Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.
Marx, Engels: Die deutsche Ideologie, 1846, MEW 3, S. 35
Eine Theorie ist exakt dasselbe wie ein Werkzeugkasten. Es muss nützlich sein. Es muss funktionieren.
Gilles Deleuze im Gespräch mit Michel Foucault, 1972
Glückliches Leben fragte nicht nach sich
Es mag so aussehen, als hätten wir als Gruppe Schwierigkeiten, ein Programm zu entwickeln, das uns helfen soll, unsere Handlungsweise zu bestimmen, uns nach aussen zu vertreten und nach innen zu versichern, dass wir uns einig sind.
Mit den Schwierigkeiten, die es uns bereitet, uns als Gruppe »auf einen Nenner zu bringen« und die, immer wenn wir entweder tatsächlich oder eingebildet über uns als über uns reden sollen, so präsent werden, gibt es allerdings ein Problem.
Wenn wir den Schwierigkeiten nachgehen, sind die Schwierigkeiten und das Nachdenken darüber schon selbst Produkt dieser Gruppe, die über sich selbst nachdenkt. Und vielleicht sind durch diese Art über sich selbst Nachzudenken schon Fallen errichtet, in die man dann auch selber fällt.
Das würde heißen, dass die Schwierigkeiten, die es uns bereitet, so ein Programm aufzustellen, uns zwar als Gruppe Auskunft gibt, dass aber gleichzeitig alle, die ein Programm aufstellen wollen auf diese Schwierigkeiten stoßen und genau wie wir damit umgehen müssen. Und vielleicht ist an diesem Umgang, wenn er auf die richtige Weise passiert schon selbst viel vom zukünftigen Programm.
Unter den Fragen, die uns die Suche nach einem Programm aufbürdet, ist die: »Wer sind wir?«. Und: »Wer sind wir nicht?«. In diesen Modus des Über‐Sich‐Nachdenkens sind Fragen des Ein‐ und Ausschlusses fest installiert. Sie werden sozusagen gratis mitgeliefert. Also Fragen, deren entgültige Beantwortung Entscheidungen verlangt, Konsequenzen und weitere Fragen zur Folge hat. Bei dieser Art von Selbstbefragung ist Vorsicht geboten, sie kann auf verschiedene Weisen erfolgen. Ist beispielsweise mehr an eine Bestandsaufnahme gedacht, eine Selbstreflektion, eine Rück‐ oder Vorschau? Geht es dabei darum, ein Ideal von uns selbst inmitten von uns zu errichten, in das wir unsere Hoffnungen geben und dem wir dann die restliche Zeit versuchen zu folgen und zu entsprechen? Geschieht es im Modus des Sollens, sodass wir eine Stimme formen, die uns bei zukünftigen Fragen die Antworten und Kommandos eingibt? Müssen wir uns an den Zielen und Träumen der anderen bedienen und uns das heraussuchen, was uns am passendsten erscheint? Finden wir dann im schlimmsten Fall, wenn garnichts passt, heraus, dass wir garnichts sind?
Das wäre zumindest seltsam, wenn bei der Frage nach sich herauskommt, dass die Gruppe überflüssig ist, weil es nichts zu antworten gibt. Das ist gleichzeitig auch die tragischte Version dieser Antwort auf die Frage.
Auf einem anderen Blatt würde nämlich stehen, dass bei diesem Resultat nicht die Gruppe das Überflüssige in der Gleichung darstellt, sondern die Frage.
Das andere Blatt
Ich bin ein grösserer Gegner der Fragen, ich will andere Fragen. Während die Art der Fragen, die man sich anscheinend stellen soll, wenn man ein Programm haben will, sowieso unterwegs sind, nämlich als Fragen die andere über uns anstellen, die diese anderen sich aber auch herausnehmen selbst zu beantworten, will ich eine zweite Art von Fragen. Fragen, die die abstrakte Fragerei nach Identifizierung und Indentifizierbarkeit, nach Sinn und Existenzberechtigung, nach dem eigenen Platz und der eigenen Rolle im Ganzen, ignorieren oder von selbst nebenbei beantworten, wenn man sie sich ehrlich und aufrichtig stellt. Diese Fragen sind garnicht so abgehoben und selbstbezüglich, so drübersteherisch und passiv aktiv auf sich selbst gerichtet, sondern fragen konkret nach Wegen und Mitteln, Möglichkeiten, Chancen, Lücken, Strategien, Tricks, Anwendungen für die eigene Sache. Das Nachdenken über die Gruppe als Gruppe umzumünzen zu einem Selbstbewusstsein der Gruppe, das darauf gerichtet ist sich empfänglich zu machen für praktische Anwendungen, sich zu kanaliseren zu gemeinsamen Tun und bereit zu sein die Möglichkeiten, Chancen, Lücken zu erkennen und willens dazu zu sein sie auch zu nutzen. Das ist ein vollständig anderer Modus, einer, der nicht im tautologischen Kreis seiner eignen Selbstbefragung verrückt wird, sondern der seine Augen von seinen vielen Spiegel‐ und Zerrbildern abwendet um im Aussenrum seiner Wahrnehmung die Objekte seines Handelns erblickt. Alle Fragen werden damit entweder praktisch und zu Fragen der konkreten Umsetzung, Planung und Strategie oder erledigen sich im Laufe dieses Prozesses von Selbst. Alle wichtigen Fragen bedürfen ihrer Erfindung oder Einfalls nicht, sie kommen in diesem Modus von alleine zu uns oder sind schon in der Welt und müssen nur aufgegriffen werden. Die Beantwortung benötigt viel mehr den Erfindungs‐ und Einfallsreichtum in der Weise, was ihre beste Umsetzung ist und an dem allein bemisst sich so eine Gruppe.
We’re running in circles
In der Frage nach sich selbst passiert automatisch etwas merkwürdiges: man tritt sich aus sich heraus, verlässt sich, und betrachtet sich als sein eigenes geisterhaftes Doppel. Im Traum, in der Paralyse und im Augenblick des Todes passieren ähnliche Vorgänge. Auf diese Weise schliesst sich ein Kreis der Identifikation, der einen einsperrt und handlungsunfähig, auf sich selbst bezüglich zurücklässt. Man ist, was man ist. Die Frage »Was tun?« hat vollständig anderen Charakter: sie fragt nach einem sollen, sie will etwas gänzlich anderes als die Antwort, die man schon kennt. Und sie löst die Frage nach der Frage ab nach der Frage einer Handlungsweise, die sich daraus ergibt was man fragt. Diese Frage ergibt sich aus der Lage, der Beschaffenheit, deren Analyse und Kritik der Gegenstände und Geschehnisse. Die Summe dieser Handlungen ergibt dann von alleine »das, was man ist«: ist also Beantwortung und Resultat aller Fragen und auch eine Art des Zeugnisses.
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Der Autor tritt sehr philosophisch auf, um so mehr wundern mich die Wortballungen wie die mit den »Wegen und Mitteln, Möglichkeiten, Chancen, Lücken, Strategien, Tricks, Anwendungen für die eigene Sache«. Ganz zum Schluss gibts dann noch eine zweite solche, und da ist die Rede von »der Lage, der Beschaffenheit, deren Analyse und Kritik der Gegenstände und Geschehnisse«.
Alles in Gegensetzung zur Frage nach dem Selbst, die ersetzt werden soll; eine andre Entgegensetzung ist die von (sinngemäss) »was wir wollen (und was uns darum im Kern ausmacht)« und »was tun«; die erste Frage, so heisst es, werde einem sogar von anderen aufgenötigt.
Das Umschalten, das der Autor vorschlägt, finde ich meinerseits höchst sinnvoll. Aber man sollte den Gegensatz, um den es da geht, schärfer auf den Begriff bringen. Am Ende kommt ja (hoffentlich) auch bei Analytikern, Kritikern der Verhältnisse, den Strategie‐ und Organisationsprinzip‐Entwerfern etwas heraus, das sie, wir dann wollen.
Bloss dass es hinreichend begründet ist durch ein »wie es ist«.
Und nicht durch ein noch höheres Wollen, dem, egal was ist und wie es ist, zur Durchsetzung verholfen werden soll: Ein IDEAL.
Die Begründung durch »wie es ist, was da draussen los ist« hiess mal: MATERIALISTISCH.
Damit war aber (dem Anspruch nach) um Grössenordnungen mehr gemeint als ein sich »realistisch« in und mit den Verhältnissen einrichten, und überhaupt an und in der (gesellschaftlichen) Welt nur denken, was in ihr gerade der Fall ist. So denkjt man nämlich über aktuelle Denk‐ und Handlungsweisen der Leute und deren Resultate wie über (grob gesagt) Dinge, die sich auch nur wie solche ändern und ändern lassen. Mechanisch, gewissermassen.
Tatsächlich handelt es sich hier aber um lebende Dinge (als solche eingefügt in die gesamte Biosphäre), uneingeschränkt lernfähige solche sogar (intelligente also: Personen), und dabei noch verständigungsfähige (da besteht ein Zusammenhang mit der Intelligenz der Personen, aber das führt hier zu weit). Deren Erwartungen, Affekte, erreichte Lernniveaus und Bildungsstände (im weitesten Sinn), die (unerträglich werdenden) Zwänge ihrer Produktion und Produktionsverhältnisse, das drohende Scheitern ihrer Projekte, die Aufgaben, die sich ihnen OBJEKTIV stellen (wenn sie denn weiter leben wollen; was mehr heisst als: zahlreich irgendwie am Leben bleiben), und die gangbaren Wege für Lösungsversuche: All das gehört in einer materialistischen Analyse mit zu dem, was IST.
Man muss es sich aber auch klarmachen wollen.
Die Linke, wenn sie was tun will, muss aufhören Ideale zu kultivieren (das heisst auch, alles von der Gesellschaft und deren »Misständen« her zu denken), und muss endlich anfangen materialistisch zu analysieren (das heisst vor allem, von der PRODUKTION (und den Leuten als Produzenten, die da drin stecken ud zurechtkommen müssen), und deren auf dem erreichten Stand sich stellenden Aufgaben her zu denken).
(Eine Analyse, nebenbei, ist auch eine Wortballung (maW sie ist material‐ und aspektreich, durch‐ und tiefdringend). Aber eine GEORDNETE, die Übersicht erlaubt über ALLES WICHTIGE, das zum Sachverhalt gehört.)
(Wie man damit agitieren geht und in der Öffentlichkeit auftritt, ist eine ganz andre Frage. Analyse ist immer erstmal für uns.)
.Machen »wir« es doch kurz und einfach. Da es in dem Beitrag nicht um Programmatisches geht, sondern um Identität und letztlich Sinn, wäre hier doch eine gute Gelegenheit, die ideologische – in diesem Fall wohl krypto‐theologische – Ausgangssituation des »Fragenden« selbst einer materialistischen Kritik zu unterziehen.
Wer gerade nicht lieber in der Sonne spazieren geht, was zweifellos das Bessere ist, kann sich in dieser Rücksicht ja einmal das Bibelwort »Ich bin der, der ich sein werde« durch den Kopf gehen lassen und mit dem »man ist, was man ist« des obigen Textes in Verhältnis setzten.
Hier die ganze Bibelstelle:
https://www.bibleserver.com/LUT/2.Mose3
Naja…also: wenn´s der Organisation einer kommunistischen Partei dient – ??!
…eine gewissermaßen ontologische Alternative zur theologischen Frage nach der Identität und damit der Intention des Autors vielleicht näherliegend, sei hier dennoch angefügt, insbesondere deshalb, weil sie die Frage »Was tun?« in einer Weise zu beantworten erlauben scheint, die dem selbstbewussten bürgerlichen Subjekt der Moderne bekannter und seinem pragmatistischen Sinn gefälliger vorkommen dürfte:
»Wieder verschlang Polyphem zwei seiner Begleiter. Dann trieb er seine Ziegenherde hinaus und verschloss den Eingang sorgsam mit dem Felsen. Da ersann der listige Odysseus einen Plan. In der Höhle lag die Keule des Kyklopen, so lang und dick wie ein Mastbaum. Davon schlugen sie einen Teil ab, spitzen es zu und härteten es im Feuer. Damit wollten sie den Kyklopen blenden. Als Polyphem heimkehrte, verschlang er wieder zwei Gefährten des Odysseus. Dieser trat mutig zu dem Kyklopen und bot ihm von dem süßen Wein an. Gierig trank er davon und wurde sogar ein wenig freundlicher. »Schenk mir noch ein«, sprach der Kyklop zu ihm, »und nenne mir deinen Namen, damit auch ich dich bewirten kann.« So schenkte ihm Odysseus fleißig nach und sprach zu ihm »Niemand ist mein Name, denn Niemand nennen mich alle, meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen.« Zum Dank versprach der Kyklop, ihn erst zuletzt zu verspeisen.
Betrunken legte der Kyklop sich zum Schlafen niederlegte. Da holten sie den Pfahl aus seinem Versteck und steckten die Spitze in die glühende Asche bis sie Feuer fing. Mit aller Kraft stießen sie ihn in das Auge des Kyklopen. Über die ganze Insel hallte das klägliche Schreien des Polyphem. Die anderen Kyklopen eilten sofort herbei und fragten, was ihm widerfahren sei. Polyphem antwortete: »Niemand würgt mich mit Arglist!« Da lachten sie nur und gingen wieder.«
…wie man sieht: eher etwas für Handlungsreisende.
Was soll es, wenn das Geschriebene hier nicht zum Austausch, zur Aktualisierung, zur Entwicklung dienen soll?
Daraus meine Frage Nr. 1: Wen denken Sie von denen, die es richten sollen und müssen, zu erreichen? Die Frage ist rhetorisch, da die Antwort hinlänglich aus der Praxis bekannt ist.
Frage 2: Etwas, das als richtig, als wahr erkannt wurde, braucht nicht neu gefragt zu werden. Erkennt man z.B. materialistische Dialektik als richtig und in der Wirkung bewiesenes Denkwerkzeug an, erübrigen sich eine Reihe von Gedanken im Text. Dennoch offenbaren sie ungewollt einen Sinn. Z.B. den zutiefst idealistischen Satz (Selbstauffassung) zu sein, was man sei. Der leugnet die dauernde Entwicklung als Daseinsform der Materie – mithin ein Axiom für marxistische Gesinnung.
Frage 3: Jetzt muss es persönlich werden. Sprache, resp. Sprachgebrauch, ist bekanntlich und anerkanntermaßen unmittelbarer Ausdruck des Denkens. Und das in allen seinen Qualitäten und Quantitäten. Auch das anerkennend ruft der Zusammenhang, rein dialektisch, ein Urteil hervor. Semantik, Semiotik und Syntax sind im Deutschen streng logisch und so zu gebrauchen, will man eine klare Aussage treffen.
Frage 4: Die Absichten und Haltungen des Verfassers sind meist und grundsätzlich erkennbar. Wenn er/sie es ernst meint und an persönlicher Entwicklung, Selbstaktualisierung durch materialistische Selbstkontrolle interessiert ist, ist seine/ihre eigentliche Frage nach dem Programm längst und umfassend wie gleichzeitig und konzentriert beantwortet – im Kommunistischen Manifest.