Angesichts des beispiellosen Preises, den die Palästinenser und der Gazastreifen zahlen müssen, stellt sich unweigerlich die Frage: Warum haben die Hamas und die anderen palästinensischen Widerstandsbewegungen die verheerende Aktion vom 7. Oktober durchgeführt?
Es gibt Leute, die eine schlimme Antwort geben: Sie behaupten, dass der Hamas‐Angriff eine Operation unter falscher Flagge gewesen sei. Dieses Theorem steht auf zwei Beinen: dem falschen Mythos von der militärischen Macht Israels und der Unfehlbarkeit seines Geheimdienstes sowie einer falschen Vorstellung von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung.
Was die Mythen betrifft, so erweisen sich alle Argumente, die sie entkräften, als nutzlos; es ist unmöglich, jene an Mythen glaubende davon zu überzeugen, dass sie, so sehr sie auch Beachtung verdienen mögen, unwahrscheinlich, wenn nicht gar ein Produkt der Phantasie sind.
Was die Vorstellung von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung betrifft, so fällt auf, dass die Gläubigen, wenn sie die Wirkung sehen, sich nur eine mögliche Ursache vorstellen. In Wahrheit – also in der realen Welt – und erst recht in der sozio‐historischen Welt gibt es immer eine Kombination von Ursachen, deren Wirkungen unterschiedlich und oft unvorhersehbar sein können.
Die Argumentation des Verschwörungstheoretikers lässt sich so formulieren: Subjekt A agiert. Subjekt B reagiert. Wenn die Reaktion von Subjekt B erfolgreich ist, folgert der Verschwörungstheoretiker, dass Subjekt A im Dienste von Subjekt B gehandelt haben muss.
Der Trugschluss dieser Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Sie bedeutet, dass nur politische Aktionen, die einen unbestrittenen Erfolg erzielen, echt und frei von Grauzonen sind; enden sie hingegen in einer Niederlage, muss die Hand des Teufels sie manipuliert haben.
Falsche Schlussfolgerungen zum 7. Oktober
Die These, dass der 7. Oktober eine Operation unter falscher Flagge war, hat zwei Folgen.
Die erste Folge führt uns weiter in den klassischsten aller Teufelskreise: Die a priori angenommene Legende von der Unbesiegbarkeit Israels wird im Nachhinein bestätigt, indem man eine diabolische Gerissenheit der politischen und militärischen Führung Israels vermutet. Diese Kommandos müssen im Voraus gewusst haben, was passieren würde. Und sie müssen den Schlag vom 7. Oktober als Vorwand gewählt haben, um den Gazastreifen zu zerstören und den palästinensischen Widerstand ein für alle Mal zu vernichten.
Die zweite Folge dieser Überlegung ist erschreckend und ergibt sich zwangsläufig aus der ersten: Die Zionisten müssten nicht nur die Führung der Hamas, sondern die gesamte Befehlskette des palästinensischen Widerstands beherrschen. Bekanntlich haben nicht nur der Islamische Dschihad, sondern auch die Abu Alì Mustafa Brigaden (bewaffneter Flügel der Volksfront zur Befreiung Palästinas), die Nationalen Widerstandsbrigaden (bewaffneter Flügel der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas) und die Nasir Salah al‐Din Brigaden an der Aktion vom 7. Oktober teilgenommen.
Welche Beweise wurden vorgelegt, um die These von der Operation unter falscher Flagge zu stützen? Keine, außer dem unwahrscheinlichen Gerücht, über das die New York Times berichtete, dass der zionistische Geheimdienst von anderen Geheimdiensten einen Hinweis auf einen »bevorstehenden Angriff« erhalten habe. Leonardo Belloni schreibt dazu:
»Drei Monate vor dem barbarischen (sic) Hamas‐Angriff schrieb der Geheimdienst eines Landes, das Israel seit jeher nahe steht, dass die Hamas versuchen würde, Terroranschläge vom Westjordanland und von Jerusalem aus zu verüben, und nicht vom Gazastreifen aus, wo es bequem ist, eine relative Ruhe zu bewahren, das Leben der Einwohner zu schützen und die Grenzübergänge offen zu halten, damit die Wirtschaft des Gebiets funktionieren kann. […]
»Es heißt, dass ägyptische Dienste ihre israelischen Kollegen gewarnt haben. Wenn das stimmt, sind diese Meldungen oft zu allgemein, um zu verstehen, woher die Gefahr kommt, und um sie zu verhindern.« (LIMES, Oktober 2023, S. 167 [LIMES ist eine italienische Monatszeitschrift, die angeblich mit italienischen Geheimdienstquellen in Verbindung steht und geopolitische Themen erörtert – Anm. d. Übers.])
Jom‐Kippur‐Krieg – ein besonders krasses Beispiel
Es gibt einen noch ungeheuerlicheren Fall, der die falsche Behauptung von der angeblich unfehlbaren Geschicklichkeit und Voraussicht der Israelis entlarvt. Genau an der Schwelle des Überraschungsangriffs der syrischen und ägyptischen Armeen im Jom‐Kippur‐Krieg (6. Oktober 1973) war König Hussein von Jordanien einige Tage zuvor (25. September) vom Mossad nach Tel Aviv gebracht worden, wo er [die israelische Premierministerin] Golda Meir traf. Der König warnte Meir vor dem bevorstehenden syrisch‐ägyptischen Angriff.
Der israelische Geheimdienst alarmierte die Tzahal [die israelische Armee] nicht, weil »es keine Informationen über eine Zusammenarbeit oder spezifische Operationspläne zwischen Syrien und Ägypten gab«. Es ist kein Zufall, dass diese Information [darüber, dass Israel im Voraus informiert wurde] jahrzehntelang geheim gehalten wurde, »wegen des Schadens, den sie der Sicherheit des Staates Israel zufügen würde« und der Legende seiner Unfehlbarkeit (The Times of Israel, 12. September 2013).
Die Nebelwand der zionistischen Propaganda durchdringen
Um die Frage zu beantworten, warum der Widerstand den Angriff am 7. Oktober durchführte, obwohl er die katastrophalen Folgen für den Gazastreifen und seine ohnehin schon geschundenen Bewohner voraussah, sollte man damit beginnen, wie die Dinge wirklich gelaufen sind. Dazu muss man den Nebelschleier der zionistischen Propaganda überwinden, die dazu neigt, die Operation Al‐Aqsa‐Flut als ein wahlloses Massaker an unbewaffneten Zivilisten darzustellen. Die Tatsachen sehen gänzlich anders aus.
Der Angriff am 7. Oktober folgte auf monatelange, sehr gewalttätige Auseinandersetzungen sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen. Laut dem Bericht der Vereinten Nationen vom 21. August war 2023 das Jahr mit der höchsten Zahl an Opfern seit 2005. Nachdem Israel wochenlang alle Grenzübergänge geschlossen hatte und Tausende von Palästinensern daran hinderte, zur Arbeit zu gehen, führte Israel – insbesondere im September – sehr heftige Luftangriffe auf den Gazastreifen durch. Die Bombardierungen wurden erst am 29. September dank der Vermittlung Katars eingestellt.
Als alles ruhig schien, wurde am 7. Oktober um 6.00 Uhr morgens ein noch nie dagewesener Raketenangriff aus dem Gazastreifen auf Israel gestartet – nicht weniger als 5.000 Raketen wurden gemeldet. Dies sollte sich jedoch nur als Ablenkungsmanöver herausstellen.
Zur gleichen Zeit griffen palästinensische Guerillas mit Bulldozern israelische Militärstellungen an, die die riesige Mauer um den Gazastreifen bewachen. Es wurden bis zu fünf Breschen geschlagen. Mit Lastwagen, Motorrädern, Pickups, motorisierten Hängegleitern und Schnellbooten drangen etwa 3.000 Guerillas in israelisches Gebiet ein.
Nachdem die Guerillas die Grenzposten überwältigt hatten, eroberten sie mehrere Polizeistationen und die Orte Nir Oz, Be’eri und Netiv Haasara sowie Kibbuzim in der Nähe des Gazastreifens. Dank eines amphibischen Angriffs im Küstengebiet von Zikim besetzten die Guerillas die Militärstützpunkte Bahat und Nahal Oz und nahmen einige Soldaten gefangen. Gegen 10 Uhr vormittags besetzten palästinensische Kämpfer auch den Militärstützpunkt Re’im.
Enormer Rückschlag für israelischen Staat
Für Israel war es eine schwere Niederlage. In Anbetracht des Überraschungsmoments stimmt es jedoch nicht, dass es keine prompte israelische Reaktion gab. Im Gegenteil, sie war heftig. Dafür gibt es eindeutige Beweise: Berichten zufolge wurden bis zu 1.000 Guerillas (ein Drittel der Gesamtzahl!) getötet und 200 gefangen genommen.
Von den 1.200 israelischen Toten waren 281 Soldaten, 57 Polizisten und 10 Mitglieder des Shin Bet (innere Sicherheit). Wie viele der getöteten israelischen Zivilisten bewaffnete Milizionäre waren, die also im Kampf fielen, ist nicht bekannt, aber den Zeugenaussagen zufolge müssen es viele gewesen sein.
Schließlich bleibt noch zu klären, wie viele der israelischen Zivilisten durch die sehr wütende Reaktion der israelischen Armee getötet wurden, die bereits am 7. Oktober mit schwerer Artillerie und aus der Luft intervenierte. In einem Live‐Telefoninterview mit dem Programm Haboker Hazeh sagte die Israelin Yasmin Porat aus dem Kibbuz Be’eri, dass ein großer Teil der Zivilisten durch das Feuer der Streitkräfte getötet wurde, die auch Kanonen gegen die Gebäude einsetzten, in denen sich die Palästinenser verbarrikadiert hatten.
Diese Nachricht wiederum wurde der Zeitung Haaretz von Tuval Escapa, einem Mitglied der Miliz aus dem Sicherheitsteam desselben Kibbuz, bestätigt, der sagte, dass die Kämpfe stundenlang andauerten und erst endeten, als die israelischen Kommandeure die Entscheidung trafen, »die Häuser des Kibbuz mit Kanonen zu beschießen, um die Terroristen zu eliminieren, ohne zu wissen, ob die Israelis in diesen Gebäuden am Leben oder tot waren«.
Warum hat der Widerstand angegriffen?
Wenn wir also ausschließen, dass die Hamas und die palästinensischen Widerstandskräfte im Auftrag des Feindes handelten, welches Ziel verfolgten sie dann mit ihrem verheerenden Angriff? Haben sie vorausgesehen, dass der Preis für ihren eventuellen Erfolg der Völkermord sein würde, der sich derzeit abspielt? Und wenn sie dies vorausgesehen haben, gibt es eine akzeptable Rechtfertigung für solch einen Preis?
Dass die Operation »Al‐Aqsa‐Flut« ein Erfolg war, wird uns von denjenigen bestätigt, die sich selbst als Freunde Israels betrachten. So schrieb Meir Elran vom Institute for National Security Studies und Direktor des Homeland Security Program:
»Macht, Prestige und Abschreckung des jüdischen Staates in der Region haben einen schweren Schlag erlitten. Je geschwächter die Hamas aus dem Konflikt hervorgeht, desto wahrscheinlicher wird eine Rückkehr zu den Abraham‐Abkommen und eine Normalisierung mit den Saudis. […]
»Bis zum 6. Oktober hätte niemand ernsthaft an Israels Abschreckungsfähigkeit gegenüber der Hamas gezweifelt. Nicht einmal die modernsten Geheimdienste. Es hat nur einen Tag gebraucht, um unsere Annahmen zum Einsturz zu bringen. … Die Chefs von Armee und Geheimdienst haben sich bereits öffentlich zu ihrer persönlichen Verantwortung bekannt. Sie haben ihren formellen Rücktritt bis zum Ende des Krieges aufgeschoben. Es wird eine neue Führung geben, die die Verantwortung haben wird, die schwerwiegenden Fehler, die zu der Tragödie vom 7. Oktober beigetragen haben, zu untersuchen und die Tzahal, unsere Streitkräfte, neu zu organisieren. Sie werden ihre Mentalität und ihren modus operandi ändern müssen.« (LIMES Okt. 23, , S. 46 – 49)
Noch deutlicher sind die Worte des bekannten US‐Journalisten Nicholas Kristof in der New York Times vom 16. November 2023:
»Fünf Wochen nach Beginn dieses Krieges sehe ich keine Beweise dafür, dass Israels Militär die Hamas in signifikanter Weise dezimiert hat, aber es hat eine große Zahl von Zivilisten getötet, den palästinensischen Kampf an die Spitze der globalen Agenda gesetzt, die anfängliche Welle der Sympathie für Israel zerstreut, Menschen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, für Palästina zu marschieren, die Aufmerksamkeit von entführten Israelis abgelenkt und jede Möglichkeit einer baldigen Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi‐Arabien zunichte gemacht.«
Lassen Sie uns die Ziele rekapitulieren, die durch den palästinensischen Angriff bereits erreicht wurden:
- Die palästinensische Frage wurde wieder in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt,
- die Legende von der unschlagbaren militärischen Abschreckung und Selbstverteidigungsfähigkeit Israels wurde untergraben,
- das Kapital an Sympathie für Israel wurde zerstört,
- im Gegenteil, in allen Teilen der Welt wurden riesige Solidaritätskundgebungen für die palästinensische Sache ausgelöst,
- die Abraham‐Abkommen wurden zum Scheitern gebracht, wodurch die Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi‐Arabien verhindert wurde, und
- die interne Krise des zionistischen Regimes wurde verschärft.
Hatte der Widerstand vorausgesehen, dass der Preis für einen eventuellen politischen Erfolg der Völkermord sein würde, der sich derzeit abspielt? Und wenn sie einen solchen Preis vorausgesehen haben, gibt es dann eine akzeptable Rechtfertigung dafür?
Die Antwort ist wohl ein doppeltes Ja. Hier sind also die Anschuldigungen der westlichen Wohltäter, die sich vorbehaltlos auf die Seite Israels stellen, dessen machiavellistische Kriminalität und perverser Zynismus sich gegen die Führer der Hamas und des gesamten Widerstands richtet.
Diese ehrenwerten Herren vergessen den Kontext, der die Mentalität der palästinensischen Kämpfer geprägt hat, einen Kontext, der durch einen rücksichtslosen und unerbittlichen zionistischen Besatzungskrieg gekennzeichnet ist. Zehntausende von Palästinensern wurden von der Nakba [1948] bis 2012 getötet. Allein zwischen 2008 und 2023 wurden rund 6.000 und mehr von Zionisten getötet (Angaben der Vereinten Nationen). Mehrere Tausend wurden im Laufe der Jahrzehnte verhaftet und gefoltert, hinzu kommen Landraub und die Zerstörung von Häusern und ganzen Dörfern. Der Gaza‐Streifen (von Human Rights Watch als »Freiluftgefängnis« bezeichnet) steht seit 2007 unter einer grausamen israelischen und ägyptischen Blockade.
Der deutsche Philosoph Georg Hegel schrieb zu Recht, dass die Geschichte, so sehr sie uns auch »mit Traurigkeit erfüllen und moralische Verwirrung hervorrufen« mag, einer »Schlachtbank« gleicht. Wir fügen hinzu: mit den Unterdrückern immer auf der Seite der Schlächter.
Wer auch immer einen friedlichen Weg kennt, dem Metzger das Beil aus der Hand zu nehmen, möge uns sagen, wie. Wenn er das nicht kann, dann vermeide er das Halten frommer Vorträge mit dem Zweck die Lämmer davon zu überzeugen, nicht zu Wölfen zu werden.
Nachbemerkung der Redaktion: Der Absatz »Der Angriff am 7. Oktober […]« wurde am 27.12 zm 20:25 Uhr korrigiert, da sich Fehler eingeschlichen hatten. Genauso war aus Versehen der Palästinensische Islamische Dschihad als bewaffneter Arm der Hamas bezeichnet worden.
Italienisches Original erschienen in Sollevazione, der Zeitschrift des Fronte del Disseno. Vorliegende Übersetzung wurde auf Grundlage der englischen Übersetzung von John Catalinotto bei Workers World angefertigt
Bild: »Die Flucht der zionistischen Mäuse« von Mohammad Ali Rajabi ist lizenziert unter CC BY 4.0.
Auch dieser Artikel krankt an der Tatsache, dass alle Angaben doch wohl nur aus offiziellen undoder interessierte Kreisen stammen können.
Trau schau wem