Wie russische Medien die Wagner-​Meuterei analysieren

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Das Spektakel vom 23. Juni als ein Militärkonvoi auf Moskau zugesteuert ist, wird sich in die Geschichte einbrennen. Wie verarbeitet das politische Spektrum in Russland das Ereignis?

Die Wagner-​Meuterei war für 24 Stunden ein Medienspektakel sondergleichen. Pro-​westliche Kräfte sahen Putin bereits gestürzt, geschenkt, dass ein Hardliner seinen Platz übernehmen hätte können. Doch so schnell wie der Aufstand begonnen hatte, so schnell verschwand er wieder aus den Medien – Putin ist noch immer da, Alexandar Lukaschenko ist der Mann der Stunde.

Über den Aufstand in Frankreich berichtete der Westen weitaus stiefmütterlicher, obwohl dieser womöglich weit mehr Zerfallserscheinung ausdrückt als die Meuterei der Wagner-​Gruppe. Doch ganz verarbeitet ist das russische Spektakel noch nicht – noch weniger das Französische. Doch heute noch einmal zu Wagner.

Der US-​amerikanische Journalist Riley Waggaman, der schon lange im Russland lebt, hat heute einen Pressespiegel aus russischen Medien auf seinem Blog veröffentlicht. Hier einige Übersetzungen – aus dem gesamten politischen Spektrum – inklusive kleinen Überarbeitungen ins Deutsche.

Military Review (pro-​militärische Hardliner)

Das Nachrichtenportal ist Russlands beliebtestes Portal für nationale Sicherheit. Drei Meinungsbeitrage befassen sich mit der Meuterei.

27. Juni: Was war es und warum? Prigoschin »Marsch der Gerechtigkeit«

Im Kommentar wird behauptet, Prigoschin habe den Umfang seiner Unterstützung in der russischen Öffentlichkeit falsch eingeschätzt: »Er konnte den Unterschied zwischen ›Prigoschin hat wahrscheinlich recht‹ und ›Prigoschin ist unser Führer, er kann tun, was er will‹ nicht spüren.«

Laut dem Autor sei durch den Aufstand aber widerlegt, dass der Konflikt zwischen Wagner und dem Kreml nur Theater gewesen wäre. Es wird auch gefragt, warum der Kreml die Spannungen nicht im Vorfeld ausräumen hat können.

29. Juni: »Ein weiteres tragisches Datum in der modernen russischen Geschichte«

Zwei Tage später schrieb die Military Review in einem anderen Meinungsartikel, dass der 24. Juni als »tragischer« Tag für Russland in Erinnerung bleiben werde – ein Tag, der sorgfältig untersucht werden müsse, um sicherzustellen, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen:

Es besteht kein Zweifel daran, dass das, was geschehen ist, unserem Land als Ganzes und bestimmten Personen im Besonderen – Zivilisten, Militärangehörigen und Kämpfern der PMC Wagner – erheblichen Schaden zugefügt hat. Es hätte jedoch viel schlimmer enden können. Es ist notwendig, das Wesen dieses Konflikts und die Gründe, die zu ihm geführt haben, sorgfältig und genau zu verstehen, damit sich eine solche Tragödie in Zukunft nicht wiederholt.

2. Juli: Der sogenannte »Marsch für Gerechtigkeit« ist ein Weckruf für Russland

Im dritten Meinungsartikel der Military Review wird argumentiert, dass Prigoschins „spezielle Militäroperation« die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit dem Kurs Russlands sowie eine deutliche Spaltung der Elite des Landes offenbart:

Die Kritik an den Unzulänglichkeiten des Systems und den Erfolgen von Bakhmut ließen Prigoschins Popularität in die Höhe schnellen, und er fühlte sich als ›Denunziant‹. Und viele unterstützten ihn und sympathisieren weiterhin mit ihm. Obwohl sich niemand eindeutig auf seine Seite geschlagen hat, zeigen die Fakten seines Einsatzes in Rostow und die Haltung der Bevölkerung und des Militärs ihm gegenüber, dass es ein echtes Problem gibt, und dieses Problem wird von der Gesellschaft erkannt.

Die Gesellschaft ist unzufrieden mit dem wirtschaftlichen Kurs der ›effektiven Manager‹, die das Land in einen Rohstoffabbau verwandeln; die Menschen sind unzufrieden mit dem niedrigen Lebensstandard im Land, insbesondere für die vielen Millionen wirklich armer Menschen.

Natürlich kann man mit der ›gelenkten Demokratie‹ weiterregieren, aber diese Methode wird das Land, wie die Politik der zaristischen Regierung, in die Verwirrung führen. Die Behörden müssen eine Rückmeldung vom Volk erhalten: Sie brauchen eine reale und keine ›mythische‹ Einschätzung der Reaktion des Volkes auf ihr Handeln. Etwas stimmt nicht – es muss sich etwas ändern. Die Unreformierbarkeit eines jeden Systems ist der Hauptgrund für seinen Zusammenbruch.

Svobodnaya Pressa oder deutsch Freie Presse (unabhängiges sozialistisches Blatt)

»Rebellionen entstehen nicht aus heiterem Himmel. Es gibt immer einen Grund«, schrieb einer der Autoren der Website am 25. Juni:

Prigoschin nannte seine Kampagne den ›Marsch der Gerechtigkeit‹. Dies ist kein Zufall. Gerechtigkeit war schon immer ein Schlüsselwort für unser Land. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist in unserem Subkortex verankert. Alle Unruhen, Bürgerkriege und Rebellionen, die in Russland ausbrechen, sind darauf zurückzuführen, dass sich die Menschen betrogen fühlen und ein gerechtes System fordern. […]

Geht es uns heute gut? Natürlich wird jeder sagen, dass es den Oligarchen, den Beamten und den Geschäftsleuten, die den Behörden nahestehen, also denen, die genau wissen, an welche Türen sie klopfen müssen, [gut geht].

Die zig Millionen Menschen, die in den letzten 30 Jahren mehr als einmal von den Behörden ›betrogen‹ wurden, geben eine andere Antwort. Aber was soll ich sagen, es genügt, eine Zahl zu nennen: Ende 2022 lebten in Russland 15,3 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, das sind 10,5 Prozent der Bevölkerung des Landes. Dutzende Millionen weitere Menschen leben am Rande der [offiziellen] Armut.

Nakanune (sozialistisch)

Am 26. Juni veröffentlichte das Blatt einige kurze Kommentare des Politikwissenschaftlers Sergej Tschernjachowski:

Vor einem Monat hörte ich Meinungen, dass sich im Land eine Doppelmacht herausbildet – die an den Zweikampf zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin erinnert –, dass sich ein Teil der militärischen, intellektuellen und finanziellen Elite um Prigoschin konzentriert. Was geschah wirklich, und stellte diese Spaltung eine echte Gefahr dar? Nicht jede Rebellion endet in einer Katastrophe wie 1991. […]

Das Problem ist, dass die Position der militärischen Führung der Russischen Föderation und ihre hohe Passivität Unzufriedenheit und Verwirrung in der russischen Gesellschaft hervorgerufen hat – was sich in Prigoschins emotionalen Eskapaden widerspiegelte. Es ist zwar inakzeptabel, sich im Zusammenhang mit der laufenden Militäraktion gegen die militärische Führung auszusprechen, aber es bleiben viele Fragen an unsere militärische Führung offen.

Katjuscha (konservativ/​orthodox/​pro-​Putin)

Im Telegram-​Kanal (55000 Follower) von Katjuscha veröffentlichte Andrei Tsyganov am 28. Juni seine Analyse:

Die Reihe von ’schicksalhaften Erklärungen‹, die Russland in den letzten zwei Tagen widerfahren sind, haben, gelinde gesagt, Verwirrung gestiftet. (Es ist gut, dass wir Lukaschenko haben).

Putin hingegen sprach viel über den Aufstand und seine »heldenhafte« Niederschlagung – was das Land nicht mitbekam -, aber er sagte nichts über die Ursachen und Voraussetzungen des Aufstandes.

Daraufhin begannen die Russen, den Präsidenten in den sozialen Netzwerken offen auszulachen: Es gibt nicht nur einen Mangel an Bewusstsein [in Putins Äußerungen], sondern einen Bruch mit der Realität und sogar einen grundsätzlichen Unwillen zu sehen, was große Massen von Menschen beunruhigt.

Für uns ist das alles eigentlich schon lange kein Geheimnis mehr. Oder glaubt jemand, dass die Russen wirklich den Bau eines digitalen biometrischen Konzentrationslagers, die Allmacht der globalen Konzerne und Geldbesitzer usw. gutheißen? Dass unsere Soldaten für Nabiullina und Gref kämpfen, damit sie den digitalen Rubel und Sozialratings einführen können, oder für Kirijenko, damit er seine lähmenden und korrumpierenden VK-​Feste für Kinder abhalten kann? … Oder vielleicht für Golikova, die die Interessen der WHO und der Transgender-​Homosexuellen verteidigt? Oder für Manturow, der, anstatt die Produktion zu entwickeln und die Armee zu versorgen, dazu aufruft, auf Lebensmittel aus Fliegenlarven umzusteigen … ?

Das kapitalistische System, das selbst die Idee der Ideologie aufgegeben hat, ist ausschließlich auf den Profit ausgerichtet. Die Oligarchen haben keinen Bedarf an einer starken Armee oder einem souveränen Staat – ganz zu schweigen von der Wiederbelebung des Imperiums. Ist das nicht der Grund, warum sogar unsere Waffenfabriken Privatleuten gehören?

All diese Jahre hat die Gesellschaft versucht, Signale nach oben zu senden. Die Behörden taten zumeist so, als würden sie diese nicht wahrnehmen. Nun, da es zu einem militärischen Aufstand kam, bestand (und besteht) die Hoffnung, dass die Behörden endlich beginnen, das Volk zu hören.

In der Zwischenzeit sehen wir nur Versuche, »unter den Teppich zu kehren« und die Schrauben anzuziehen, indem man Panzer und Waffen an die internen Truppen (Rosgvardia) übergibt und die letzte Insel der Freiheit – Telegram – übernimmt …

Wenn die oberste Macht zuhören würde, würden wir unter anderem von Schoigu Rücktritte erwarten … Schoigu ist seit langem ein Symbol, das sowohl in der Armee als auch in der Gesellschaft eine ganz bestimmte Haltung hervorruft.

Ich durfte bei der ehemaligen Außenministerin Österreichs, Karin Kneissl, die über Russland und den Kreml viel weiß, im Podcast von Flavio von Witzleben den historischen Samstag analysieren. Wer es noch nicht gehört hat – der Podcast ist hier zu finden. Mit Karin Kneissl analysiert ein kennender Blick von außen das Spektakel.

Zuerst erschienen bei tkp​.at und mit minimalen Änderungen übernommen

Bild: Ein Mann mit einer Wagner PMC-​Fahne vor einem Polizeiauto auf der Budennovskiy Avenue in Rostow (Fargoh, wikimedia commons)

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