Am Mittag des 7. Oktober wies Israels oberstes Militärkommando alle Einheiten an, die Gefangennahme israelischer Bürger »um jeden Preis« zu verhindern – auch durch Schüsse auf sie. Das Militär »wies alle seine kämpfenden Einheiten an, die Hannibal‐Direktive in der Praxis auszuführen, obwohl es diesen Namen nicht explizit nannte«, enthüllten israelische Journalisten am vergangenen Wochenende. Die Enthüllungen stammen aus einem neuen Investigativartikel von Ronen Bergman und Yoav Zitun, zwei Journalisten mit umfangreichen Quellen innerhalb des israelischen Militär‐ und Geheimdienstapparats.
Sie enthüllten auch, dass »etwa 70 Fahrzeuge« der in den Gazastreifen zurückkehrenden palästinensischen Kämpfer von israelischen Kampfhubschraubern, Drohnen oder Panzern in die Luft gejagt wurden. Viele dieser Fahrzeuge enthielten israelische Gefangene. Die Journalisten schrieben, dass »zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar ist, wie viele der Gefangenen durch den Einsatz dieses Befehls« zur Unterbindung der Rückkehr nach Gaza um jeden Preis getötet wurden. »Zumindest in einigen Fällen wurden alle Insassen des Fahrzeugs getötet«, erklären die Journalisten.
Der hebräische Artikel wurde von seinem Herausgeber, Yedioth Ahronoth, einer Zeitung, die viele ihrer Artikel übersetzt, nicht ins Englische übersetzt. Sie können die vollständige englische Version von The Electronic Intifada, übersetzt von Dena Shunra, unten lesen.
Die geheimnisvolle »Hannibal«-Doktrin ist nach einem antiken karthagischen General benannt, der sich lieber vergiftete, als sich lebendig vom Römischen Reich gefangen nehmen zu lassen. Der Befehl soll verhindern, dass Israelis von Widerstandskämpfern gefangen genommen werden, die sie später als Druckmittel bei Gefangenenaustauschen verwenden könnten.
»Überwältigt«
Die jüngsten Enthüllungen bestätigen die Berichterstattung von The Electronic Intifada seit dem 7. Oktober, dass viele – wenn nicht sogar die meisten – der an diesem Tag getöteten israelischen Zivilisten von Israel selbst und nicht von palästinensischen Kämpfern getötet wurden. Ursprünglich hieß es, dass bei dem am 7. Oktober begonnenen palästinensischen Angriff 1.400 Israelis von der Hamas getötet worden seien. Israel hat diese Zahl jedoch wiederholt nach unten korrigiert, so dass sie jetzt bei »über 1.000« liegt.
Es war auch von Anfang an klar, dass es sich bei Hunderten von Toten um israelische Soldaten handelte. Die Hamas behauptet, sie habe Militärbasen und Außenposten angegriffen und ihr Ziel sei es gewesen, israelische Zivilisten gefangen zu nehmen und nicht zu töten sowie israelische Soldaten zu töten oder gefangen zu nehmen. In dem neuen Artikel, der sich auf Interviews mit Anwesenden stützt, heißt es, dass hochrangige Offiziere in Israels unterirdischem Militärhauptquartier in Tel Aviv am 7. Oktober schockiert erklärten, dass »die Gaza‐Division überwältigt wurde«.
Eine Person, die an diesem Tag anwesend war, sagte den Journalisten unter Verweis auf frühere israelische Schocks wie den überraschenden Gegenangriff Ägyptens und Syriens im Oktober 1973: »Wir dachten, so etwas könnte nie wieder passieren. Dies wird für immer eine Narbe bleiben, die in unser Fleisch eingebrannt ist.«
Neben dem, was sie als »Heldentum« bezeichnen, enthüllt die Untersuchung von Bergman und Zitun, was sie als »eine lange Reihe von Versäumnissen, Pannen und Chaos in der Armee« beschreiben, einschließlich »einer Befehlskette, die fast vollständig versagte«.
Palästinensische Widerstandskämpfer hätten erfolgreich die Kommunikationsinfrastruktur angegriffen und 40 Prozent der Kommunikationseinrichtungen an der Grenze zum Gazastreifen zerstört, darunter Türme und Relaisantennen. Stundenlang tappte die israelische Führung daher im Dunkeln, was das Ausmaß des Angriffs anging. Um dies zu kompensieren, »wandten sie sich dem Fernsehen und den sozialen Medien zu, vor allem Telegram, israelischen Kanälen, aber in erster Linie den Kanälen der Hamas«.
Tausend Drohnenziele innerhalb Israels
Im November berichtete The Electronic Intifada über Filmmaterial der israelischen Luftwaffe sowie über Interviews mit Kampfhubschrauberpiloten, aus denen hervorging, dass sie den Befehl erhalten hatten, auf alles zu schießen, was sich zwischen den israelischen Grenzsiedlungen und dem Gazastreifen bewegt.
In diesem israelischen Artikel hieß es, dass »in den ersten vier Stunden […] Hubschrauber und Kampfflugzeuge etwa 300 Ziele angegriffen haben, die meisten auf israelischem Gebiet«. In dem neuen Artikel von Bergman und Zitun heißt es, dass am Ende des Tages allein das Drohnengeschwader 161 (das die Hermes‐450‐Drohne von Elbit fliegt) »nicht weniger als 110 Angriffe auf etwa 1.000 Ziele durchführte, von denen die meisten innerhalb Israels lagen.«
Wie The Electronic Intifada erstmals in englischer Sprache berichtete, zeigten israelische Nachrichtenmedien im vergangenen Monat Aufnahmen von Panzerfahrern, die während der Kämpfe mit dem palästinensischen Widerstand am 7. Oktober auf israelische Häuser innerhalb der Kibbuze schossen.
Ebenso war The Electronic Intifada die erste Publikation, die im Oktober die Aussage von Jasmin Porat in englischer Sprache veröffentlichte. Sie war eine von nur zwei Überlebenden eines israelischen Angriffs auf ein Haus im Kibbuz Be’eri, in dem rund ein Dutzend Gefangene von palästinensischen Kämpfern festgehalten wurden.
Porat sagte gegenüber israelischen Medien, die Palästinenser hätten sie »human« behandelt, aber die israelische Armee habe eine Pattsituation mit den Kämpfern beendet, indem sie absichtlich das gesamte Haus mit Panzergeschossen beschossen habe, obwohl die Gefangenen noch zugegen waren. Später erklärte sie, dass unter den Opfern des israelischen Angriffs auch die 12‐jährige israelische Gefangene Liel Hatstroni war. Das Foto von Liel Hatstroni wurde später von israelischen Beamten in der Propaganda verwendet. Sie behaupteten fälschlicherweise, sie sei von der Hamas bei lebendigem Leib verbrannt worden – »weil sie Jüdin ist«, wie der ehemalige Premierminister Naftali Bennett log.
Letzten Monat berichtete The Electronic Intifada auch über einen israelischen Luftwaffenoberst, der zugab, dass der 7. Oktober ein »Massen-Hannibal«-Ereignis war und dass ihre Drohnen an diesem Tag israelische Häuser gesprengt hatten.
Bergman und Zitun erklären, dass die ursprüngliche Hannibal‐Direktive 1986 nach der Gefangennahme von zwei israelischen Soldaten im damals besetzten Südlibanon durch die libanesische Widerstandsorganisation Hisbollah heimlich eingerichtet wurde. In ihrem neuen Artikel heißt es, dass die ursprüngliche Hannibal‐Direktive den israelischen Streitkräften befahl, »die gefangennehmenden Kräfte um jeden Preis aufzuhalten« und dass »im Verlauf einer Gefangennahme die Hauptaufgabe darin besteht, unsere Soldaten vor den Gefangenen zu retten, selbst um den Preis, dass unsere Soldaten getroffen oder verletzt werden«.
Zwei Jahre nachdem sie von Journalisten während des Gaza‐Krieges 2014 aufgedeckt wurde, wurde die Doktrin angeblich widerrufen oder zumindest »geklärt«. Aber Bergman und Zitun bestätigen in ihrem neuen Artikel, dass das israelische Militär am Mittag des 7. Oktobers »beschlossen hat, zu einer Version der Hannibal‐Direktive zurückzukehren«.
Sie schreiben, dass »die Anweisung lautete, jeden Versuch von Hamas‐Terroristen, in den Gazastreifen zurückzukehren, »um jeden Preis« zu unterbinden. Dabei wurde eine Sprache verwendet, die der ursprünglichen Hannibal‐Direktive sehr ähnlich ist, trotz wiederholter Versprechen des Verteidigungsapparats, dass die Direktive aufgehoben worden sei«.
In dem neuen Artikel wird erklärt, dass das Hauptquartier allen Einheiten befahl, die Hannibal‐Direktive auszuführen, kurz nachdem die ersten Videos der israelischen Gefangenen aufgetaucht waren.
»Befugnis, nach Belieben zu schießen«
Seit dem 7. Oktober mehren sich stetig die Hinweise darauf, dass Israel an diesem Tag für eine große Zahl von Todesopfern unter der israelischen Zivilbevölkerung verantwortlich sein könnte – angesichts der jüngsten Enthüllungen wahrscheinlich sogar für die Mehrzahl der Opfer.
Diese Beweise wurden von den westlichen Mainstream‐Medien geflissentlich ignoriert. Unabhängige Medien, darunter The Electronic Intifada, The Grayzone, The Cradle und Mondoweiss, haben auf Englisch darüber berichtet. Die beiden erstgenannten Publikationen sind sogar Gegenstand einer geplanten Hetzschrift der Washington Post. Grund dafür ist ihre sachliche Berichterstattung über die Ereignisse des 7. Oktober.
Letzten Monat gab das israelische Militär zu, dass es am 7. Oktober zu einer »immensen und komplexen Anzahl« von Vorfällen kam, die es als »Eigenbeschuss« bezeichnete. Vor diesem neuen Artikel deutete also alles darauf hin, dass Israel die Hannibal‐Richtlinie heimlich reaktiviert hatte – wie The Electronic Intifada seit dem 7. Oktober berichtet. Aber der neue Artikel von Bergman und Zitun ist das erste Mal, dass bestätigt wird, dass die Befehle dazu von der Spitze der israelischen Militärhierarchie kamen.
Allerdings scheint es, dass noch vor Mittag, am Morgen der brutalen und wahllosen israelischen Reaktion auf den palästinensischen Militärangriff, örtliche Beamte die Sache selbst in die Hand nahmen und beschlossen, die Hannibal‐Direktive selbst zu reaktivieren.
Gegen 8 Uhr morgens beschloss das Drohnengeschwader 161, »dass es für sie keinen Sinn hat, auf Befehle des Luftwaffenkommandos oder der Gaza‐Division zu warten.« Das Divisionshauptquartier in der Siedlung Re’im wurde zu diesem Zeitpunkt von palästinensischen Kämpfern heftig angegriffen. Dennoch gelang es dem Geschwader, sie zu erreichen, und sie baten darum, »dass alle Verfahren, Befehle und Vorschriften in den Papierkorb geworfen werden«, berichten Bergman und Zitun.
Das Divisionskommando antwortete: »Sie haben die Befugnis, nach Belieben zu schießen.«
Auf Befehl junger Offiziere aus der so genannten mobilen Kommandozentrale »Feuerbaldachin »wurde auch den Kampfhubschrauberpiloten mitgeteilt: »Sie haben die Erlaubnis [das Feuer zu eröffnen] bis auf weiteres – und zwar im gesamten Gebiet.«
Der Artikel enthüllt auch die Tatsache, dass Dutzende von Mitarbeitern des für Folter und Mord zuständigen israelischen Geheimdienstes Shin Bet an den Kämpfen vom 7. Oktober teilnahmen. Direktor Ronen Bar befahl persönlich »jedem, der eine Waffe tragen kann«, sich zu mobilisieren und sagte, dass »alle Mitarbeiter mit Kampftraining, die Waffen haben, nach Süden gehen und bei den Kämpfen helfen sollten«. Dem Artikel zufolge wurden an diesem Tag zehn Shin Bet‐Mitarbeiter getötet. Wenn dies stimmt, ist es wahrscheinlich, dass weitere zehn der Zivilisten, die als israelische Opfer genannt wurden, bewaffnete Shin Bet‐Mitarbeiter waren.
In der von der israelischen Zeitung Haaretz geführten Opferdatenbank werden drei dieser Shin Bet‐Beamten nach wie vor als Yossi Tahar, Smadar Mor Idan und Omer Gvera aufgeführt. Idan wird als »Zivilist« bezeichnet, während Tahar und Gvera nur als Angehörige der »Rettungsdienste« aufgeführt sind. Alle drei werden auch als »Opfer des 7. Oktober« eingestuft.
Der Artikel von Bergman und Zitun scheint in der israelischen Gesellschaft hohe Wellen zu schlagen, da die Familien der verbleibenden israelischen Gefangenen im Gazastreifen versuchen, Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese einem Gefangenenaustausch mit der Hamas zustimmt.
Bergman ist ein besonders angesehener israelischer Journalist. Er schreibt nicht nur für Yedioth Ahronoth, sondern auch für das New York Times Magazine und ist der Autor mehrerer wohlwollender Bücher über israelische Spionagebehörden, darunter Rise and Kill First.
Asa Kasher, Autor des »Ethik‐Kodex« der israelischen Armee, forderte in dieser Woche im Haaretz-Podcast eine Untersuchung des Einsatzes der Hannibal‐Doktrin am 7. Oktober und kurz danach. »Kasher stimmte mit den Familien überein, dass eine sofortige Untersuchung notwendig ist«, schrieb Haaretz, und dass diese nicht bis zum Ende des Krieges in Gaza warten sollte.
Doch Kasher ist alles andere als eine ethische Stimme. »Die Tötung von 40 Zivilisten in Gaza auf einen Schlag sei »vernünftig«, sagte er 2014 gegenüber The Electronic Intifada.
Vollständig übersetzter Artikel »Die schwarze Zeit« von Ronen Bergman und Yoav Zitun
Am Morgen des 7. Oktober wurden einige der beeindruckendsten Geschichten von Heldentum und Aufopferung in der Geschichte des Landes geschrieben, aber auch eine lange Reihe von Misserfolgen, Pannen und Chaos in der Armee. Diese 7‑Tage‐Recherche skizziert die ersten Stunden des Schwarzen Sabbats und deckt auf: Der Kommandobunker unter der Kirya [in Tel Aviv] war im Dunkeln und musste seine Informationen aus den Telegrammkanälen der Hamas beziehen. Das Südkommando veröffentlichte antiquierte und irrelevante Befehle. Die israelische Armee [IDF] beschloss, eine Direktive ähnlich der Hannibal‐Direktive anzuwenden, in deren Verlauf sie auch auf Fahrzeuge schoss, die möglicherweise Gefangene transportierten. Kommando‐Kämpfer gingen ohne Visier auf ihre Waffen und ohne kugelsichere Westen ins Feld. Und das ist nur der Anfang. Der IDF‐Sprecher: »Die IDF werden eine detaillierte und eingehende Untersuchung durchführen.«
In der Nacht zum 7. Oktober, als die Hamas bereits letzte Vorbereitungen für den am Morgen geplanten Anschlag traf, hielten hochrangige Vertreter des israelischen Sicherheitsdienstes (Shin Bet) und der IDF einige Telefonkonferenzen ab. Der Hauptgrund für diese Telefonate war, dass der israelische Geheimdienst kurz nach Mitternacht einige wichtige Hinweise erhalten hatte. Diese Hinweise folgten auf einige frühere Hinweise, die in den Tagen und Wochen zuvor aufgetaucht waren.
Das Problem bei diesen Hinweisen war, dass keiner von ihnen ein eindeutiges Warnsignal für einen Krieg darstellte: Sie konnten Gefechtsbereitschaft bedeuten, aber auch ein Training, das Gefechtsbereitschaft simuliert. Einige dieser Anzeichen waren bereits in der Vergangenheit aufgetreten und hatten tatsächlich zu Übungsmanövern geführt.
Doch die Häufung all dieser Vorfälle löste in den höchsten Rängen des Sicherheitsapparats eine gewisse Besorgnis aus, und die Leiter des Militärs und des Shin Bet riefen sich gegenseitig zur Beratung an. Der Leiter des Shin Bet, Ronen Bar, kam persönlich in sein Hauptquartier, und der Befehlshaber des Südkommandos brach seinen Wochenendausflug ab und fuhr in Richtung Süden. Gegen drei oder vier Uhr morgens wies Bar die Tequila‐Truppe, eine Spezialeinheit des Shin Bet und der Anti‐Terror‐Einheit Yamam, an, nach Süden zu fahren. Dies war ein höchst ungewöhnlicher Schritt, der für das Szenario einer Infiltration durch mehrere einzelne Gruppen von Terroristen über einen oder zwei Durchbruchspunkte gedacht war, um Bürger und Soldaten zu ermorden oder gefangen zu nehmen.
Trotz dieser Bedenken stellte ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter um 3:10 Uhr fest, dass »wir immer noch glauben, dass Sinwar nicht auf eine Eskalation hinarbeitet«. Mit anderen Worten: es handelt sich offenbar um eine weitere Übung der Hamas.
Diese Meldungen beunruhigten auch den Kommandeur der Gaza‐Division, der militärischen Einheit, die für den Schutz der Frontlinie an der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen zuständig ist, Brigadegeneral Avi Rosenfeld, der an jenem Wochenende der diensthabende Kommandeur der Division war. Er beschloss, seine hochrangigen Kommandeure zu alarmieren, darunter die Kommandeure der beiden regionalen Brigaden – der nördlichen und der südlichen – sowie den Nachrichtendienst der Division, den militärtechnischen Offizier und andere. Als sie in ihrer Kommandozentrale auf dem Stützpunkt Re’im eintrafen, leiteten sie einige Maßnahmen ein, um die Wachsamkeit an der Grenze zu erhöhen.
Einigen hochrangigen Vertretern des Südkommandos zufolge wollten der Divisionskommandeur und seine Offiziere zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um die Wachsamkeit in den Stützpunkten und Außenposten der Division entlang der Grenze und in der Nähe der Siedlungen, die sie schützen sollten, zu erhöhen, aber aufgrund der Informationen, die ursprünglich die Bedenken hervorgerufen hatten, wurden sie von Vertretern des IDF‐Kommandos gebeten, keine »lauten« Schritte zu unternehmen. Andererseits sagen andere Personen im Sicherheitsapparat, dass das Divisionskommando viele Schritte hätte unternehmen können, die auf der anderen Seite nicht registriert worden wären.
Tief unter dem Kirya‐Gebäude in Tel Aviv, an einem Ort, der offiziell Mizpeh (Oberste Kommandoposition der IDF) heißt, aber von allen nur »die Grube« genannt wird, gingen die ersten Meldungen über die Anzeichen ein. Daraufhin wurde der Leiter der Southern Arena in der Operationsabteilung dringend in die Grube gerufen, damit ein ranghoher Offizier anwesend sein konnte, der befugt war, wichtige Anweisungen zu geben. Gegen 4:00 Uhr morgens wies dieser Offizier die Luftwaffe an, ein weiteres unbemanntes Luftfahrzeug (UAV) vom Typ »Zik« [Elbit Hermes 450] in Bereitschaft zu bringen. Dabei handelte es sich jedoch um ein unbewaffnetes Zik, das ausschließlich zu Aufklärungszwecken eingesetzt werden sollte, und auch dieser Schritt deutete darauf hin, dass man nur ein örtlich begrenztes Eindringen befürchtete.
Doch die besorgniserregenden Meldungen häuften sich. Schließlich wurde wenige Minuten vor 6.30 Uhr in einem Gespräch zwischen dem Shin Bet und den IDF beschlossen, das verschlüsselte Telefon des Militärsekretärs des Premierministers, Generalmajor Avi Gil, anzurufen, um ihn über die Entwicklungen zu informieren und vorzuschlagen, den Premierminister zu wecken. Gil sagte dem ranghohen Geheimdienstoffizier, der ihn kontaktiert hatte, dass er Netanjahu sofort anrufen würde, doch noch während sie miteinander sprachen, ertönten in ganz Israel Alarmsirenen. Die Uhr in der Grube zeigte 6:26 Uhr an. Gil und der ranghohe Geheimdienstoffizier erkannten sofort, dass es sich angesichts der Uhrzeit und des Ausmaßes des Angriffs um ein Ereignis anderer Größenordnung handelte, anders und aggressiver, da die Hamas wusste, dass der Abschuss von tausenden von Raketen und Flugkörpern zu einer israelischen Reaktion führen würde. Keiner von ihnen wusste, wie anders und aggressiv dies sein würde.
Premierminister Netanjahu wurde noch während des Ertönens der Sirenen über die Ereignisse informiert. Es wurde beschlossen, dass er sofort nach Kirya kommen würde. In der Grube waren die folgenden und kritischsten Stunden sehr verworren, umhüllt von Kriegsnebel und Informationsmangel. »Ein Überblick über die Lage ist das wichtigste Element für einen Kriegsraum wie den Pit«, sagte eine hochrangige Persönlichkeit, die sich seit Jahren mit den Erzeugnissen aus dem IDF‐Kommandobunker beschäftigt. »Aber wenn man nicht genau weiß, wohin man sie schicken soll oder mit welcher Ausrüstung und wer und wo und wie groß der Feind ist, auf den sie auf der anderen Seite treffen werden, ist man dazu verdammt, für seine Blindheit teuer zu bezahlen.«
Und tatsächlich wusste niemand in der Grube wirklich viel. Deshalb gab es einen fast völligen Schock in der Grube, als ein hoher Offizier ein paar Worte sagte, wie man sie seit dem Jom‐Kippur‐Krieg [Oktober 1973] nicht mehr gehört hatte: »Die Gaza‐Division wurde überwältigt.«
In dem mit Technik und riesigen blinkenden Bildschirmen gefüllten Raum herrschte Stille. »Diese Worte lassen mich immer noch erschaudern«, sagte eine Person, die sie in diesem Moment hörte. »Es ist unvorstellbar. Es ist wie die Altstadt von Jerusalem im Unabhängigkeitskrieg oder die Außenposten entlang des Suezkanals während des Jom‐Kippur‐Krieges. Wir dachten, dass so etwas nie wieder passieren könnte. Dies wird eine Narbe bleiben, die für immer in unser Fleisch eingebrannt ist.«
In diesen Stunden, in den brennenden Sicherheitsräumen von Nir Oz und Be’eri und in den Unterkünften im Freien bei der Re’im‐Party, in den verschlossenen Häusern in Sderot und Ofakim, auf der blutbefleckten Straße 232, und eigentlich im ganzen Land, hallte eine Frage überall wider: Wo ist die IDF?
Und das ist die Frage, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht: Wo waren die israelischen Verteidigungskräfte in den ersten Stunden des Morgens des 7. Oktober?
In den vergangenen Monaten haben wir mit Dutzenden von Offizieren und Kommandeuren gesprochen, von denen einige sehr hohe Positionen in den IDF innehaben. Wir haben versucht, anhand ihrer Erzählungen und interner Sicherheitsdokumente zu skizzieren, was in den ersten Stunden jenes Morgens wirklich geschah, um eine Zeitleiste der Stunden zu zeichnen, die das Land für immer veränderten.
Wir sagen es gleich vorweg: An diesem Schwarzen Sabbat gab es viel Initiative, viel Mut, viel Selbstaufopferung. Zivilisten, Soldaten und Offiziere, Polizisten und Mitarbeiter des Shin Bet stürzten sich aus eigenem Antrieb in die Schlacht; sie beschafften sich Waffen, erhielten teilweise Informationen, beteiligten sich an einer komplexen Kriegsführung und gaben manchmal ihr Leben. Sie haben einige der schönsten und heldenhaftesten Kapitel in der Geschichte Israels geschrieben. Aber die »7‑Tage«-Recherche zeigt, dass in denselben Stunden auch einige der schwierigsten, peinlichsten und ärgerlichsten Kapitel in der Geschichte der Armee geschrieben wurden. Dazu gehören eine Befehlskette, die fast vollständig versagte und völlig überrumpelt wurde; Befehle, das Feuer auf Terroristenfahrzeuge zu eröffnen, die in Richtung Gaza rasten, selbst wenn die Sorge bestand, dass sie Gefangene enthielten – eine Art erneuerte Version der Hannibal‐Direktive; Kämpfer, die aufgrund mangelnder Kommunikation Luftunterstützung mit ihren Handys dirigieren mussten; Kriegsreservelager, die Kämpfer mit Waffen in den Kampf schickten, denen Zielfernrohre fehlten und die keine kugelsicheren Westen hatten; veraltete und unangemessene Befehle, die Copy‐ und Paste‐Charakter hatten und hinaus auf das Schlachtfeld geschickt wurden; Kampfflugzeuge, die in den kritischen Momenten des Angriffs ohne Führung durch die Luft flogen; Offiziere, die zu dem Schluss kamen, dass es keine Alternative zur Beschaffung von Hubschraubern auf Umwegen gab, um ihre Truppen von Ort zu Ort zu bewegen; und sogar Betreiber unbemannter Flugzeuge, die sich den Kibbuz‐WhatsApp‐Gruppen anschließen mussten, um sich von belagerten Zivilisten helfen zu lassen, eine Liste von Zielen zu erstellen. Und alles war so verrückt, chaotisch, improvisiert und planlos, dass man es lesen muss, um zu glauben, dass es tatsächlich so passiert ist. Und nein, wir müssen nicht auf eine offizielle Untersuchungskommission warten, die sicherlich eingerichtet wird und sich mit all dem befassen wird, was wir hier dargelegt haben: Einige Dinge müssen hier und jetzt korrigiert werden.
So sah es Stunde für Stunde an diesem schrecklichen Morgen aus:
6:26 Uhr
Massiver Beschuss mit Raketen und Flugkörpern. Der Angriff der Hamas beginnt.
6:30 Uhr
Abgesehen von Iron Dome, das sofort in Betrieb genommen wurde, bestand die erste militärische Reaktion der IDF in der Mobilisierung von zwei F‑16I (Sufa)-Flugzeugen des Kampfgeschwaders 107 auf dem Luftwaffenstützpunkt Hatzerim, der an diesem Samstag in Abfangbereitschaft war. Über die spärliche und konfuse Reaktion der Luftwaffe am Morgen des Schwarzen Sabbats gab es zahlreiche Beschwerden. Einige Beschwerden sind berechtigt: Die »7 Tage« Recherche zeigt, dass selbst die Streitkräfte, die als die ordentlichsten und am besten organisierten der IDF gelten, Schwierigkeiten hatten, das Ausmaß des Ereignisses zu verstehen, und dass die Reaktion, zumindest in den ersten Stunden, unvollständig und spärlich war.
Auf ihrem Weg sahen die Piloten und Navigatoren der Sufa‐Flugzeuge die Kondensstreifen der vielen Raketen, die auf dem Weg nach Israel waren, aber laut Befehl haben die ersten Abfangjäger, die in die Luft steigen, die Aufgabe, strategische militärische und zivile Einrichtungen zu schützen. In den ersten Stunden gab es niemanden, der diesen Befehl änderte und die Flugzeuge in die angegriffenen Regionen lenkte, wo sie wirklich gebraucht wurden. Und aus 20.000 Fuß Höhe ist es fast unmöglich, Ziele ohne Bodenunterstützung zu identifizieren. So kam es, dass etwa 45 kritische Minuten lang bewaffnete Kampfflugzeuge am Himmel kreisten, ohne irgendetwas zu unternehmen. Erst gegen acht Uhr, als die Piloten landeten und Berichte vom Boden erhielten, erfuhren sie, was nur wenige Kilometer entfernt geschehen war. Ihre Frustration und Wut waren groß. »Wenn sie es gewusst hätten, hätten sie zumindest in niedriger Höhe fliegen können, um die Hamas‐Terroristen zu erschrecken, indem sie laut über ihre Köpfe hinweg fliegen«, sagte ein ranghoher Offizier der Flugstaffel. »Aber sie wussten einfach nicht, was vor sich ging. So oder so starteten diese Piloten mit ihren Kollegen erneut, um vor allem Ziele in Gaza anzugreifen.
Wenige Minuten nach dem Start der F‑16‐Flugzeuge starteten zwei Tarnkappenflugzeuge des Geschwaders 140 F‑35 (Modell Adir) vom Stützpunkt Nevatim, die ebenfalls auf Abruf bereitstanden. Auch ihre Piloten wussten nicht, was am Boden geschah, obwohl es ihnen gelang, in geringerer Höhe zu fliegen und Brände in der Region um den Gaza‐Streifen zu erkennen. Daraufhin handelten die Piloten nach einem Notfallplan für Angriffe auf Ziele im Gazastreifen. Es gab niemanden, der ihnen sagte, dass diese Angriffe jetzt unwirksam seien und dass sie zu diesem Zeitpunkt an einem ganz anderen Ort gebraucht würden.
6:37 Uhr
Zwei bewaffnete Zik‐Drohnen wurden vom Geschwader 161 auf dem Stützpunkt Palmachim abgezogen, der an diesem Samstag in Alarmbereitschaft war. Dies geschah als direkte Reaktion auf die »Code Red«-Sirenen, die wenige Minuten nach ihrer Auslösung ertönten. In den folgenden Stunden mussten die Zik‐Operateure improvisieren und unabhängig operieren. Weder sie noch das Zentralkommando der Luftwaffe waren in der Lage, das Gesamtbild zu verstehen. So oder so, wie es an jenem Samstag häufig geschah, leiteten die Offiziere am Boden von sich aus Maßnahmen ein, und das Geschwader wartete nicht auf einen ordnungsgemäßen Befehl und wies drei weitere bewaffnete Ziks an, sich in die Lüfte zu erheben und in den Kampf zu ziehen.
6:50 Uhr
Kurz vor 7:00 Uhr wurde auch das erste Paar Apache‐Hubschrauber in den Gazastreifen entsandt. Die beiden Apache‐Kanonenboote gehören zur Flugstaffel 190, deren Heimatbasis Ramon ist, 20 Flugminuten vom Gaza‐Streifen entfernt. Aufgrund von Haushaltskürzungen in den vergangenen Jahren befanden sich die Hubschrauber an jenem Samstag jedoch auf dem Stützpunkt Ramat David im Norden in der Nähe des Libanon, eine Flugdistanz, die viele Minuten ohne Luftabdeckung im Gazagürtel bedeutete.
In den letzten Jahren hat die Luftwaffe ihren Bestand an Kampfhubschraubern in der Annahme verringert, dass Israel gegen den Iran mehr Tarnkappenflugzeuge und weniger dieser »fliegenden Panzer« benötigt. Der 7. Oktober soll auch dieses Verständnis ändern.
7:00 Uhr
Gegen 6:45 Uhr fand das erste Gespräch zwischen der Grube und einem Einsatzoffizier des Südkommandos statt, in dem der Generalstab zunächst darüber informiert wurde, dass es sich nicht nur um Raketenbeschuss handelte, sondern dass auch der Zaun durchbrochen und ein Teil der Beobachtungsinfrastruktur beschädigt worden war. Dies war einer der Gründe dafür, dass die Grube de facto im Stich gelassen wurde: Die drei großen Beobachtungsballons, die den südlichen, zentralen und nördlichen Gazastreifen beobachten sollten, waren in den Tagen vor dem Angriff abgestürzt. Die Hamas zielte auch direkt auf Kameras und andere Beobachtungsinfrastrukturen, unter anderem mit »Selbstmorddrohnen«.
Aber nicht nur die Beobachtungsinfrastruktur war betroffen. Eine in den letzten Tagen durchgeführte vorläufige Untersuchung der Kommunikationskapazitäten der Gaza‐Division ergab, dass etwa 40 Prozent der Kommunikationseinrichtungen wie Türme mit Relaisantennen, die die Telekommunikationsabteilung in den letzten Jahren in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen aufgestellt hatte, am Morgen der Invasion von der Hamas zerstört wurden. Die [Hamas] Nukhba Force [Anmerkung der Redaktion: »nukhba« ist arabisch für »Elite«] hat also nicht nur die »Sehen und Schießen«-Raphael-Turmsysteme und die Beobachtungsinfrastruktur entlang des Zauns direkt beschädigt, sondern auch versucht, die grundlegenden Funkkommunikationsmöglichkeiten zu manipulieren. Die Terroristen brachten auch Sprengsätze in der Nähe der Turmsockel am unteren Teil der Antennen an, also an Stellen, die offensichtlich gegen diese Art von Angriffen ungeschützt sind. Diese Explosionen waren teilweise erfolgreich: einige der Türme stürzten ein, andere kippten lediglich um.
In der Grube in der Kirya wurde versucht, Berichte aus dem Kriegsraum der Gaza‐Division zu erhalten, aber wie bereits erwähnt, war dieser Kriegsraum fast völlig blind. Außerdem wurde kurz vor 7.00 Uhr morgens in Re’im ein heftiger Angriff von Terroristen gestartet, die in die Kommandobasis der Division eingedrungen waren. Der Gefechtsstand der Division war zwar besetzt und einsatzbereit, hatte aber große Schwierigkeiten, seinen Hauptzweck zu erfüllen: Informationen über die aktuelle Lage vor Ort zu erhalten, die Kräfte entsprechend zu mobilisieren und das Südkommando und die Grube in der Kirya über neue Entwicklungen zu informieren.
Das Ergebnis war, dass die Grube in der Kirya kurze Zeit nach Beginn des Angriffs einige ständige vorläufige Anordnungen für den Fall einer vermuteten Infiltration aus Gaza in Kraft setzte. Diese Verfahren spiegelten immer noch den Gedanken wider, dass der Angriff an einem oder wenigen Punkten stattfand und von begrenzter Tragweite war. Ein Militäroffizier, der in jenen Stunden im Kommandobunker in Tel Aviv anwesend war, berichtet, dass man in der Grube begriff, dass es sich um ein weitaus bedeutenderes Ereignis als eine punktuelle Infiltration handelte, dass man sich aber aufgrund der Blindheit vor Ort dem Fernsehen und den sozialen Medien zuwandte, vor allem Telegram, israelischen Kanälen, aber vor allem Hamas‐Kanälen, die Texte, Bilder und Videos der Ereignisse enthielten. Daraus schlossen sie, dass es sich um einen ausgedehnten Vorfall handelte, aber sie hatten immer noch Schwierigkeiten, sich ein Gesamtbild von allem zu machen, was geschah. Dieser Moment, in dem die Grube, das Allerheiligste der israelischen Sicherheit, ahnungslos blieb und auf das Surfen in den Telegrammkanälen der Hamas zurückgriff, um zu verstehen, was innerhalb des Staates Israel geschah, ist ein Moment, der nicht so schnell vergessen werden wird.
Wie groß das Chaos war, kann man zum Beispiel aus den Erfahrungen der Duvdevan‐Kämpfer in jenen Stunden lernen. An jenem Wochenende war Duvdevan eigentlich in Alarmbereitschaft für eine Geiselnahme, aber das geschah weit weg in der Region Judäa und Samaria [Westjordanland]. Gegen 7:00 Uhr morgens erhielt der Kommandeur von Duvdevan, Oberstleutnant D, einen Anruf. Es handelte sich nicht um einen offiziellen Anruf, sondern um den eines Freundes, eines Offiziers des Südkommandos, der ihm beunruhigt mitteilte, was in seinem Sektor vor sich ging. D. verschwendete keine Zeit und rief seine Kompanie aus der Region Judäa und Samaria an und wies sie an, sich zu bewaffnen, in die Fahrzeuge der Einheit zu steigen und in Richtung des Gazagürtels zu eilen. Unterwegs erhielten sie keine neuen Informationen über Überfälle an Straßenkreuzungen, weil es niemanden gab, der ihnen solche Informationen geben konnte. Aber durch reines Glück entdeckte D. ein ungepanzertes Savannah‐Fahrzeug der Tequila‐Einheit, das zuvor mit Kugeln beschossen worden war, und hielt den Konvoi an. Er wies seine Leute an, alle regulären Fahrzeuge zu verlassen, sich den gepanzerten Jeeps anzuschließen, die Kreuzung zu umgehen und sich in die Schlacht bei Kfar Azza zu stürzen.
Erst 60 Stunden und Dutzende getöteter Terroristen später brachen sie wieder auf. Der Kommandeur einer anderen Duvdevan‐Kompanie, der versuchte, einen Weg zu finden, seine Männer in den Gazagürtel zu bringen, aber keine Antwort vom Kommando erhielt, rief einfach einen guten Freund bei der Luftwaffe an und besorgte einen Hubschrauber, der seine Männer zum Kampf nach Nir Yitzchak bringen sollte.
7:14 Uhr
Der Gaza‐Division gelang es, der Zik‐Staffel eine Aufforderung zu übermitteln, den Grenzübergang Erez anzugreifen. Die Drohnenpiloten sahen unglaubliche Bilder auf ihren Bildschirmen: Der Grenzübergang hatte sich in eine belebte Autobahn für Terroristen verwandelt. Die Operatoren berichteten uns, dass sie zumindest in den ersten zwei Stunden das Gefühl hatten, die Kontrolle zu verlieren. In vielen Fällen trafen sie eigenständig Angriffsentscheidungen. Am Ende dieses verfluchten Tages führte das Geschwader nicht weniger als 110 Angriffe auf etwa 1.000 Ziele durch, von denen die meisten innerhalb Israels lagen.
Während dieses ganzen Schlamassels mussten die Operateure in erhöhter Alarmbereitschaft sein: »7 Tage« wurde über mindestens einen kritischen Fall informiert, als ein Offizier, der in der Nähe des Kibbuz Nir Am kämpfte, fünf Terroristen ausmachte, die von einer nahe gelegenen Baumgruppe in Richtung Sderot unterwegs waren. Dem Offizier gelang es, mit den Zik‐Betreibern Kontakt aufzunehmen und sie an die Einheit zu verweisen. Der Drohnenpilot hatte das Ziel bereits im Visier, doch von seinem tragbaren Gerät in Palmachim aus erkannte er, dass es sich nicht um verkleidete Terroristen, sondern um fünf IDF‐Soldaten handelte, die den Ort erkundeten. Sie waren nur einen Knopfdruck vom sicheren Tod entfernt.
7:30 Uhr
Die beiden Apache‐Hubschrauber, die in Ramat David gestartet waren, kamen in der Region Be’eri an und berichteten der Staffel von einem Chaos und Rauchpilzen. Der Kommandeur des Geschwaders 190, Oberstleutnant A., beschloss, seinen Stellvertreter anzurufen, und befahl allen Piloten, schnell aus ihren Häusern zu kommen, noch bevor er von der Operationszentrale der Luftwaffe dazu aufgefordert wurde. Die beiden Apache‐Hubschrauber über Be’eri begannen, außerhalb der Kibbuzim zu schießen, um die Ankunft weiterer Terroristen zu verhindern.
Unterdessen gingen die Kämpfe um den Stützpunkt Re’im, in dem sich das Hauptquartier der Gaza‐Division befindet, mit voller Wucht weiter, und Dutzende von Terroristen griffen das Gelände an. Dem Kommandeur der Division, Brigadegeneral Avi Rosenfeld, gelang es, mit vielen seiner Soldaten in den befestigten Kriegsraum einzudringen, von wo aus er versuchte, sowohl den Kampf der Division als auch den Kampf um den Stützpunkt zu leiten. Nach der Aussage einer Offizierin wollte Rosenfeld selbst den Kriegsraum verlassen und angreifen. Doch draußen waren die Stoßtrupps der Nukhba überall. Erst um 13.00 Uhr gelang es Kämpfern der »Shaldag«-Einheit 5101 und anderen Einheiten, den Stützpunkt mit Hilfe eines Kampfhubschraubers wieder zu besetzen.
All dies machte das, was die IDF als »Kommando und Kontrolle« bezeichnet, sehr schwierig. Wenn das Divisionshauptquartier überrumpelt und angegriffen wird, erhält auch das Hauptquartier des Südkommandos keine ausreichenden Informationen, ebenso wenig wie der Kommandobunker in der Kirya. Das führte dazu, dass Kommandeure, die bereits aus den Medien oder von Freunden erfahren hatten, dass etwas im Gange war, und sich auf den Weg zum Gaza‐Umschlag gemacht hatten, keine Antwort von ihren Vorgesetzten erhielten. »Ich kam mit meinem Privatfahrzeug zur Yad‐Mordechai‐Kreuzung, nachdem ich zu Hause in den Nachrichten das Video von den Nukhba‐Terroristen auf einem Pick‐up‐Truck in Sderot gesehen hatte«, erzählt ein Brigadekommandeur im regulären Dienst. »Während der gesamten Fahrt versuchte ich, mit meinen Freunden in der Gaza‐Division und im Südkommando in Kontakt zu treten, um zu erfahren, wo ich am besten zuerst hingehen sollte und um von ihnen zu erfahren, was vor Ort geschah und wohin ich meine Soldaten schicken sollte. Als sie schließlich abnahmen, hörte ich vor allem Geschrei auf der anderen Seite der Leitung, und als ich um so etwas Elementares wie eine Beschreibung der aktuellen Lage bat, sagte mir die Gaza‐Division: »Wir haben keine Beschreibung der aktuellen Lage. Finden Sie einen Brennpunkt der Kämpfe und sagen Sie uns, wie die Lage ist. Und hier bin ich, komme von zu Hause, meine Brigade ist in anderen Sektoren verstreut oder übt im Norden, und wie viele andere sehe ich bereits Terroristen am Grenzübergang Erez, und ich bin mir sicher, dass der Vorfall genau dort stattfindet, wo ich bin.« Übrigens, dieses Gefühl, dass jeder Kommandeur dachte, dass das Hauptgefecht genau dort stattfand, wo er sich befand, ohne zu wissen, dass ein paar Kilometer weiter sein Kollege ein ähnliches Gefecht führte, war vielen der Offiziere, mit denen wir sprachen, gemein. Keiner von ihnen wusste, dass es in diesen Stunden in Wirklichkeit etwa 80 verschiedene Kampfpunkte gab.
7:43 Uhr
Einem Offizier des Südkommandos zufolge rief der Kommandeur der Gaza‐Division, Brigadegeneral Avi Rosenfeld, erst gegen 7.30 Uhr, also mehr als eine Stunde nach Beginn des Angriffs, die Grube in Tel Aviv an und meldete, dass der Stützpunkt der Division in Re’im und das gesamte Gebiet unter schwerem Beschuss stünden. Er teilte mit, dass er das Ausmaß und die Einzelheiten des Angriffs noch nicht beschreiben könne, und bat den diensthabenden Kommandeur, ihm alle verfügbaren IDF‐Kräfte zu schicken.
Um 7:43 Uhr erließ das Kommando in Tel Aviv den Pleshet‐Befehl: Der erste Einsatzbefehl, demzufolge sich alle Einsatzkräfte und alle Einheiten in der Nähe der Grenzregion zum Gazastreifen sofort nach Süden begeben müssen. [Anmerkung des Übersetzers: Pleshet – פלשת – ist ein Wortspiel. Es ist der biblische Name von Palästina und verwendet die Verbwurzel für Invasion: פ.ל.ש.]. Der Befehl erwähnte jedoch nicht, was weder im Südkommando noch in der Grube in Tel Aviv klar war, nämlich dass es sich um eine breit angelegte Invasion handelte, deren Ziel es war, Teile des Südens des Landes zu besetzen und unter anderem Knotenpunkte für Hinterhalte einzunehmen und Verstärkungstruppen zu neutralisieren. Dies hatte zur Folge, dass ein großer Teil der Truppen, die sich auf den Weg machten, nicht wusste, dass sie auf dem Weg zu der Siedlung oder dem Stützpunkt, zu dem sie geschickt wurden, auf feindliche Truppen stoßen könnten.
Es gab noch ein weiteres Problem mit dem Pleshet‐Befehl: Er war eigentlich dazu gedacht, Israel vor einer ganz anderen Art von Übergriffen zu schützen. Bis zur Errichtung der »Sperranlage« bestand die Hauptbedrohung darin, dass Terroristen über ein Netz von Tunneln nach Israel eindrangen und von dort aus versuchten, die Siedlungen zu erreichen. Der Pleshet‐Befehl sollte vor dieser Art von Bedrohung schützen und konzentrierte sich auf Regionen innerhalb Israels, so dass Terroristen, die aus Tunneln innerhalb Israels auftauchen würden, neutralisiert werden konnten. Mit anderen Worten, der Befehl konzentrierte sich weder auf den Schutz des Grenzzauns vor der Infiltration durch Hamas‐Terroristen, die überirdisch operieren müssten, noch auf die Bedrohung durch Tausende von Terroristen, die über mehr als 30 Durchbrüche fast ungehindert nach Israel eindringen könnten. Die IDF hatten sich ein solches Szenario nicht ausgemalt und keine Befehle dafür vorbereitet. Dieses Versäumnis ist umso merkwürdiger, als die IDF den »Jericho Wall«-Kampfplan der Hamas erhalten hatte, der genau diese Art von Angriff beschrieb, und dennoch den Pleshet‐Befehl nicht widerrief oder ihre Verteidigungspläne aktualisierte.
8:00 Uhr
Der Generalstab versammelte sich gegen 8.00 Uhr in der neuen Einsatzzentrale in der Kirya in Tel Aviv. Generalstabschef Herzl »Herzi« Halevi traf ein. Niemand verstand, dass Israel bereits seit anderthalb Stunden unter einem umfassenden Angriff der Hamas stand.
8:10 Uhr
Die Offiziere der Drohnenstaffel begreifen, dass es für sie keinen Sinn hat, auf Befehle des Luftwaffenkommandos oder der Gaza‐Division zu warten. Es gelingt ihnen, sich mit der Division in Verbindung zu setzen und sie bitten im Wesentlichen darum, dass alle Verfahren, Befehle und Vorschriften in den Papierkorb geworfen werden. »Sie haben die Befugnis, nach Belieben zu schießen«, wurde den Zik‐Operatoren von der Division mitgeteilt. Mit anderen Worten: Schießen Sie auf alles, was bedrohlich oder wie ein Feind aussieht.
Aber wen sollte man angreifen? Ohne einen ordentlichen Befehl versuchten die Drohnenpiloten, auf eigene Faust eine »Zielbank« zu erstellen. Auch hier wurde schnell improvisiert: Die meisten Bediener sind junge Offiziere, die Freunde und Verwandte haben, die in diesem Moment am Boden kämpfen. Es wurde beschlossen, eine weitere eiserne Regel außer Kraft zu setzen: Niemals ein Handy in die tragbare Einsatzzentrale lassen. Die Operatoren telefonierten regelmäßig mit ihren Kollegen vor Ort: »Siehst du das Gebäude mit dem dunklen Dach? Also, der Turm daneben«, um ihnen den Weg zu weisen. Und im Extremfall traten andere Operatoren den Whatsapp‐Gruppen des Kibbutz Kfar Azza und anderer Siedlungen bei und ließen sich von belagerten Zivilisten sagen, worauf sie zielen sollten.
8:32 Uhr
Den beiden einsamen Apache‐Hubschraubern in der Luft, die bisher auf eigene Faust operierten, gelang es, einen ersten Funkkontakt mit dem Kommandeur einer der Kompanien am Boden herzustellen. Dieser Kontakt, der für die Luftstreitkräfte so wichtig ist, um von den Bodentruppen ein Lagebild zu erhalten und zum Ziel geleitet zu werden, kam erst etwa eineinhalb Stunden nach Beginn des Angriffs zustande. Der Kompaniechef bat um Feuer zu seinen Gunsten und erhielt es auch. Nach dem Beschuss richteten die Apache‐Piloten die Hubschrauber nach Westen aus, und es bot sich ein beängstigender Anblick: ein gewaltiger Strom von Menschen, der durch die Lücken in Richtung der Siedlungen im Süden floss. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um die zweite Welle von Eindringlingen – die erste Welle hatte hauptsächlich aus Terroristen der Nukhba und des Palästinensischen Dschihad bestanden – und diese zweite Welle umfasste auch bewaffnete Zivilisten und Zehntausende von Plünderern.
Der Pilot beschloss, wahllos zwei Raketen auf die Bewaffneten sowie Dutzende von Granaten aus der Kanone des Hubschraubers abzuschießen, um sie zurück nach Gaza zu jagen. Später bemerkten die Hubschrauber eine große Lücke im Grenzzaun in der Nähe von Nahal Oz und griffen die Menschenmassen an, die diese Lücke überqueren wollten. In beiden Fällen war der Erfolg begrenzt, weil es einfach zu viele Terroristen und zu wenig Geschosse gab: Jeder Hubschrauber trägt sechs Raketen und 500 Kanonengeschosse. Die beiden Hubschrauber mussten abfliegen, um sich neu zu bewaffnen, und kehrten gegen 10:20 Uhr zum Stützpunkt zurück.
8:58 Uhr
Weitere Apache‐Hubschrauber starteten, diesmal vom Stützpunkt Ramon aus, und operierten hauptsächlich in den Regionen, in denen der Zaun durchbrochen war. Dies sollte bis zum Mittag ihre Haupttätigkeit sein. Die Luftwaffe war immer noch verwirrt und vom Nebel des Krieges betroffen. »Schießt auf jeden, der in unseren Luftraum eindringt, ohne auf eine Genehmigung zu warten«, befahl der Geschwaderkommandeur Oberstleutnant A. seinen Untergebenen in der Luft, während er selbst in Richtung Gaza‐Hülle abhob. Einer der Hubschrauber wurde durch Handfeuerwaffen beschädigt, kämpfte aber weiter.
9:00 Uhr
Ronen Bar, der Direktor des Shin Bet, wies seine Leute an: Jeder, der eine Waffe tragen kann, muss nach Süden gehen. Wie bereits erwähnt, hatte Bar in der vorangegangenen Nacht mehrere Meldungen über ein Ereignis in der Region des Gazastreifens erhalten, aber er war der Meinung, dass es sich, selbst wenn die Hamas etwas plante, um eine begrenzte und örtlich begrenzte Aktion handeln würde, weshalb er nur die Tequila Force schickte. Die Kämpfer der Tequila Force gehörten zu den ersten, die auf die eindringenden Terroristen trafen, sie bekämpften sie tapfer und schafften es, dem Hauptquartier des Shin Bet Bericht zu erstatten. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt war weder dem Shin Bet noch [den Generälen] in der Grube unter der Kirya klar, dass es sich um einen umfassenden Angriff handelte. Erst gegen 9:00 Uhr morgens, als die Berichte seiner Untergebenen durch andere Berichte und die Medienberichterstattung bestätigt wurden, wies Bar alle Mitarbeiter mit Kampftraining und Waffen an, nach Süden zu gehen und bei den Kämpfen zu helfen. Nach Angaben einer Person, die mit den Ereignissen dieses Morgens vertraut war, handelte es sich bei den Personen, die sich auf den Boden begaben, um Koordinatoren, Ausbilder der Kampfschule, Leibwächter des Sicherheitspersonals, Personen, die Einrichtungen sichern, und Personen, die Aktionen vor Ort absichern. Insgesamt waren Dutzende von Shin Bet‐Mitarbeitern beteiligt, die Dutzende von Terroristen töteten und Hunderte von Bewohnern der Gaza Envelope Region retteten. Shin Bet‐Kämpfer, die in den Siedlungen im Süden leben, zogen schon vor dem Befehl in den Kampf und schlossen sich danach den anderen Kräften an, die in dem Gebiet eintrafen. Im Verlauf der Kämpfe wurden zehn Mitarbeiter der Organisation getötet.
9:30 Uhr
Während zahlreiche Verstärkungen nach Süden strömten, wurde in der Gaza‐Division, im Südkommando und in der Grube in Tel Aviv noch nicht verstanden, dass die Nukhba‐Terroristen diese Verstärkungen vorausgesehen und die strategisch wichtigen Knotenpunkte wie Gama, Magen, Ein Habesor und Shaar Hanegev eingenommen hatten, wo sie die Truppen erwarteten. Der erwartete Befehl, die Knotenpunkte vor der Ankunft der Verstärkung zu sichern, war noch nicht ergangen. Daher wurde an diesen Knotenpunkten viel Blut vergossen, sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten.
Aber es gab einige, die es verstanden hatten. Das Bataillon 450 der Zugführerschule war an jenem Samstag für die Gaza‐Division im Einsatz, und Bataillonskommandeur Oberstleutnant Ran Canaan mobilisierte seine Kämpfer relativ früh am Morgen vom Stützpunkt bei Yerucham. Dem Bataillon wurde mitgeteilt, dass es sich auf dem Weg in den Gazagürtel befand, aber es wurde nicht darauf hingewiesen, dass die Kreuzungen auf dem Weg dorthin zu Orten für tödliche Hinterhalte geworden waren. Etwa 50 Kämpfer stiegen in einen normalen Bus mit voller Ausrüstung und fuhren los. Plötzlich leitete der Fahrer zwischen Tze’elim und Kerem Shalom eine Vollbremsung ein und hielt an. Einige Polizisten kamen auf den Bus zu und winkten mit den Händen. Einige waren verletzt. Sie berichteten dem Kompaniechef mit großer Sorge, dass an der nächsten Kreuzung, etwa drei Kilometer von ihnen entfernt, Terroristen mit einem schweren Maschinengewehr und Panzerabwehrwaffen auf sie warteten. Der Truppenkommandeur verstand, dass eine Maschinengewehrsalve gegen die Seiten des ungepanzerten Busses diesen zu einer Todesfalle für seine Soldaten machen würde. »Die Nukhba stellte an den Kreuzungen auf dem Weg zum Gazastreifen Trupps mit Panzerfäusten, Scharfschützen, Maschinengewehren und immensen Mengen an Munition für stundenlange Gefechte auf«, so Oberstleutnant Canaan, der bei den Kämpfen verwundet wurde und erst nach einigen Tagen in den Kampf zurückkehrte. »Der Kommandant der Kompanie traf eine Entscheidung: zu Fuß weiter in Richtung Gaza Envelope und den Bus zurücklassen. Alle stiegen aus und gingen zu Fuß weiter, damit der Bus nicht von einer Panzerabwehrrakete oder einem Maschinengewehr getroffen wurde. Die Kämpfer umgingen die Kreuzungen und sicherten sie, räumten die Brücke über den Besor‐Bach, die die Terroristen übernommen hatten, und das alles zu Fuß, kilometerweit.«
Gegen 9:30 Uhr gelang es der belagerten Gaza‐Division schließlich, die Angriffszelle Hupat Esh [Feuerbaldachin] zu besetzen und zu betreiben. [Anmerkung der Redaktion: Nach israelischen Presseberichten handelt es sich dabei um einen geheimen mobilen Kommandoraum]. Es handelt sich dabei um ein von Stabschef Kohavi eingeführtes System, das in der Division eingesetzt wird. Die Idee ist, dass an einem Ort Informationen über Ziele, die Kontrolle und Planung von Angriffen auf diese Ziele sowie die entsprechenden Operationen der Luftstreitkräfte gesammelt werden. So könnte eine einzige Hupat‐Esh‐Angriffszelle beispielsweise einen Brandballon abschießen oder einen Luftangriff auf eine Mörsergranatenabschussanlage durchführen. Das Hupat‐Esh‐System war jedoch nie für die gleichzeitige Bewältigung einer solch wahnsinnigen Anzahl von Zielen ausgelegt.
Die Offiziere standen vor einem Dilemma, bei dem es um Leben und Tod ging: Wohin sollten sie die Kampfhubschrauber und das Zik zuerst schicken? Zu den Dutzenden von Löchern im Zaun, durch die die Terroristen weiterhin eindrangen? Auf die Posten, die derzeit von den Nukhba‐Terroristen besetzt sind, wo sie Hunderte von Soldaten töten und andere als Gefangene zurück nach Gaza bringen? Oder sollte es in Richtung Sderot oder Kibbuzim gehen, wo die Zivilbevölkerung brutal behandelt wurde? Schließlich erteilten die Kommandeure der Hupat Esh‐Angriffszellen, von denen einige 22 Jahre alt waren, den Apache‐Piloten einen Befehl, der in keinem Dauerbefehl auftaucht: »Ihr habt bis auf weiteres die Erlaubnis – und zwar für das gesamte Gebiet.«
Ein ähnlicher Mechanismus für den Einsatz von Feuerkraft wurde im Laufe des Vormittags auch im Hauptquartier des Südkommandos in Beer Sheva in Gang gesetzt. Ein erfahrener Offizier im sechsten Lebensjahrzehnt kam gegen Sonnenuntergang aus seinem Haus im Norden zum Kommando und stand schockiert vor den Bildschirmen, auf denen die Ziele flimmerten. »Wir haben uns auf viele Szenarien der Infiltration aus dem Gazastreifen vorbereitet und geübt«, sagte er gegenüber »7 Tage«. Aber wenn der Offizier aus der Ausbildungsverwaltung im Hauptquartier ein Szenario wie das vom 7. Oktober für eine bevorstehende Übung geschrieben hätte, hätten wir ihn sofort in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.«
10:00 Uhr
Die Kämpfe am Boden intensivierten sich und forderten viele Opfer. In vielen Fällen mussten die Kämpfer auf eigene Faust Informationen sammeln, um sich zu orientieren. Der Kommandeur der Division 36, Brigadegeneral Dado Bar Khalifa, wartete beispielsweise nicht auf Befehle, sondern eilte direkt von seinem Haus zum Einsatzort und kam gegen 10.00 Uhr in Netiv Haasara an. Er nahm einem der verletzten Polizisten eine Waffe, eine kugelsichere Weste und einen Helm ab. Dann fotografierte er einige der Nukhba‐Terroristen, die er neutralisiert hatte, um diese Fotos an die Geheimdienste zu schicken.Er verzichtete darauf, einige von ihnen absichtlich zu töten. Bar Khalifa erwischte zwei von ihnen nachweislich, indem er sie auf den Feldern zwischen Yad Mordechai und dem besetzten Erez‐Posten zusammenschlug, sie entkleidete, um sich zu vergewissern, dass sie keine Sprengladungen bei sich hatten, und sie an Ort und Stelle verhörte. Bei diesem Verhör, das unter Beschuss stattfand, erfuhr Bar Khalifa, in welche Richtung die Invasion von Nukhba ging, wo sich einige ihrer Leute in einem Hinterhalt versteckt hielten, und ganz allgemein über den Umfang des Ereignisses, zumindest im nördlichen Teil des Sektors, in der Nähe von Sderot. Offensichtlich wusste er zu diesem Zeitpunkt viel mehr, als sie in der Grube wussten.
11:30 Uhr
Wie andere Kampfbrigaden rückte auch die Brigade 890 um 7.00 Uhr morgens von ihrem Stützpunkt Nabi Mussa in der Nähe von Jerusalem aus in Richtung des Gazastreifens aus. Ein Teil der Kämpfer der Brigade traf zu den Kämpfen im Kibbutz Be’eri ein. In der Zwischenzeit gelang es dem Brigadekommandeur Oberstleutnant Yoni Hacohen, einen Sikorsky CH‐53 Sea Stallion »Yasur« Hubschrauber zu ergattern, der einige Dutzend seiner Kämpfer in das Gebiet brachte. Um 11.30 Uhr, kurz vor der Landung in der Nähe des Kibbutz Alumim, wurde der Hubschrauber direkt von einer Panzerfaust getroffen – ein seltenes Ereignis -, aber bevor er in Flammen aufging, gelang es dem Piloten, ihn sicher zu landen, und die Kämpfer stiegen aus und nahmen direkt am Kampf im Kibbuz teil.
Die Kämpfe, an denen sie teilnahmen, einige davon im bebauten Gebiet, ließen die Kämpfer der Einheit 890 sehr bedauern, dass sie ohne Splittergranaten angereist waren. Auch andere Brigaden haben diese wichtige Waffe nicht erhalten. Der Grund: Die IDF lagern Granaten aus Sicherheitsgründen in Bunkern. Wann werden sie verteilt? Nur bei entsprechenden Übungen oder bei Einsätzen im Feindesland. Wenn Truppen kurzfristig mobilisiert werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Granaten erhalten, nicht groß.
Viele der Offiziere und des Bodenpersonals, mit denen wir sprachen, beklagten sich über fehlende oder ungeeignete Kampfausrüstung. Es mag verständlich sein, warum die Notreservelager nicht bereit waren, die aus dem Norden eingetroffenen Kämpfer im Süden auszurüsten, aber hier ist die Geschichte eines Reservistenbataillons der Division 98, einer ausgewählten Kommandoeinheit. Man hätte annehmen können, dass für ein solches Bataillon, das eindeutig die Speerspitze der Kämpfe bilden sollte, alles im Voraus vorbereitet sein würde. Aber nein. Kämpfer, die am späten Vormittag die Reservelager erreichten, berichteten über fehlende Ausrüstung. »Natürlich waren die Waffen nicht geeicht, und wir schossen einige Stunden lang im Gazagürtel, ohne irgendwelche Terroristen zu treffen«, berichtete einer der Kämpfer. »Unsere Scharfschützen waren ohne die auf den Waffen montierten Visiere unterwegs, und dann waren da noch die kugelsicheren Westen. Mindestens einer von uns wurde an diesem Samstag getötet, als eine Kugel seinen Bauch traf, weil er keine solche Weste trug.«
Übrigens waren die Infanteriekämpfer nicht die einzigen, denen es an Ausrüstung mangelte. Auch die Panzerkorps stellten dies sehr schnell fest. Die Reservisten der Division 252 zum Beispiel wurden am Samstagmorgen relativ früh mobilisiert, aber als sie ihr Versorgungszentrum in Tze’elim erreichten, mussten sie feststellen, dass die ersten Panzer, die ihnen zur Verfügung standen, Merkava‐III‐Panzer waren – und selbst diese waren nicht in einem beeindruckend gut gewarteten Zustand, einige von ihnen waren mehr als 20 Jahre alt. Aber sie hatten keine andere Wahl, also stiegen sie in die Merkava‐Panzer, beteten, dass die Motoren anspringen würden, und rasten über die Straßen in Richtung Gazagürtel. Diese Panzer gehörten zu den ersten, die meldeten, was in den Kommandozentralen noch niemand begriffen hatte: dass die Nukhba‐Terroristen an wichtigen Punkten Hinterhalte angelegt hatten, um Verstärkungseinheiten anzugreifen.
11:59 Uhr
Das Chaos und die Verwirrung hielten viele Stunden lang an. In der Lagebeurteilung bis zum Mittag wurde dem Südkommando bereits klar, dass ihre Einschätzung bis zum Morgen, wonach die Hamas nicht in der Lage war, »die Barriere« zu durchbrechen, außer vielleicht an ein oder zwei Punkten, völlig zusammengebrochen war und dass es der Hamas gelungen war, an mehr als 30 Punkten durchzubrechen (siehe die Karte der Durchbruchspunkte auf diesen Seiten [Anm. d. Red: Die Karte zeigt 48 rote Punkte auf dem Zaun um Gaza mit der Legende: »Durchbruchsstelle im Zaun/Tor durchbrochen«]).
Selbst fast sechs Stunden nach dem Vorfall war der Nebel, der diese Lagebeurteilung verhüllte, enorm. Das Hauptquartier verstand nicht, welche Ziele die Hamas verfolgte, wo ihre Streitkräfte stationiert waren und wie sie operierten, die Kontrolle der Kreuzungen, die gleichzeitigen Angriffe auf Posten und zivile Siedlungen. Zu diesem Zeitpunkt glaubte das Hauptquartier, dass es bis zur Dunkelheit die Kontrolle über den gesamten Süden des Landes zurückgewinnen könnte. In der Praxis würde dies noch drei Tage dauern, und selbst dann wäre das Gebiet noch nicht vollständig von Hamasleuten geräumt.
Aber in der Zwischenzeit kamen die ersten Videos über Gefangene herein und das Hauptquartier verstand, dass es sich zumindest in dieser Hinsicht nun um ein völlig anderes Ereignis handelte. Dies war der Moment, in dem die IDF beschlossen, zu einer Version der Hannibal‐Direktive zurückzukehren.
1986, nach der Gefangennahme und Ermordung von zwei IDF‐Soldaten durch die Hisbollah, führten die IDF eine neue, geheime und umstrittene Richtlinie ein. Unter dem Abschnitt »Aufgabe« enthielt sie die Anweisung: »Sofortige Feststellung eines ›Hannibal‹-Vorfalls, Verzögerung/Halt der gefangennehmenden Truppe um jeden Preis und Freilassung der Gefangenen.« Der ursprüngliche Befehl lautete: »Bei einer Gefangennahme besteht die Hauptaufgabe darin, unsere Soldaten von den Gefangenen zu befreien, selbst um den Preis, dass unsere Soldaten getroffen oder verletzt werden.« Veröffentlichungen zufolge wurde der Befehl 2016 geändert, abgeschwächt und sein Name geändert. Der aktuelle Wortlaut wurde nicht veröffentlicht, aber es wurde eine Klarstellung eingeführt, dass Handlungen zu vermeiden sind, die mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben des Gefangenen gefährden würden.
Die Untersuchung von 7 Tage zeigt, dass die IDF am Mittag des 7. Oktobers alle ihre Kampfeinheiten angewiesen hat, die Hannibal‐Direktive in die Praxis umzusetzen, obwohl sie diesen Namen nicht explizit genannt hat. Die Anweisung lautete, jeden Versuch der Hamas‐Terroristen, nach Gaza zurückzukehren, »um jeden Preis« zu unterbinden, wobei eine Formulierung verwendet wurde, die der ursprünglichen Hannibal‐Direktive sehr ähnlich war, obwohl der Verteidigungsapparat wiederholt versprochen hatte, die Direktive sei aufgehoben worden.
In der Praxis bedeutet der Befehl, dass das Hauptziel darin bestand, den Rückzug der Nukhba‐Kämpfer zu verhindern. Und wenn sie Gefangene als Geiseln mitnahmen, dann auch dann, wenn dies die Gefährdung oder Schädigung des Lebens von Zivilisten in der Region, einschließlich der Gefangenen selbst, bedeutete.
Mehreren Zeugenaussagen zufolge operierte die Luftwaffe in diesen Stunden unter der Anweisung, Bewegungen von Gaza nach Israel und die Rückkehr von Israel nach Gaza zu verhindern. Schätzungen zufolge wurden in dem Gebiet zwischen den Siedlungen am Gaza‐Rand und dem Gazastreifen etwa tausend Terroristen und Infiltratoren getötet. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, wie viele der Gefangenen durch den Einsatz dieses Befehls am 7. Oktober getötet wurden. In der Woche nach dem Schwarzen Sabbat untersuchten Soldaten von Eliteeinheiten auf Initiative des Südkommandos etwa 70 Fahrzeuge, die in dem Gebiet zwischen den Siedlungen des Gaza‐Umschlags und dem Gaza‐Streifen verblieben waren. Es handelte sich um Fahrzeuge, die den Gazastreifen nicht erreichten, weil sie auf dem Weg dorthin vom Feuer eines Kampfhubschraubers, einer Drohne oder eines Panzers getroffen wurden, wobei zumindest in einigen Fällen alle Fahrzeuginsassen ums Leben kamen.
12:30 Uhr
Um die Mittagszeit dieses Samstags, etwa sechs Stunden nach Beginn des Hamas‐Angriffs, schätzte die IDF aufgrund der unvollständigen Informationen immer noch, dass nur etwa 200 Nukhba‐Terroristen nach Israel eingedrungen waren, während die tatsächliche Zahl fast zehnmal größer war. Wie »7 Tage« herausgefunden hat, benutzte die IDF zu diesem Zeitpunkt immer noch die Statusbewertungen in dem vom Südkommando erstellten Schlachtplan, obwohl klar war, dass diese nicht mehr relevant waren. Peinlicherweise wurde der Inhalt des Plans weiterhin recycelt und kopiert, einschließlich der kategorischen Aussage, dass die Hamas eine »sehr geringe« Fähigkeit habe, den Zaun zu überwinden.
Israel hatte Zugang zu dem Hamas‐Invasionsplan »Mauern von Jericho«, der sich am 7. Oktober als fast völlig realistisch erwies. Aber niemand dachte daran, dass man vielleicht im Voraus Befehle für dieses Szenario vorbereiten sollte. Das Ergebnis: Sechs Stunden nach dem Angriff, als der Süden mit über 2.000 Terroristen überschwemmt war, war der einzige verfügbare Befehl derjenige, der auf der Annahme beruhte, dass die Fähigkeit der Hamas, den Zaun zu überwinden, »sehr gering« sei.
13:00
Die Luftwaffe konzentrierte sich seit dem Morgen auf die Hauptaufgabe: die Übergriffe über den Zaun zu stoppen. Am Mittag weiteten sie auf Ersuchen von Eliteeinheiten wie der Flottille 13 und dem Nahal‐Kommando auch die Luftangriffe auf die besetzten Siedlungen und Lager aus. Da kein ständiger Kontakt mit dem Kommando der Luftwaffe bestand, führten die Piloten direkte Telefongespräche mit Offizieren und Kämpfern am Boden und erhielten die Anweisung, die Turnhalle und den Fitnessraum der Gaza‐Division im Lager Re’im anzugreifen, nachdem sich sieben der Nukhba‐Terroristen dort verschanzt hatten. Später griffen sie auch den Speisesaal im belagerten Außenposten Sufa an.
Zu diesem Zeitpunkt waren zehn Kampfhubschrauber in der Luft (von 28, die an jenem Morgen turnusmäßig an den Kämpfen teilnahmen), aber selbst in diesem Stadium war die Kommunikation mit den Luftstreitkräften, wie bereits erwähnt, meist improvisiert. So rief beispielsweise der zweite Befehlshaber der Division 80, Oberst A, der die Zitrushaine in der Nähe von Kerem Schalom stürmen wollte, persönlich den Kommandeur der Hubschrauberstaffel, Oberstleutnant A, an und bat um massiven Beschuss der Zitrushaine. Normalerweise beträgt der Sicherheitsabstand zwischen den Bodentruppen und dem Bombardement aus der Luft bei solchen Vorfällen etwa 300 Meter. Diesmal betrug die Entfernung nur einige Dutzend Meter. Ein paar Tage später erzählte ein Geheimdienstoffizier dem Geschwaderkommandeur A, dass die Nukhba‐Terroristen angewiesen worden waren, an diesem Morgen nicht zu rennen, weil sie wussten, dass die Piloten denken würden, dass es sich um Israelis handelte, die zu Fuß unterwegs waren und nicht flüchteten, und dann zögern würden, auf sie zu schießen. So ist das, wenn der Feind viel mehr über dich weiß als du über ihn.
Antwort des IDF‐Sprechers: »Die IDF bekämpft derzeit die mörderische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen. Die IDF werden eine gründliche, detaillierte und eingehende Untersuchung der Angelegenheit durchführen, um die Details vollständig zu klären, sobald die operative Situation dies zulässt, und werden ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit bekannt geben.«
Veröffentlicht in der Wochenendbeilage »7 Tage« von Yedioth Ahronoth, 12. Januar 2024. Diese maschinelle, mit Deep‑L angefertigte Übersetzung basiert auf Dena Shunras Übersetzung aus dem Hebräischen ins Englische
Zuerst in englisch erschienen bei The Electronic Intifada
Bild: Überwachungskamera zeigt bewaffnete Hamas‐Männer beim Stürmen des Kibbuz Alumim im Süden Israels am 7. Oktober 2023 (Chavmen)