Die Weltkarriere einer Perchtenfigur

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Ein Kostüm mit Vogelschnabelmaske und gewachstem Mantel ist wohl das häufigste Motiv der Medizingeschichte. Selbst in Kreisen der Fachhistoriker gilt der bedrohlich wirkende »Schnabeldoktor« als gesicherte Schutzkleidung von Ärzten in Zeiten der Pest. Aber warum datiert die früheste Abbildung aus dem Jahr 1661, als Seuchenereignisse im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrhunderten stark rückläufig waren und die letzten großen Pestereignisse kurz bevorstanden? Wieso fehlen bis dahin nicht nur Bilder, sondern auch die Erwähnung eines solchen Outfits in Dokumenten über die Pest? Wieso hätten sich Ärzte überhaupt einen derartigen Mummenschanz zugemutet, wenn sie mehrheitlich eine Krankheitsübertragung von Mensch zu Mensch damals gar nicht für möglich hielten?

Das erstmalige Auftauchen einer derartigen Zeichnung in der 1661 erschienenen Sammlung anatomischer und medizinischer Merkwürdigkeiten des dänischen Arztes Thomas Bartholin (1616 – 1680) lässt erkennen, dass die Bekleidung als Kuriosität wahrgenommen wurde. Bartholin kannte sie nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich von einer Abbildung, die er aus Rom zugesandt bekam. Die Zuordnung als »Kleidung eines Arztes in Seuchenzeiten« stammt nicht vom Urheber des Blattes in Italien, sondern von ihm. Ein Bezug zu einer Pest von 1656 in Rom ist spekulativ. Dass der Vogelschnabel als Vorsatz für Duftstoffe gedient hätte, um bei Krankenbesuchen beide Hände frei zu behalten, erscheint äußerst fraglich.

Auch die Darstellung eines ähnlichen Kostüms in einer Monographie des Genfer Arztes Jean-​Jaques Manget von 1721 beruht ebenfalls lediglich auf Literaturstudien und Annahmen des Autors, nicht aber auf dessen persönlicher Erfahrung. Manget war sicher für jede angsteinflößende Vorspiegelung anfällig, da er sich in seiner Schrift über die Pest als Abriegelungsfanatiker erweist, der jeden Lockdown-​Brecher am Galgen sehen wollte. Der von Charles Delorme (1584 – 1678), einem Leibarzt Ludwigs XIII., zur Reinigung der Atemluft konstruierte Nasenvorsatz soll jedenfalls anders ausgesehen haben. Für den alleinigen Schutz vor üblen Gerüchen am Krankenbett hätte es eine kleinere Pappnase getan und diese wäre dann auch nicht auf Seuchenzeiten beschränkt geblieben.

In medizinischen Traktaten der Renaissance wird jedenfalls keine spezielle Vermummung für Pestärzte erwähnt. Nirgends gehen Empfehlungen über eng anliegende Kleidung mit möglichst dichten und Flüssigkeiten abweisenden Stoffen hinaus. Ärztliche Schutzkleidung kam erst mit der Akzeptanz bakteriologischer Erkenntnisse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. Handschuhe und Gesichtsmasken für Operateure waren selbst um 1900 noch nicht überall obligat. Die gesamte Verkleidung des »Pestdoktors« mit fehlenden Atemlöchern, einem zu großen Abstand zwischen den seitlich am Kopf befindlichen Glasaugen und Vogelschnabel erscheint praxisuntauglich. In medizinhistorischen Museen in Ingolstadt und Berlin verwahrte Exemplare sind weder klar datierbar, noch weisen sie Gebrauchsspuren auf.

Die detaillierte Betrachtung und die Kenntnis naturreligiöser Bräuche legt eine andere Verwendung nahe. Mit krallenförmig ausgezogenen Fingern der Handschuhe, an den Schuhspitzen montierten Vogelfüßen und einer Rute in der Hand spricht alles für das Kostüm eines Vogelmenschen, der jahrhundertelang unter den mythischen Umzugsfiguren in den Rauhnächten seinen festen Platz hatte.i Die Harlekinsfigur des Papageno in Mozarts Zauberflöte ist die künstlerische Überhöhung dieses Topos. Das Berliner Maskenexemplar stammt aus Österreich, wo das Perchtenlaufen bis heute Tradition hat. Deren »Schnabel« imponiert eher als Horn und entspricht der typischen Vermischung von Mensch- und Tiereigenschaften dortiger Umzugskostüme als personifizierte Dämonen. Dargestellt werden die Ängste der Menschen. Dazu gehört auch der Tod. Man nahm an, dass die Seelen Verstorbener als Vögel in der dunklen Winterzeit wiederkehren.

Vermummte Gestalten ziehen noch immer segnend und strafend mit ihrer Rute durch die Dörfer. Das Schlagen mit der Rute gilt als segenspende Geste, die deshalb als »Gesundschlagen« bezeichnet wird. Vielfach belegt sind Umzugsfiguren mit Schnabelmaske wie die Lucia oder die Habergeiß im Alpenraum.ii In Schnett (Thüringen) liefen sogenannte »Hullefrauen« bis in die 1960er Jahre mit Schnabelmaske, einem weißen, wadenlangen Mantel und einem Spitztütenhut durch die Straßen.iii Die Rute der Figuren wurde später als Räucherstab verfremdet oder als Zeichen der Amtsgewalt eines Pestarztes uminterpretiert, um ein ärztliches Werkzeug zu suggerieren.

Die Ähnlichkeit der Gesichtsmaske mit einem Specht ist gewollt, da »Specht« und »Percht« nicht nur phonetisch verwandt sind. Der Name »Sperechta«, verballhornt zu »Specht«, ist seit dem 12. Jahrhundert schriftlich belegt. Die Figur trat in Vogelgestalt auf. Speiseopfer sollten sie günstig stimmen. Man nannte dies »den Specht füttern«.iv Das Füttern von Vögeln in Hausnähe ist nicht nur Nahrungsangebot, sondern das letzte Residuum dieser Vorstellung.

Bei den Ärzte im Schnabelkostüm darstellenden Einblattdrucken, die in den Jahrzehnten um 1700 verbreitet wurden, handelt es sich gemäß ihrer deutschen Bildunterschriften um Karikaturen italienischer und südfranzösischer Ärzte, die als »Todesvögel« während Seuchenzeiten diffamiert wurden. Offenbar scheint es so, dass sich deutsche Handelsstädte gegenüber der Gesundheitsverwaltung südeuropäischer Städte abgrenzen wollten. Die Blätter stammten überwiegend aus Druckereien in Nürnberg und Augsburg. Das dortige Fehlen solcher Schnabeldoktoren wurde als Qualitätsausweis für die Pestfreiheit verkauft. Die Botschaft war: wo keine Pest droht, können bedenkenlos Geschäfte gemacht werden.

In das kollektive Gedächtnis des europäischen Pesterlebens wurde der vermeintliche Schnabeldoktor erst ab den 1820er Jahren eingeschrieben. Aus dem Jahr 1826 datiert eine Abbildung, die der Bildlegende zufolge einen »Chirurgien« der Quarantänestation von Marseille zeigen soll. Die letzte Pest lag dort mittlerweile bereits ein Jahrhundert zurück. Es ist kein Zufall, dass die Wiedererweckung eines angsteinflößenden Pestarztes in etwa zeitgleich mit der Einführung des Begriffs »Schwarzer Tod« für die Pest geschah. Mit dem Aufbegehren der Menschen in den Polizeistaaten der Metternich-​Zeit wurden Seuchen als Bevölkerungskontrolle gebraucht.

Der »Schnabeldoktor« ist eine Fehlinterpretation kultischer naturreligiöser Umzugsfiguren. In der Medizingeschichte hat diese Maskerade nichts verloren. Sein Platz ist in Volkskunde- oder Fasnachtsmuseen. Jetzt zu den Rauhnächten oder in der alemannischen Fasnacht wird das Kostüm wieder irgendwo mitlaufen…

Referenzen

ii Reuther: Enthüllungen über Holle, Percht und Christkind. Eine kleine Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes. S. 130; Engelsdorfer Verlag; Leipzig 2017

iii Reuther: Enthüllungen über Holle, Percht und Christkind. Eine kleine Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes. S. 49; Engelsdorfer Verlag; Leipzig 2017

iv Reuther: Enthüllungen über Holle, Percht und Christkind. Eine kleine Kulturgeschichte des Weihnachtsfestes. S. 66; Engelsdorfer Verlag; Leipzig 2017

Univ.-Doz.(Wien) Dr. med. Gerd Reuther ist Facharzt für Radiologie, Medizinaufklärer und Medizinhistoriker. Er benannte von Anfang an »Covid-​19« als das, was es war: ein großer Bluff. In inzwischen sechs Büchern setzt er sich kritisch mit der Medizin in Geschichte und Gegenwart auseinander. Ganz aktuell erschien »Hauptsache krank?« im Engelsdorfer Verlag Leipzig.

Dr. phil. Renate Reuther ist Historikerin und Anglistin. Sie verfasst zahlreiche Bücher und Artikel zur Kulturgeschichte. Zuletzt erschien: »Feste feiern – dann aber richtig!« im Engelsdorfer Verlag Leipzig.

Zuerst erschienen bei TKP

Bild: Ein Arzt trägt ein Pestschutzmittel aus dem siebzehnten Jahrhundert – Wellcome Collection gallery (2018 – 03-​22): https://​wellcomecollection​.org/​w​o​r​k​s​/​s​y​r​8​g​3y7 CC-BY‑4.0

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