Zufälligerweise bin ich auf eine alarmierende Tatsache gestoßen: Rechtsextreme sind dazu übergegangen, sozialistische Schriftsteller, die sich als Patrioten verstanden, zu kapern. Der weit verbreitete nationale Nihilismus innerhalb der linken Szene, deren negativen Auswüchse bis weit in die sozialistische Bewegung spürbar sind, ermöglichte dies überhaupt. Der rechtsextreme Jungeuropa Verlag veröffentlichte bereits 2019 das Werk Sozialismus und Nation von Hermann Heller, einem Sozialdemokraten aus der Weimarer Zeit.
Hermann Heller war kein herausragender Theoretiker. Er war ähnlich wie Walther Rathenau, aber mit sozialistischem Anspruch. Man könnte sich ewig an seinen einzelnen theoretischen Fehlern aus der Sicht des Marxismus abmühen, wie es allzu gerne blutleere Phrasendrescher tun, die nicht verstehen, wann eine ausführliche Abhandlung aus Mangel an Relevanz nicht von Nöten ist. Hermann Heller hat es nicht verdient, von Rechtsextremen vereinnahmt zu werden – das ist es, worauf es in diesem Moment ankommt. Aus diesem Grund sei mir verziehen, dass ich aus seinem Werk zitiere, ohne auf eine Liste an Kritikpunkten einzugehen.
Adolf Hitler selbst schrieb in Mein Kampf über die Benutzung von Mimikry:
»Wir haben die rote Farbe unserer Plakate nach genauem und gründlichem Überlegen gewählt, um dadurch die linke Seite zu reizen, zur Empörung zu bringen und sie zu verleiten, in unsere Versammlungen zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sprengen, damit wir auf diese Weise überhaupt mit den Leuten reden konnten.«1
Das war auch der Grund, wieso der Hitlerfaschismus sich den offiziellen Namen »Nationalsozialismus« gab – um Mimikry zu betreiben unter den Werktätigen. Das fand aber im Wesentlichen beim Kleinbürgertum Anklang, nicht bei den Arbeitern. Wie dem auch sei, Rechtsextreme scheinen heute noch immer danach zu handeln und noch dreister zu werden, indem sie nicht nur Formen kopieren, sondern Personen für sich beanspruchen, die mit ihrer Gesinnung nichts gemein haben.
Zu der oben erwähnten Neuausgabe von Hellers Werk verfasste Thor von Waldstein ein Vorwort unter dem Titel »Lassalle, Heller und das verratene Erbe des deutschen Sozialismus«. Den im Titel erwähnten »deutschen Sozialismus« auf den Naziterminus zurückführen zu wollen wäre in dieser Stelle aber wohl Überinterpretation, denn Heller benutzte diesen Terminus ebenfalls in seinem Sinne.2 Viel problematischer sind Waldsteins Ansichten. Er schrieb:
»Es gehört zur Tragik der deutschen Linken, daß das Lassallesche Ideal eines allein in autochthonem Rahmen zu verwirklichenden Sozialismus nach seinem frühen Tod 1864 mehr und mehr von einem volksvergessenen Dogmatismus überwuchert wurde, in dem der spiritus Marxii purus und nicht der deutsche Geist den Ton angab.«3
Damit wirft er Marx indirekt Kosmopolitismus vor und betont die Rolle der rein »eingeborenen« Bevölkerung über. Man erkennt, dass es sich bei Waldstein um einen Rechtsextremen handelt, der versucht, etwas Mimikry mit oberflächlichem Bezug zu sozialistischen Persönlichkeiten aus der Geschichte zu betreiben. Authentisch wirkt das nicht. Außerdem merkte Heller selbst an, dass »Die Arbeiter haben kein Vaterland.« lediglich eine Zustandsbeschreibung von 1848 gewesen ist und wies auf den weiteren Kontext hin, dass Marx und Engels dazu aufriefen, dass sich das Proletariat erkämpft, was es nicht hat. Marx und Engels schrieben im Manifest der Kommunistischen Partei:
»Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.«4
Engels formulierte 1888 »nationale Klasse« zu »führende Klasse der Nation« um, damit der Kontext deutlicher wird. Das war auch gemeint, als Heller sagte: »Klasse muß Nation werden!»5 Jedenfalls wird daraus deutlich, dass »Die Arbeiter haben kein Vaterland.« eine Zustandsbeschreibung unter dem Kapitalismus ist und das Ziel die Schaffung einer sozialistischen Nation ist. Das erkannte Heller auch ausdrücklich an.6 Heller selbst ist es außerdem, der aus Lenins Werk »Über den Nationalstolz der Großrussen« zitiert7:
»Ist uns großrussischen klassenbewußten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiß nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, daß ihre werktätigen Massen (d. h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewußten Leben erhoben werden, daß sie Demokraten und Sozialisten werden.«8
Es stimmte also weder zur Zeit von Marx und Engels noch zur Zeit von Lenin und Stalin, dass der Marxismus »volksvergessen« gewesen wäre. Heller war zwar kein Marxist, aber er erkannte diese Wahrheit an, im Gegensatz zu Waldstein.
Waldstein wirft dem Marxismus außerdem wahrheitswidrig vor, durch den Klassenkampf »Zwietracht im Volk geschürt« zu haben.9 Im Anschluss an diesen Vorwurf zitierte er Heller aus dem Kontext, wobei die angeführten Zitate nicht in seine Richtung interpretierbar sind. Das liegt daran, dass Heller die Notwendigkeit des Klassenkampfes anerkannt hat. Heller bezeichnete den Klassenkampf der Arbeiter gegen den Kapitalismus, für den Sozialismus als »Kampf ums Recht»10. Heller schrieb auch:
»Der Klassenkampf ist somit ein gesellschaftlich notwendiges Mittel für die Verwirklichung des Sozialismus. Sozialismus aber bedeutet nicht das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft.«11
Karl Marx selbst schrieb 1848, dass sich die französische Nation in »zwei Nationen« teilen würde, nämlich »die Nation der Besitzer und die Nation der Arbeiter«.12 Damit war nicht Frankreich an sich gemeint, sondern Frankreich als kapitalistischer Staat. Diese Zweiteilung existiert in jedem kapitalistischen Staat. Deshalb ist Hellers »Vollendung der nationalen Gemeinschaft« im Sozialismus auch prinzipiell mit dem Marxismus kompatibel. Im Gegensatz dazu steht Waldstein, der diese Klassenspaltung nicht wahrhaben will. Man erkennt daran, wie egal ihm in Wahrheit Hellers Weltanschauung ist.
Heller warf Marx und Engels vor, ein »erstaunliches Staatsunverständnis« besessen zu haben13; Waldstein wirft Marx und Engels plump »Staatsfeindlichkeit« vor.14 Man erkennt darin einen großen Unterschied zwischen dem Denken Hellers und Waldsteins, eine Kluft. Laut Heller hätten Marx und Engels etwas nicht begriffen, während Waldstein den Vätern des Marxismus direkt böse Absichten unterstellt, die so nicht stimmen.
Waldstein zitiert diese Aussage vom »erstaunlichen Staatsunverständnis« und auch die Aussage, dass der Sozialismus nicht in der Luft, sondern »in einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Fleck Erde« gebaut werde.15 Mit Letzterem meinte Heller bloß, dass der Sozialismus unter konkreten Bedingungen gebaut wird und nicht im Nirwana. Er wandte sich gegen einen »abstrakt‐utopischen Sozialismus«, der in den Köpfen vorherrschen würde.16 Das ist eine berechtigte Kritik, wie man auch heutzutage sehen kann. Wie oft kommt es vor, dass sich welche als »Sozialisten« bezeichnen (etwa »demokratische Sozialisten«, also bestenfalls linke Sozialdemokraten), die über die DDR schimpfen: »Das war nicht der echte Sozialismus!« Es gibt noch immer Leute, für die der Sozialismus ein perfektes, in der Schwerelosigkeit und im Vakuum existierendes Objekt ist, anstatt Erfolge und Versäumnisse des Sozialismus zu analysieren. Deshalb kommen solche Besserwisser nicht weiter: Sie haben keine Praxis und kritisieren jeden, der einen Schritt vorwärtsgeht, auf die pingeligste Weise. Es lohnt sich kaum, dass man sich mit ihnen ausgiebig befasst.
Waldstein fragt:
»Was bleibt von Heller in Zeiten wie diesen, in denen die soziologische Größe ›Arbeiter‹ nunmehr eine aussterbende Spezies und die Metamorphose der Arbeiterbewegung zur get together party ortloser Intellektueller abgeschlossen zu sein scheint? In Zeiten eines repräsentativen Konsums, in denen der freizeitentfesselte bourgeois die Szenerie bestimmt, während der citoyen seine staatsprägende Kraft verloren hat und froh sein kann, wenn er von den catilinarischen Existenzen, die dieses Land heute beherrschen, keine Prügel bezieht?«17
Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich jemand über »ortlose Intellektuelle« beschwert und dann unnötig komplizierte Begriffe nutzt, die wenig aussagekräftig sind. Das ist mehr Schein als Sein und letztendlich auch nutzlos. Waldstein trifft mit dieser Kritik einen wahren Kern, dass die sozialistischen Parteien überwiegend aus Intellektuellen bestehen, die von den Sorgen und Nöten der Arbeiter wie abgeschirmt sind. Was nicht stimmt, ist, dass die Arbeiterklasse eine »aussterbende Spezies« sei. Die Lohnarbeit hat in der Bedeutung zu‐ und nicht abgenommen. Die Arbeiterklasse hat lediglich die Erscheinungsformen verändert: Sie ist nicht mehr überwiegend der »Muskelmann im blauen Industrieanzug mit dem schweren Schmiedehammer«, sondern ist ist verschiedenste Berufsgruppen zersplittert. Das macht es schwieriger, sich betrieblich zu organisieren. Darin zeigt sich aber, dass Waldstein Teil des angesprochenen Problems ist, nicht Teil der Lösung (mal ganz abgesehen von seinen sonstigen Äußerungen).
Waldstein behauptet von DDR und BRD gleichermaßen »fremdbestimmte Scheinstaatsgebilde« zu sein.18 Offenbar war das Hitlerreich für ihn der letzte »nicht‐fremdbestimmte echte Staat« in Deutschland, denn dies kam geschichtlich vor DDR und BRD. Eine teilweise richtige Aussage von Waldstein findet sich am Ende des Vorwortes:
»Das Paradoxon der Rechten bestand seit jeher darin, die Beseitigung des politischen (Links-)Liberalismus anzustreben, um im gleichen Atemzug den Wirtschaftsliberalismus und eben auch den Kapitalismus gegen Angriffe von links zu verteidigen. Das Dilemma der Linken ist und bleibt eine ausgeprägte Demophobie und damit eine inzidente Kampfansage gegen die eigen(tlich)e politische Geschäftsgrundlage. Diese Volksfremdheit hat sich zwischenzeitlich zu einer handfesten dogmatischen Blindheit gegenüber dem Schicksal der Globalisierungsverlierer ausgewachsen. Das politische Kapital, das sich dort in dem vergangenen Jahrzehnt aufgehäuft hat und für das wir immer noch nach der richtigen soziologischen Begrifflichkeit suchen, ist der Linken keines Blickes (mehr) würdig. Sie hat das Volk aufgegeben und sich mit den Liberalindividualisten ins flauschige Bett gelegt.«19
Seine Kritik an den »Linken« (gemeint sind offensichtlich die »Lifestyle‐Linken«, welche sich primär um das Gendern und LGBT‐Angelegenheiten kümmern, aber denen die soziale Frage in der Praxis völlig gleichgültig ist) passt wie die Faust aufs Auge. Das ist der Grund, wieso die Linkspartei so obsolet geworden ist: Sie wurde groß mit dem Versprechen, Hartz IV und Schröders neoliberale Reformen rückgängig machen zu wollen, endete aber in regionalen Koalitionen mit der SPD und kümmerte sich zunehmends um sogenannte »Minderheitenpolitik« (ein Metier der Grünen). Nicht dass die Linkspartei je mehr als eine linkssozialdemokratische Partei gewesen wäre – man erkennt aber an ihr beispielhaft den Abstieg einer Partei, die von der sozialen Frage gelebt hat, und sich um diese nicht mehr ernsthaft kümmert. Leider gibt es auch viele Genossen, die sofort jeglichen Kontakt abbrechen, wenn man ein kritisches Wort gegen den LGBT‐Aktivismus sagt oder einen »politisch inkorrekten« Witz reißt. Es nützt nichts, diese Kritik von Waldstein nicht wahrhaben zu wollen, nur weil er ein Rechtsextremer ist. Mao Tsetung sagte: »Jedermann darf unsere Mängel bloßlegen, wer immer es auch sei. Insofern sein Hinweis richtig ist, sind wir bereit, unsere Mängel zu korrigieren. Wenn sein Vorschlag dem Volk zum Wohle gereicht, werden wir danach handeln.»20 Diese Bedingungen treffen zu, auch wenn Waldsteins Absicht natürlich auch Diskreditierung ist.
Das angesprochene »Paradoxon« bedient Waldstein selbst, wenn er wenig später von »neidgesteuerten Umverteilungsexzessen« redet, die er genauso verurteilt wie »hohles Markt‐ und ´Freiheits´krakeele»21. Waldstein stellt nicht die Eigentumsfrage, also sind mit den »neidgesteuerten Umverteilungsexzessen« sicherlich die Forderungen nach Enteignungen der Großkonzerne gemeint, schließlich werfen Rechtsextreme das standardmäßig vor, wie auch besonders bürgerliche Konservative und Liberale. Heller trat dafür ein, dass dem Privateigentum ein »öffentliches, sozialistisches, wenn auch nicht notwendig staatliches Eigentum« (womit er neben dem Staatseigentum das Genossenschaftseigentum meint) entgegengesetzt werden soll.22 Auch weist Heller darauf hin, dass weder Marx und Engels noch sonstige sozialistischen Führer mit Sozialismus Gleichmacherei gemeint hätten.23 Solche Aussagen passen nicht zu Waldsteins Anschauungen. Man kann aus marxistischer Sicht sagen, dass Heller in der Eigentumsfrage etwas zu schwammig ist, aber immerhin erkennt er das Privateigentum als das wirtschaftliche Kernproblem. Bei Waldstein findet man begriffliche Pompösitäten, aber keine begriffliche Klarheit. Er reißt ein paar Kritikpunkte an den bürgerlichen »Linken« an, aber er liefert keine konkrete Eigenpositionierung. Offenbar versucht er Mimikry zu betreiben als eine Art »enttäuschter Linker«, obwohl Waldstein nie ein Linker war, weder im bürgerlichen noch im sozialistischen Sinne. Sein Vorgehen ist also perfide.
Weiter behauptet Waldstein, dass Heller einen »nicht‐internationalistischen deutschen Sozialismus« vertreten habe.24 Stimmt das? Nein! Heller schrieb in seinem Buch von der Notwendigkeit einer Internationale: »Zunächst steht fest, daß der Sozialismus eine Internationale braucht.»25 Er machte aber auch deutlich, dass die sozialistischen Parteien und die Nation die Internationale wollen müsse, ohne sich dabei selbst aufzugeben.26 Heller sah ein dialektisches Spannungsfeld zwischen dem Nationalen und dem Internationalen, bei welchem er der Nation als Grundlage den Vorrang gab. Dieser Vorrang widersprach nicht einem internationalistischen Ansatz, nur räumt er der Nation als Mosaikstein in den internationalen Beziehungen einen höheren Raum ein. So schreibt er am Ende des Buches: »In jeder Wirklichkeitsgestaltung aber führt der Weg zur Menschheit durch das Volk, wie der Glaube an Gott durch den nie erfüllten und doch nie ersterbenden Glauben an den Menschen führt.»27 Heller hatte also keine prinzipiellen Einwände gegen eine Internationale, sondern fürchtete er sich lediglich vor der Auflösung der Nationen in einem »kulturlosen Menschenbrei«.28 Wenn man sich den Export amerikanischer (Un-)Kultur in den westlichen Staaten ansieht, der zu einer kulturellen Verarmung in den betroffenen Nationen geführt hat, ist verständlich, dass Hellers Sorge unter kapitalistischen Verhältnissen auf jeden Fall nicht unberechtigt gewesen ist.
Heller war generell ideologisch ambivalent. Er wetterte gegen die »sozialistisch‐kommunistischen Parteien»29 und nannte den Sozialismus in der Sowjetunion »sinnlos« (und innerhalb einzelner europäischer Staaten »unmöglich«)30, erkannte aber auch an, dass »Rußlands Agrarwirtschaft« und der »deutsche Industriestaat« eng zusammenarbeiten sollten.31 Darin zeigt sich eine Ähnlichkeit mit Rathenau. Die »Sinnlosigkeit« des Sozialismus in einem Lande begründete Heller folgendermaßen: »Eine einzelne Nation kann zwar sehr bedeutsame sozialistische Ansätze und Voraussetzungen schaffen: ohne ein gesichertes politisch‐wirtschaftliches Zusammenwirken der auf gleicher Zivilisationsstufe stehenden Mächte müssen aber diese Anfänge steckenbleiben.«32 Er betonte dabei die Rolle des »Kulturkreises«, wobei, wenn man sich den Kontext anschaut, nicht gerade eine chauvinistische Überlegenheit des von ihm als »atlantischen Kulturkreis« bezeichneten Westen begründet, sondern auf deren Ähnlichkeit im Entwicklungsniveau hinauswill. Allein aus Gesichtspunkten der Gleichberechtigung im Handel und Austausch ist ein ähnliches Entwicklungsniveau wünschenswert. Die Geschichte hat aber auch gezeigt, dass dieses keine unbedingt notwendige Bedingung ist. Er beging hier einen Fehler, da er davon ausging, dass der Sozialismus in einem Lande nicht möglich sei. Man kann dort aber nur schwerlich trotzkistische Anschauungen hineininterpretieren, dafür passt das restliche ideologische Bild nicht. Heller erkannte aber auch an, dass es keine »absolute Freiheit« geben kann und betonte stattdessen das dialektische Spannungsfeld zwischen Freiheit und Zwang.33 Das würde ein Marxist auch sagen.
Auch erkannte Heller das außenpolitische Problem des deutschen Volkes an, welches in den nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennten Gebieten, wie etwa Elsass‐Lothringen, das Sudetenland oder Südtirol dem Assimilationsdruck ausgesetzt war.34 Das war ein reales Problem, das man nicht einfach damit zum Tabu erklären kann, weil die Nazis dieses Thema für sich ausgenutzt haben. Dass der Versailler Vertrag in jeglicher Hinsicht Unrecht erzeugte, das war auch Lenin bewusst. Er sprach auf dem II. Kominternkongress: »Der Versailler Vertrag hat für Deutschland und eine ganze Reihe anderer besiegter Länder Verhältnisse geschaffen, unter denen eine wirtschaftliche Existenz materiell unmöglich ist, Verhältnisse völliger Rechtlosigkeit und Erniedrigung.»35 Kein Kommunist kann die Folgen des Versailler Vertrags unterstützen, ohne damit dem Imperialismus das Wort zu reden. Hellers Haltung war der der Kommunisten ähnlich: »Der Versailler Vertrag ist so wenig für die Ewigkeit wie alle Friedensverträge vorher.«36 Dies bewahrheitete sich auch – aber leider mit dem Hitlerfaschismus in einer noch größeren Tragödie als ohnehin schon. »Wir wünschen den Krieg nicht. Wir halten ihn auf Grund der Weltkriegserfahrung auch für ein untaugliches Mittel, die europäischen Völkerbeziehungen zu ordnen«, schrieb Heller deutlich.37 Die Geschichte sollte zeigen, wie untauglich und gar schädlich Kriegstreiberei ist: Sie hat Deutschland in den Abgrund geführt.
Wenn man Hermann Hellers Anschauung prägnant in einem Satz zusammengefasst wissen will, so lautet dieser wohl: »Sozialistisch sein heißt also notwendig auch national sein, wie umgekehrt.»38 Dieser Satz würde heutzutage als problematisch angesehen werden, selbst unter Genossen, da die nationale Frage tabuisiert wird. Das liegt an der verlogenen Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus durch die Bürgerlichen.
Das Problem ist, dass Hitlers Propaganda‐Axiom, die meisten Menschen würden eher Opfer einer großen Lüge als einer kleinen werden39, gewissermaßen stimmt. Die verlogene Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus durch Liberale trug massiv dazu bei, dass Rechtsextreme es überhaupt wagen konnten anzufangen, sozialistische Autoren zu kapern. Ohne diese Gleichsetzung würde ihnen das kaum einer abnehmen. Wären die Liberalen ehrlich, würden sie von sich sagen: »Unser Wissen ist nichts, wir horchen allein dem Gerüchte.«40 Sie sind gewissermaßen Opfer ihrer eigenen Propagandamärchen, durch die sie geistig verarmt sind. In der Bibel steht: »Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.«41 Faschisten sind gewissermaßen der »Teufel höchstpersönlich«. Wir müssen Wacht halten dagegen, dass nicht noch weitere sozialistische Autoren von Rechtsextremen »verschlungen« werden.
Die deutschen Rechtsextremen scheinen außerdem erkannt zu haben, dass der Islam genauso rechtsextrem ist, wie sie selbst. Fredrich Höfer veröffentlichte das Buch »Feindbild Islam als Sackgasse« im Jungeuropa Verlag, welches offenbar eine politische Zusammenarbeit zwischen Rechtsextremen und Muslimen vorschlägt.42 Man kann ersehen, dass die deutschen Rechtsextremen ideologisch anpassungsfähig sind an verändernde Gegebenheiten. Wir sollten auch anpassungsfähig sein und nicht dem Bild anhängen, dass ein Faschist unbedingt ein Juden hassender Skinhead sein muss, der sich ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowiert hat. Solche Leute gibt es, aber sie sind unter den Rechtsextremen längst nicht mehr der Normaltypus.
Jedenfalls dürfen wir die Beantwortung der nationalen Frage nicht rechtsextremen Kräften überlassen, weil Antideutsche diese wichtige politische Frage per se als »rechts« abtun.
Die Ablehnung der Beantwortung der nationalen Frage durch die linke Szene und sogar durch eine ganze Reihe von sich als marxistisch verstehenden Genossen überlässt bloß diese Frage rechten und rechtsextremen Kräften. Der nationale Nihilismus dieser Personen und ihrer Gruppierungen ist für unsere Sache schädlich. Wir bauen den Sozialismus unter den nationalen Bedingungen Deutschlands auf, nicht im Nirwana und auch nicht in »Antideutschland«. Wir sind nun einmal Deutsche und unsere Nation hat ein reiches, fortschrittliches Erbe. Dieses ist nicht auf die Zeit des Hitlerfaschismus zu reduzieren. Ernst Thälmann selbst, ein kommunistischer Märtyrer, der von den Nazis im KZ Buchenwald ermordet worden ist, schrieb im Januar 1944 in einem Brief an einen Mitgefangenen diese Worte:
»Ich bin kein weltflüchtiger Mensch, ich bin ein Deutscher mit großen nationalen, aber auch internationalen Erfahrungen. Mein Volk, dem ich angehöre, und das ich liebe, ist das deutsche Volk und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation, eine ritterliche, stolze und harte Nation. Ich bin Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische der deutschen Arbeiter und bin deshalb als ihr revolutionäres Kind später ihr revolutionärer Führer geworden. Mein Leben und Wirken kannte und kennt nur eines: Für das schaffende deutsche Volk meinen Geist und mein Wissen, meine Erfahrungen und meine Tatkraft, ja mein Ganzes, die Persönlichkeit zum Besten der deutschen Zukunft für den siegreichen sozialistischen Freiheitskampf im neuen Völkerfrühling der deutschen Nation einzusetzen!«43
Dieses Zitat war in der DDR unter Walter Ulbricht ein Vermächtnis und Bekenntnis zu einer sozialistischen deutschen Nation. Im Jahre 2017 versuchte die AfD dieses Zitat zu kapern44, aber glücklicherweise wurde dies mit einem Aufschrei unter anderem von der DKP beantwortet.45 Dennoch bleibt die Frage: Wie wären wohl die Reaktionen aus der linken Szene heutzutage, wenn ein Genosse solche Worte aussprechen würde? Ein solcher Genosse würde nur Beifall erhalten von den wahren marxistischen Kräften; die vom westlichen Liberalismus infizierten Genossen würden alles dafür tun, um sich von einem solchen sozialistisch‐patriotischen Bekenntnis zu distanzieren.
Antideutsche starteten die Plattform »Nationalismus ist keine Alternative« (NiKA).46 Das Problem ist nicht der Nationalismus, sondern welche Ausprägungsform davon existiert: Patriotismus oder Chauvinismus. Patriotismus ist Heimatliebe, Chauvinismus ist Hass gegenüber anderen Nationen. Thälmann war von einem revolutionären sozialistisch‐patriotischen Geist durchdrungen – dieser Geist sollte uns auch heute noch Vorbild sein.
Der Ur‐Revisionist Georg von Vollmar sagte einmal im Bezug auf die soziale Frage: »Vor allem sind die Menschen nicht so, daß sie über einem verheißenen künftigen Leben das Elend des gegenwärtigen vergessen – das hat auch das Christentum erfahren müssen und wir würden es nicht minder erfahren müssen, wenn wir so töricht wären es auf die Probe ankommen zu lassen.»47 Auch bei Vollmar kann man sich an den revisionistischen Hintergründen seiner Person unnötig lange aufhalten, die an dem Wahrheitsgehalt dieses Zitats nichts ändern. Man kann die Massen auch in der nationalen Frage nicht auf den Sanktnimmerleinstag vertrösten. Fakt ist nämlich: Man kann den Massen gegenüber nicht sagen, dass Deutschland als Nation sozusagen mit sofortiger Wirkung aufzulösen sei oder dass man im jetzigen kapitalistischen Deutschland keinerlei patriotische Gefühle haben dürfte. Die erste Haltung ist die kosmopolitische Haltung der Antideutschen. Sie ist grundsätzlich reaktionär. Die zweite Haltung stammt aus einer falschen Gleichsetzung von Nation und Staat. Lenin war ein russischer Patriot, da gab es die Sowjetunion noch jahrelang nicht. Ein wahrer Patriot zu sein, heißt, dass man für sein Volk das Beste will. Das Volk sind die Werktätigen. Stalin sagte auf dem XIX. Parteitag der KPdSU 1952:
»Jetzt verkauft die Bourgeoisie die Rechte und die Unabhängigkeit der Nation für Dollars. Das Banner der nationalen Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität ist über Bord geworfen. Ohne Zweifel werden Sie, die Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner erheben und vorantragen müssen, wenn Sie Patrioten Ihres Landes sein, wenn Sie die führende Kraft der Nation werden wollen. Es gibt sonst niemand, der es erheben könnte.«48
Dieser Aufruf gilt noch immer. Der Bourgeoisie ist das Wohlergehen des Volkes, der Nation egal. Das einzige was zählt, ist der Profit. Nur den sozialistischen Kräften kann tatsächlich und ohne Heuchelei etwas an der Nation liegen.
Die Frage nach einer deutschen Leitkultur wird von der linken Szene prinzipiell abgelehnt – egal ob SPD, Grüne, Linkspartei oder gar DKP und Arbeiterbund.49 Stattdessen wird, zum Beispiel von der SPD, »gesellschaftliche Diversität« betont.50 Das ist eine hohle Phrase, die keinen Leitfaden gibt. Bei den Protesten gegen das Integrationsgesetz in Bayern 2016 behauptete Nicole Gohlke (DieLinke), dass Integrationsverweigerung ein bloßer »Mythos« sei.51 Wollte man das allen Migranten gegenüber vorhalten, so stimmt es, dass es sich dabei um einen Mythos handelt. Das wäre eine falsche Verallgemeinerung. Schaut man aber auf muslimische Migranten, so existiert die Integrationsverweigerung durchaus als Gesellschaftsphänomen. Zuletzt hatte ein ex‐muslimischer Genosse aus seinem Leben berichtet und ging dabei auch auf die Integrationsverweigerung aus islamischen Kreisen ein.52 Aber selbst wenn es dieses Problem nicht geben sollte, so bräuchte man eine deutsche Leitkultur, die das fortschrittliche Erbe der deutschen Nation an die kommende und kommenden Generationen weiterreicht – ein nationales Epos, das inspiriert und gewissermaßen Leitplanke ist. Unsere Parole muss lauten: Für eine humanistische, sozialistische deutsche Leitkultur!
Meine Ausführungen mögen vom ursprünglichen Anlass abgewichen sein, aber keinesfalls vom Thema. Die Notwendigkeit für diese Ausführungen bestand in der Gefährlichkeit des allzu häufig bestehenden nationalen Nihilismus in der linken Szene, der dazu führt, dass rechte und rechtsextreme Kräfte die nationale Frage monopolisieren. Es ist für uns an der Zeit, dass wir uns ein zweites Mal in der deutschen Geschichte, wie schon Karl Marx und Friedrich Engels es forderten, zur sozialistischen Nation konstituieren.
Verweise
1 Adolf Hitler »Mein Kampf«, Verlag Franz Eher Nachf., München 1943, S. 542.
2 Siehe: Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 103.
3 Thor von Waldstein »Vorrede« In: Ebenda, S. 8.
4 »Manifest der Kommunistischen Partei« In: Karl Marx/Friedrich Engels »Werke«, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 479.
5 Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 73.
6 Siehe: Ebenda, S. 71.
7 Siehe: Ebenda, S. 134.
8 »Über den Nationalstolz der Großrussen« (12. Dezember 1914) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 21, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 92.
9 Vgl. Thor von Waldstein »Vorrede« In: Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 17.
10 Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 66.
11 Ebenda, S. 69. Siehe auch: Ebenda, S. 64.
12 Karl Marx »Die Junirevolution« (29. Juni 1848) In: Karl Marx/Friedrich Engels »Werke«, Bd. 5, Dietz Verlag, Berlin 1959, S. 133.
13 Vgl. Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 84.
14 Vgl. Thor von Waldstein »Vorrede« In: Ebenda, S. 9.
15 Siehe: Ebenda, S. 16.
16 Vgl. Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 80.
17 Thor von Waldstein »Vorrede« In: Ebenda, S. 19.
18 Vgl. Ebenda, S. 18.
19 Ebenda, S. 20.
20 »Dem Volke dienen« (8. September 1944) In: Mao Tse‐tung »Ausgewählte Werke«, Bd. III, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1969, S. 205.
21 Vgl. Ebenda, S. 23.
22 Vgl. Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 31.
23 Vgl. Ebenda, S. 32.
24 Vgl. Ebenda, S. 21.
25 Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 124.
26 Vgl. Ebenda, S. 133.
27 Ebenda, S. 143.
28 Ebenda, S. 138.
29 Siehe: Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 83.
30 Vgl. Ebenda, S. 125.
31 Vgl. Ebenda, S. 139.
32 Ebenda, S. 125.
33 Vgl. Ebenda, S. 102.
34 Vgl. Ebenda, S. 135.
35 »Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale« (19. Juli 1920) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 31, Dietz Verlag, Berlin 1966, S. 205.
36 Hermann Heller »Sozialismus und Nation«, Jungeuropa Verlag, Dresden 2019, S. 140.
37 Ebenda, S. 141.
38 Ebenda, S. 70.
39 Vgl. Adolf Hitler »Mein Kampf«, Verlag Franz Eher Nachf., München 1943, S. 252.
40 Homer »Ilias«, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1972, S. 31 (Ilias II, 486).
41 1. Petrus 5, 8.
42 https://www.jungeuropa.de/jungeuropa/309/feindbild-islam-als-sackgasse
43 Ernst Thälmann »Antwort auf Briefe eines Kerkergenossen in Bautzen« (Januar 1944) In: »Ernst Thälmann – Vorbild der deutschen Jugend«, Volk und Wissen Verlag, Berlin/Leipzig 1951, S. 53.
47 https://130jahre.bayernspd.de/dokumente/eldorado-reden-georg-von-vollmars-auszuege/?mode=popup Das war am 6. Juli 1891 in seiner zweiten »Eldorado«-Rede.
48 »Rede auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« (14. Oktober 1952) In: J. W. Stalin »Werke«, Bd. 15, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1979, S. 394.
49 https://muenchen.verdi.de/service/veranstaltungen/++co++51f50b30-2c73-11e6-9c6e-52540059119e Diese Parteien und noch viel mehr Organisationen (darunter auch die FDJ) nahmen 2016 an einer Demonstration gegen das Integrationsgesetz in Bayern teil, das eine deutsche Leitkultur festschreiben sollte.
51 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/integration-1800-menschen-demonstrieren-gegen-integrationsgesetz-der-csu‑1.3217689
52 https://www.die-rote-front.de/von-ali-zu-stalin-meine-erfahrungen-als-ex-alevit-mit-dem-islam/
Beitrag zuerst erschienen in Die Rote Front
Bild: Auschnitt des Deckblatts von Hellers 1931 bei Rowohlt erschienenem Sozialismus und Nation