorgt zu haben, dass der Satz »Frieden und Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland und nicht gegen Russland« (nebenbei, schlicht eine Tatsachenfeststellung) durch »Wir müssen unsere Sicherheit in Europa vor Russland organisieren« ersetzt wurde.
Klar, Ronzheimer fragt nicht nach Nord Stream, und der Gedanke, dass es weitaus sinnvoller und dringender wäre, die Sicherheit vor den Vereinigten Staaten zu organisieren, bleibt ungedacht. Wobei, das ist durchaus aufschlussreich, spielen die USA bei Klingbeil doch eher nur die Rolle eines potenziellen Risikos, weil nicht nur »gegen meinen festen Wunsch und auch meine Überzeugung« Donald Trump gewählt werden könnte; »auch bei Biden kann es sein, dass sich außenpolitische Prioritäten verschieben.« Aber da ist sie ja dann endlich, die Chance für eine deutsche Führungsmacht, an der Spitze der Panzerdivisionen…
Ronzheimer macht übrigens zwischendrin eine Bemerkung, die recht gut illustriert, wie der Zustand der ukrainischen Streitkräfte tatsächlich ist (sofern man nicht davon ausgehen will, dass das nur daran liegt, dass niemand mit Nazi‐Tattoos mehr nach Deutschland zur Ausbildung geschickt werden soll) – die Plätze für die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland seien nur noch zur Hälfte besetzt. Denn nachdem üblicherweise keine einzelnen Soldaten geschickt werden, sondern Einheiten, ließe sich daraus folgern, wie viel von den ukrainischen Einheiten noch übrig ist. Aber auf diesen Punkt gehen weder Ronzheimer noch Klingbeil näher ein.
Und der SPD‐Vorsitzende wehrt jeden Versuch Ronzheimers ab, ernsthaft darüber nachzudenken, dass Russland gewinnen könnte: »Ich möchte nicht, dass mir in den Mund gelegt wird, dass ich das für wahrscheinlich halte.«
Nicht, dass die Fakten bezüglich der industriellen Kapazitäten nicht schon seit Frühjahr vergangenen Jahres in einer britischen Version auf dem Tisch liegen.
Klingbeil findet dafür eine ganz simple Ausflucht: »Erst einmal ist das so, dass in einer Diktatur Prozesse ganz anders auch beschleunigt werden können als in einer Demokratie.«
Wie gesagt, Klingbeil hat nichts mit Bebel zu tun, aber selbst vor zwanzig Jahren wären Sozialdemokraten noch darauf gekommen, dass der Unterschied rein gar nichts mit »Demokratie« und »Diktatur« zu tun hat. Eigentlich sind es drei Faktoren: der erste ist, dass der Westen Russland so viele Kriege gespendet hat (Tschetschenien und Georgien beispielsweise), dass das russische Militär erhalten bleiben musste. Dann, dass die Deindustrialisierung bei weitem nicht so fortgeschritten war wie im Westen. Und zuletzt, dass es sich weitestgehend um Staatsunternehmen handelt, und nicht um private Konzerne. Gerade den letzten Punkt hätten früher Sozialdemokraten im Tiefschlaf aufsagen können, aber Klingbeil gehört erstens zu einer Generation, die wirklich glaubt, privatwirtschaftliche Strukturen seien effizienter – was hiermit sichtbar widerlegt wäre – und zweitens geht es schließlich um Rheinmetall.
Dass Klingbeil den gesamten propagandistischen Quatsch über Russland nachbetet, ist eigentlich nicht der Beachtung wert, auch wenn ein studierter Politikwissenschaftler zumindest wissen muss, dass Sätze wie »als man Putin hat durchkommen lassen mit der Krim« oder all das restliche »Putin hat« und »Putin will« völliger Unfug sind. Auf jeden Fall tut Klingbeil an diesem Punkt überzeugend so, als könne er nicht bis drei zählen, und Russland bestehe nur aus »Putin«. Nein, wirklich unangenehm, oder eher, erschreckend sind zwei Punkte während des Interviews.
Der eine ist eine beiläufige Formulierung, die erkennen lässt, dass selbst das schlimmste menschliche Leid nicht zu ihm durchdringt und dass er jedes Verbrechen verleugnet, wenn er es nicht sehen will. Seine Art, vom israelischen Feldzug gegen die Zivilbevölkerung in Gaza zu sprechen, jagt kalte Schauer über den Rücken. Er nennt es »die Auseinandersetzung um die Terrorattacken der Hamas«.
Klingbeil, der, kaum war er den Jusos entwachsen, von der Parlamentarischen Linken in den Seeheimer Kreis wechselte, tut sein Bestes, um jede Hoffnung zu zerschlagen, dass sich die deutsche Lage bessern könnte, wäre das Thema Ukraine endlich vom Tisch und wären die Vereinigten Staaten anderweitig beschäftigt. Denn eigentlich passt ihm das gut ins Konzept, ganz nach Steinmeiers Ansage im Jahre 2015, nach der Deutschland Europa führen müsse, um die Welt zu führen. Es gibt Politiker, die die ganze durch die Politik der letzten Jahre ausgelöste Deindustrialisierung und Verarmung im Interesse der USA mittragen, weil sie kein Rückgrat besitzen und vor den Vereinigten Staaten im Staub kriechen. Klingbeil gehört zu einer anderen Sorte. Er wetzt derweil in aller Ruhe das Messer und wartet auf den Moment, an dem diese Vereinigten Staaten aus dem Spiel aussteigen. Denn dann, das kann man merken, wenn man ihm aufmerksam zuhört, käme die deutsche Stunde. Nicht für die Bevölkerung, die ist schließlich dafür da, die Kosten zu tragen, die soll sich schon einmal daran gewöhnen, Gold für Eisen zu geben. Aber für Klingbeils Variante Sozialdemokrat, die sich schon im ersten Weltkrieg für den besten aller wilhelminischen Krieger hielt.
Als Ronzheimer ihn fragt, ob »Europa mit Deutschland als Führungsmacht die USA in der Ukraine ersetzen« könne, erwidert Klingbeil: »Das ist ja ein Krieg, der in Europa stattfindet, und deshalb kann die Frage, ob wir das können, sich gar nicht stellen, sondern es wird so sein, dass wir das dann müssen.«
Eigentlich würde sich eine ganz andere Frage stellen, sobald die Ukraine verloren hat und die USA das tun, was sie in diesen Fällen immer tun, nämlich sofort vorgeben, mit nichts jemals etwas zu tun gehabt zu haben, schon gar nicht mit einer Niederlage. Und es gibt mit Sicherheit viele, die darauf hoffen, dass sich nach einer Runde Katzenjammer in Deutschland dann eine gewisse Besinnung einstellt und vielleicht endlich die ganz wirklichen deutschen Probleme angegangen werden und womöglich ein Weg gesucht wird, diese bleierne Last der politischen Uniformierung für die NATO wieder abzuschütteln. Klingbeil lässt erkennen, dass all diese Hoffnungen vergebens sind. Denn neben jenen, die schlicht den Vereinigten Staaten hinterher dackeln, gibt es eben auch noch die Klingbeils, die in der angerichteten Verheerung eine gute Gelegenheit sehen, eine ältere Version Deutschlands wieder auferstehen zu lassen.
Gegen Ende gibt sich Klingbeil noch einmal nachdenklich und betont, welche Sorgen ihm die »verdammt hohe Verantwortung« mache.
»Ich glaube, wir sind gerade in einer historischen Phase, auf die man zurückguckt in zwanzig Jahren und sich fragt, hat man damals die richtigen Entscheidungen getroffen und die Weichen richtig gestellt.«
Wenn man Klingbeil genau genug zuhört, kann man diese Frage sofort beantworten: Sie sind falsch gestellt. So falsch, wie es nur irgend möglich ist.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker‐Verbandes, von dessen Website freidenker.org der Artikel übernommen wurde, Erstveröffentlichung am 19.12.2023 auf RT DE
Bild: Wahlkampf Landtagswahl NRW 2022 der SPD auf dem Roncalliplatz Köln. Zu Gast waren u.a. Olaf Scholz, Thomas Kutschaty, Lars Klingbeil, Kevin Kühnert, Malu Dreyer, Anke Rehlinger