Zur Geschichte hinter »Free Palestine«

Lesezeit20 min
  • Der Krieg in Gaza hat in Deutschland zu scharfer Repression gegen die arabische Bevölkerung und einer wachsenden Marginalisierung der palästinensischen Perspektive geführt.
  • Um international mehr Verständnis für diese Perspektive zu erreichen, hat der Haymarket Books Verlag drei E‑Books kostenlos zum Download angeboten.
  • Eines dieser Bücher ist der Sammelband Palestine – A Socialist Introduction.
  • Die Autoren beschreiben die Genese des palästinensischen Widerstands, sozialistische Perspektiven und die Rolle der internationalen Solidarität.
  • Die wichtigsten Thesen der Autoren werden heute und morgen vorgestellt.

»Free Palestine« ist eine Parole, die sich gerade massiver Kritik ausgesetzt sieht. In den Medien wird sie mit der Zustimmung zur Hamas, islamischem Antisemitismus und vor allen Dingen vermeintlich fehlendem Wissen assoziiert. Während die gleichen Medien die massive Repression, die durch Abschiebeforderungen, Vereins- und Veranstaltungsverbote, sowie Racial Profiling ausgeübt wird, mit keinem Wort erwähnt, wird bei jeder Kundgebung genau Buch geführt, ob sich ein Redner nicht deutlich genug von Terror distanziert hat. Es bleibt meist bei der Verurteilung einzelner Wortfetzen; die ganze Geschichte, die von Palästinensern erzählt wird – und die man am Ende immer noch kritisieren könnte – bleibt für die Mehrheitsgesellschaft unerzählt. Um die Wissenslücken zu füllen, entschloss sich der linke Haymarket-​Verlag, drei E‑Books für begrenzte Zeit zum kostenlosen Download anzubieten (Link). Eines davon ist Palestine – A Socialist Introduction. An dieser Stelle sollen einige Thesen des Buches dargestellt werden.

Zur Klarstellung: Das Buch ist bewusst einseitig. Es soll einen beziehungsweise mehrere historisch begründete Narrative zur politischen und historischen Analyse der palästinensischen Befreiungsbewegung darstellen und füllt damit eine im deutschen Diskurs anzutreffende Leerstelle. Selbst unter palästinasolidarischen Linken sind viele Sachverhalte und Einschätzungen nur wenig bekannt. Dass konkurrierende Narrative und deren materielle Grundlage hier mal nicht zu Wort kommen, ist so gewollt, da es um eine spezifisch palästinensische Perspektive geht. Die fehlenden Perspektiven sind andernorts hinreichend abgedeckt.

Zionismus, Siedlerkolonialismus & Bolschewismus

Sumaya Awad und Annie Levin beginnen zunächst mit einer rhetorisch bebilderten Warnung vor einer Romantisierung der gesellschaftlichen Beziehungen vor der Gründung Israels. Sie heben jedoch hervor, dass es beweits vor der Gründung Israels ein palästinensisches Volk gab, auch wenn dieses nicht wie ein modernes Staatsvolk Ländergrenzen und kulturelle Homogenitäten transzendierte. Historisch nicht korrekt lassen die Autorinnen die jüdische Besiedelung Palästinas mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beginnen, da die die Balfour-​Erklärung ihrer Meinung nach eine wesentliche Triebfeder darstellte. Die britische Verwaltung betrieb mit dieser eine Bodenpolitik, die perspektivisch auf die Errichtung eines rein jüdischen Staates zielen sollte. Palästinenser wurden dabei weniger unmittelbar enteignet, sondern Gebiete, die vorher Pachtland oder Allmende waren, wurden eingehegt und die arabische Bevölkerung so von den Mitteln ihrer Reproduktion getrennt. Während der UN-​Teilungsplan ohne Beteiligung der arabischen Bevölkerung und gegen den Willen der anrainenden Staaten beschlossen wurde, lag es in den Händen jüdischer bewaffneter Organisationen, diese Teilung real durchzusetzen. Zwischen 1947 und 1948 seien 400 palästinensische Dörfer zerstört und teilweise durch illegale Siedlungen ersetzt worden. Die Autorinnen gingen explizit auf die Geschehnisse im Dorf Tantoura ein, in dem während der Nakba hunderte Einwohner*innen ermordet wurden. Dem Argument, dass zwischen den Juden und Palästinensern ein Krieg mit Verbrechen auf beiden Seiten vorgelegen habe, begegnen sie mit dem Verweis darauf, dass man kaum von einem gleichberechtigten Krieg sprechen könne, wenn die einheimische Bevölkerung zum Teilungsplan gar nicht gefragt worden sei und gegen eine entsprechendes internationales Machtungleichgewicht hätte ankämpfen müssen.

Als zu kritisierenden Zionismus verstehen die Autorinnen nicht die prinzipielle jüdische Einwanderung oder jüdisches Leben in Palästina, sondern den dezidiert jüdischen Charakter des israelischen Staates, der andere Volksgruppen per definitionem abwerte, was sich in der Abwertung der arabischen Sprache gegenüber der hebräischen oder der staatliche Förderung des jüdischen Siedlungsbaus gegen die Vereinbarungen von Oslo manifestiere. Historisch sehen sie den Zionismus eingebettet in die allgemeine kolonialistische Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als europäische Mächte nur die Form der bürgerlichen Industriegesellschaft als Zivilisation anerkannten und andere Lebensformen – wie kleinbäuerliche oder nomadische in Palästina – marginalisierten. Zum Imperialismus habe der Zionismus ein besonderes Verhältnis. Die Suche nach finanziellen Mitteln, um in den imperialistischen Kriegen mithalten zu können, habe das Osmanische Reich dazu bewegt, Pachtland an jüdische Siedler zu verkaufen, ohne auf die Einschnitte in die Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Dass dieses Reich den Ersten Weltkrieg auch noch verlor und Palästina unter die Verwaltung des ebenso imperialistischen Großbritanniens stellte, stellte sich dann als doppeltes Unglück für die indigene Bevölkerung Palästinas dar. Mit einem Zitat aus Churchills »Zionismus gegen Bolschewismus« illustrieren sie die Interessen des Empire in ihrem Mandatsgebiet. Churchill sah unter der jüdischen Bevölkerung Europas einen Herd des Bolschewismus, dessen er sich gerne durch Übersiedlung nach Palästina entledigen wollte.

Der Shoa als Gründungsmythos des Staates Israel komme deshalb so eine große Bedeutung, weil sie die Spaltung der zionistischen Bewegung überwunden hätte. Während noch zu Zeiten des Hitlerfaschismus Kontroversen darüber geherrscht hätten, ob man überhaupt eine Heimat aller Juden– auch der verarmten osteuropäischen oder kulturell stark unterschiedenen afrikanischen sein wolle – hätte erst das singuläre Verbrechen der Shoa hier Kohärenz geschaffen; allerdings zu dem Preis, dass auch die unterlassene Hilfeleistung während der Shoa zum Erbe der zionistischen Bewegung gehöre.

Shireen Akram-​Boshar ging in einem Folgebeitrag noch etwas genauer auf die historischen Verbindungen zwischen Israel und den USA ein. Anfangs sei das Verhältnis durchaus ambivalent gewesen, da man sich von den nationalistischen arabischen und panarabischen Bewegungen ein Bündnis gegen die Sowjetunion erhoffte. Erst als Nasser seine Fühler Richtung Osten ausstreckte, nicht ohne gleichzeitig hunderte ägyptische Kommunisten verhaften zu lassen, habe sich die US-​Politik an die Seite Israels gestellt, das im Sechs-​Tage-​Krieg den USA die Aufgabe einer militärischen Eindämmung dankenswerterweise abnahm. Die folgende Zusammenarbeit sei eine Win-​Win-​Situation gewesen. Während Israel die bedeutendste Militärmacht der Welt im Rücken hatte, war es zugleich für die USA ein Anker politischer Interessen über die Region hinaus. Israel knüpfte stets schnell Kontakte zu international geächteten Regimen wie nach dem Massaker in Indonesien, dem Putsch in Chile oder zum Apartheidsregime in Südafrika. Allerdings mache es die Destabilisierung der Region in Folge des Arabischen Frühlings für die USA überhaupt schwer, eigene Interessen zu identifizieren, wodurch Israel momentan wesentlich größere Autonomie genießt als früher.

Zur politischen Genese der Hamas

Das Buch präsentiert auch einen aktualisierten Text Mostafa Omars über die Klassenfrage im arabischen Raum. Er beginnt zunächst mit einer recht allgemeinen Feststellung: Sowohl an die Sowjetunion angelehnte kommunistische Parteien als auch progressive bürgerliche Regime seien beim Versuch gescheitert, den arabischen Arbeitern demokratische Kontrolle über die von ihnen produzierten Güter zu verschaffen. Diese waren jedoch die zwangsläufigen Verbündeten der Palästinenser, was der Sache immerhin die Anerkennung in der globalen Linken verschaffte, diese jedoch in ihr Scheitern mit einbezog.

Omar setzt bei dem Generalstreik 1936 an, der gerade deswegen gescheitert sei, weil die armen palästinensischen Arbeiter zu schwach und die reichen arabischen Familien zu abhängig von der britischen Verwaltung waren, um gemeinsame Interessen zu formulieren. Die Kommunistische Partei Palästinas, die sich als Kominterngründung ursprünglich für ein bireligiöses sozialistisches Palästina einsetzte, spaltete sich über Stalins Zustimmung zum UN-​Teilungsplan. Jenseits moralischer Wertungen bedeutete die Nakba eine tiefgreifende Zäsur für die palästinensische Arbeiterklasse, da sie nun zu 70 Prozent aus Geflüchteten in zumeist autoritären Regimen bestand. Letztere zeigten sich aber unwillig, die palästinensische Frage zu lösen, weshalb sich unter Yasser Arafat die Fatah gründete. Obwohl sich diese im Sechs-​Tage-​Krieg einige Anerkennung als Guerillaorganisation sicherte, repräsentierte sie doch nur die Interessen der sie stützenden wohlhabenden Palästinenser, die in der Emigration immer noch ein gutes Leben führten. Die Interessen der Mehrzahl der palästinensischen Geflüchteten und Arbeiter*innen repräsentierte sie nur in der Propaganda. Da zum Beispiel die Nachbarstaaten nicht erneut in einen kostspieligen Konflikt mit Israel hineingezogen werden wollten, proklamierte die PLO seit den 1970ern die Politik der Nichteinmischung. Ohne diese war die PLO jedoch kaum in der Lage, mehr als eine kaum realisierbare Zweistaatenlösung zu forcieren und 1993 in den Osloer Verträgen festschreiben zu lassen.

Doch auch die linke Opposition scheiterte. Die 1967 gegründete PFLP sah sich selbst als Teil einer globalen antikolonialen Bewegung, die im Gleichschritt mit der Revolution auf Kuba oder dem antiimperialistischen Kampf in Vietnam marschierte. Sie kritisierte das Konzept der Nichteinmischung und argumentierte, dass der Weg nach Jerusalem in Kairo beginne. Dies äußerte sich zum Beispiel darin, dass sie auch jordanische Landarbeiter für den Guerillakampf agitierte. Die DFLP wiederum war die erste palästinensische Widerstandsorganisation, die auch mit der israelischen Linken kooperierte. Beide Gruppen schlossen jedoch nach dem Schwarzen September 1970, der Zerschlagung des palästinensischen Widerstands in Jordanien als Machtfaktor, die Reihen mit der PLO. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem langsamen Niedergang der Guerillabewegungen im Trikont verloren sie zudem ihre internationale Basis.

Während die bürgerliche PLO und die kommunistischen Gruppen sich durch die Fokussierung auf den Widerstand nur in Palästina selbst schwächten, waren es die islamistischen Gruppen, welche durch die religiöse Ideologie per definitionem internationalistisch ausgerichtet waren. Die beiden wichtigsten Gruppen waren die Muslimbrüder, die ein riesiges transnationales Solidaritätsnetzwerk darstellten und der Ägyptische/​Palästinensische Jihad, der für eine verstärkte Politisierung und Militarisierung eintrat. Die Hamas war eine Gründung der Muslimbrüder, welche durch ein politisch-​militantes Programm dem Jihad die Mitglieder abgraben wollte. Die in kurzen Auszügen sehr bekannte Charta der Hamas muss in diesem Kontext interpretiert werden, sowie vor dem Hintergrund des Scheiterns der diplomatischen Bemühungen der PLO. Mit der Absehbarkeit des Scheiterns des Osloer Abkommens und der israelischen Besetzung des Gazastreifens gewann die Hamas immer mehr an Popularität.

Die Hamas vertrete nach Omar dabei eine ambivalente Rolle zum Weltimperialismus. Auf der einen Seite ist sie ein Gegner der wichtigsten Stütze Israels, des US-​Imperialismus. Auf der anderen Seite ist sie nicht abgeneigt, die Imperative des IWF oder der Weltbank zu akzeptieren, die für Millionen arabischer Arbeiter*innen ein großes Unglück bedeuteten. Die Klassenbasis der Hamas ist dabei die gleiche wie die der PLO, sodass die Interessen der Arbeiter*innen und Geflüchteten permanent unter die einer bürgerlichen untergeordnet werden. Sowohl Fatah als auch Hamas hätten durch die Monopolisierung der Macht die Arbeiter zwar abhängig von sich gemacht, seien jedoch nicht in der Lage ihre Interessen konsequent zu vertreten, weshalb beide ein demokratisches Votum fürchten.

Omar schließt mit der Perspektive des palästinensischen Widerstands ab. Eine neue Intifada als Massenbewegung ist unter Führung von Fatah oder Hamas unrealistisch, da sie Macht an die Arbeiterklasse abtreten müssten. Ebenso fürchten autokratische umliegende Regime einen Volksaufstand, da dieser stets droht, auch auf die Arbeiter und Bäuern der Nachbarländer überzugreifen. Der Konflikt sei letztendlich kein territorialer, sondern ein politischer. Durch Unterstützung der palästinensischen Arbeiternklasse in ihren tagtäglichen Kämpfen müsse sich eine neue sozialistische Bewegung aufbauen, die mit anschwellender Macht Israel als monoethnischen und kapitalistischen Staat nicht militärisch, sondern politisch in die Knie zwingen könnte.

Die israelische Arbeiterklasse

Daphna Thier versuchte im Anschluss auszuloten, inwiefern die israelische Arbeiterklasse ein Verbündeter der palästinensischen Arbeiterklasse sei. Denn schließlich sollten sie nach marxistischer Theorie mehr gemeinsame Interessen teilen als mit ihren jeweiligen nationalen Bourgeoisien. Sie setzt dabei bei einem Artikel von Moshe Machover (Näheres hier& hier) und Akiva Orr aus dem Jahre 1969 an. Sie argumentierten darin, dass der Siedlerkolonialismus relative Autonomie gegenüber der Klassenfrage besitze und das israelische Proletariat große Vorteile aus diesem zöge, die es an das zionistische Regime binde. So beruhe die Leistungsfähigkeit des israelischen Sozialstaats auf billiger palästinensischer Arbeit und nur die Hilfe der USA mache die enormen Militärausgaben für die Arbeiterklasse kaum spürbar. Ein Sonderfall Israels sei es, dass in der ersten und zweiten Alijah Arbeiterorganisation und die Kibbutzim-​Bewegung aktiv an der ursprünglichen Akkumulation beteiligt waren. Der Kapitalismus in Israel entwickelte sich unter der Führer der mittlerweile verschwundenen Arbeiterpartei Ben-​Gurions. Und das hat Auswirkungen auf die Klassenstruktur.

Der Anteil an White-​Collar-​Jobs der jüdischen Lohnabhängigen stellt mit 57 Prozent im Jahre 2016 einen weltweiten Spitzenwert dar. Demgegenüber hat die arabische Bevölkerung einen viermal so hohen Anteil an der niedrig qualifizierten Arbeit. Der Anteil der jüdischen Arbeiterklasse, der unmittelbar Anteil am Schicksal der arabischen hat, schrumpft also. Es ist jedoch dieser Teil, der sich in der Vergangenheit wenigstens im Kleinen durch persönliche und verhaltene politische Solidarität auszeichnete. Dabei ist die jüdische Gesellschaft dennoch so ungleich wie nie zuvor. Insbesondere das Leben der ärmeren Arbeiter*innenklasse hängt massiv von staatlichen Förderungen ab; und die werden ethnisch unterschiedlich verteilt. Der Staat gibt 35 Prozent mehr pro jüdischer Bürger aus als pro arabischer. Hinter der Zustimmung zum dezidiert jüdischen Charakter des Staates steht also auch ein materielles Interesse gerade des Teils der Arbeiterklasse, die sich noch am ehesten mit der Situation der Palästinenser identifizieren kann. Darüber hinaus ist die wichtigste Aufstiegsmöglichkeit von Jugendlichen aus der ärmeren Bevölkerung der Komplex der israelischen Streitkräfte, einschließlich ideologischer Indoktrination.

Dennoch gibt es auch positive Beispiele für einen gemeinsamen Kampf jüdischer und palästinensischer Arbeiter in Israel. Zu nennen wäre hier die Bewegung der Mizrachi Israeli Black Panthers, einer marginalisierten jüdischen Gruppe, die ihre Anerkennung mit der der Palästinenser verband. Oder die Zeltbewegung 2011, wo alle Teile der jugendlichen Arbeiter gegen die sich verschärfende Wohnungsnot protestierten. Und auch die Anti-​Netanyahu-​Proteste 2017 und 2022/​23 offenbarten zumindest Anknüpfungspunkte für einen gemeinsamen Kampf gegen eine Rechte, die durch ihren Machtgewinn drohte, selbst die israelische demokratische Mitte zu entmachten. Es ist jedoch bezeichnend, dass keine dieser Bewegungen die heißen Phasen des nationalen und kolonialen Konflikts zwischen israelischem Staat und palästinensischer Bewegung überlebte.

Oslo und die Schwäche der PLO

Toufic Haddad analysierte die Rolle der PLO beim Osloer Abkommen und die daraus folgenden Probleme. Er erinnerte daran, dass das Osloer Abkommen in einer Zeit der Schwäche der PLO zustande kam. Mit dem Ostblock und der Blockfreien Bewegung verlor sie die beiden wichtigsten Bündnispartner und finanziell stand sie zwei Monate vor der Insolvenz. Ein für heute nicht uninteressantes Detail: Zum Zeitpunkt des Abkommens erkannten weder Israel noch die USA die PLO als legitime Vertreterin der Palästinenser an, sondern führten sie als Terrororganisation. Mit Terroristen scheint man doch verhandeln zu können und das garnichtmal schlecht. Denn in dieser Situation stimmte die PLO zu, dass die palästinensichen Gebiete weder über volle Autonomie verfügten, noch der Siedlungsbau gestoppt werde. Fast noch schlimmer: mit der Rückkehr der PLO aus dem Exil verlor sie ihren Mythos. Die palästinensische Bevölkerung erlebte eine Organisation, die sich in der Regierung erst einmal wieder selbst finanziell konsolidieren musste und der israelischen Besatzung weder politisch noch militärisch etwas entgegenzusetzen hatte.

Für die arabische Bevölkerung Israels entstand zudem ein neuer Rechtfertigungsdruck, warum sie weiterhin außerhalb der ihnen zugewiesenen Gebiete lebten. Ihr Verbleib wurde durch die staatliche Propaganda dahingehend instrumentalisiert, dass selbst ein jüdischer Staat besser die muslimische Bevölkerung versorgen könne als die Autonomiebehörde. Letztendlich waren aber die zersiedelte Westbank und der abgeschottete Gazastreifen als politische Entität nie lebens- oder regierungsfähig. Zwar wurde der Bruch des Völkerrechts durch die Nichtumsetzung der palästinensischen Autonomie mehrfach durch die Vereinten Nationen festgestellt, gegen den Willen der USA konnte der Rechtsanspruch der PA jedoch nicht verwirklicht werden.

Vielmehr sollte der völkerrechtswidrige Frieden durch symbolische und materielle Anreize gesichert werden. Arafat erhielt den Friedensnobelpreis und die internationale Gemeinschaft ermöglichte mit Almosen ein Überleben in den Gebieten; jedoch ohne Selbstbestimmung und ohne Perspektive. Die westliche Hilfe für das Westjordanland stärkte die Behörden und schwächte kommunale und linke Selbstverwaltungs- und Solidaritätsstrukturen. Die Hamas hingegen verstand es besser, die Hilfsgelder über das für die Muslimbrüder etablierte Netzwerk zielgerecht zu verteilen. Israel hingegen setzte seine Interessen unter einen alles verbindenden Kampfbegriff: „Sicherheit“. Anlass war eine Zahl von Selbstmordattentaten in den 90er Jahren, die von Gruppen verübt wurden, die mit dem Friedensschluss der PLO unzufrieden waren und Arafat aus der Reserve locken wollten. Erreicht wurde das Gegenteil und Arafat musste beim Camp David-​Treffen 2000 in allen strittigen Punkten Zugeständnisse machen, da die PLO ganz offensichtlich keine Kontrolle über die palästinensische Bewegung besaß.

In dieser Situation der Unzufriedenheit mit dem schwachen Verhandlungsergebnis der PLO brachte der Besuch Ariel Sharons in der Al-​Aqsa-​Moschee das Fass zum Überlaufen. Mit 1000 Soldaten und Polizisten demonstrierte der Oppositionsführer die neue Machtstellung Israels nach den Verhandlungen. Sein Auftritt konnte selbst für die israelfreundliche Berichterstattung im Westen nicht anders als eine provokative Demütigung der Palästinenserempfunden werden. Die zweite Intifada polarisierte erneut die palästinensisch-​israelische Gesellschaft und gab Israel den Anlass, das bis heute etablierte Militärregime im Westjordanland und die Abriegelung des Gaza-​Streifens zu etablieren.

Bei all den Fehlern Arafats hat er zumindest die palästinensische Befreiungsbewegung durch seine Person weitgehend zusammenhalten können. Nach seinem Tod 2004 zerfiel sie in weitestgehend parallele Teile, die Fatah, die Hamas, die kleineren linken Gruppen und den an Bedeutung gewinnenden Islamischen Jihad. Aus dem Scheitern des Osloer Abkommens lassen sich zwei alternative Lesarten ableiten: Erstens hat Israel seine Chance auf Frieden durch die historisch einmalige Schwäche der PLO politisch bewusst in den Wind geschlagen. Die Palästinenser mussten lernen, dass Israel jede Schwäche nutzen würden, um einen vorteilhaften Kompromiss noch vorteilhafter zu gestalten. Die zweite Lesart ist, dass ein Friedensschluss, der auf einseitiger Schwäche eines Verhandlungspartners beruht, keine Akzeptanz in der Bevölkerung findet.

Palästina und der arabische Frühling

Jehad Abusalim rollte das komplizierte Verhältnis der palästinensischen Befreiungsbewegung zum arabischen Frühling auf. Auf der einen Seite war er eine enorme Demonstration der Selbstermächtigung der arabischen Massen über autokratische Führer, die aus opportunistischen Gründen bereits ihren Frieden mit Israel gemacht hatten. Auf der anderen Seite brachte er die Regime unter Druck, die auch wichtige Geldgeber der palästinensischen Insitutionen waren. Wie bereits dargestellt, waren die Eliten in Hamas und Fatah bürgerlich geprägt und fürchteten selbst einen von ihnen nicht kontrollierten Aufstand.

Diese widersprüchliche Lage spiegelte sich in der unterschiedlichen Bewertung des Syrien-​Krieges wider. Während die Hamas den Aufstand gegen Assad unterstützte, da man sich von einer islamistischen Regierung in einem damals noch vergleichsweise wohlhabenden Land mehr Unterstützung erwartete, hatte ausgerechnet die Hamas – die weit mehr Konflikte mit dem Assad-​Regime hatte – Vorbehalte. Sie erkannte recht früh, dass sich ein politisches Chaos in Syrien abzeichnete, das auf die PA überzuschwappen drohte. Offiziell gab man sich neutral, inoffiziell rechtfertigte man selbst die Bombardierung eines palästinensischen Flüchtlingslagers in Syrien als notwendig. Linke Gruppen wie die PFLP, die noch traditionelle Verbundenheit zu den einst popularen Regimen pflegten, feierten ganz offen, die Rückeroberung Aleppos und die Beendigung des dortigen IS-​Regimes. Die widersprüchliche Haltung der palästinensischen Organisationen zum arabischen Frühling spiegelt die prinzipielle Widersprüchlichkeit der Bewegung ab, die zwischen islamischen Konservatismus, säkularem Nationalismus und politischer Radikalität stets laviert und ihre Kräfte austariert.

Was tun?

Der letzte Teil des Buches behandelte in mehreren Beiträgen, wie konkrete Solidarität mit Palästina unter den ambivalenten Verhältnissen aussehen könnte. Omar Barghouti stellte als einer der Gründer in einem Interview die BDS (Boycott, Divest, Sanction)-Kampagne vor, die in vielen Ländern als sehr umstritten gilt. Ihre drei Hauptziele sind die Beendigung der Besatzung und Kolonisierung, die volle staatsbürgerliche Gleichstellung der arabischen Bürger Israels und ein Rückkehrrecht für die Nachfahren aller vertriebenen Palästinenser. Bis diese Ziele erreicht würden, organisiert BDS Kampagnen, um Firmen, Gewerkschaften und Universitäten dazu zu bewegen, die Zusammenarbeit mit Israel zu beenden oder zu reduzieren. Insbesondere in Bezug auf die deutsche Geschichte sind solche Boykottaufrufe natürlich nicht unproblematisch. Die BDS-​Bewegung kann daher auch nur auf gemischte Erfolge zurückblicken. In Amerika war BDS ein Zankapfel innerhalb der sich zuspitzenden politischen Polarisierung. Während eine ganze Generation junger linker Akademiker*innen zwar für die palästinensische Sache gewonnen werden konnte, hat die Rechte ebenso mobil gemacht und die Bewegung teilweise juristisch stark eingeschränkt. Im globalen Süden ist sie hingegen weit tiefer in der Arbeiter- und Bauernbewegung verankert. So habe die größte indische Bauerngewerkschaft die Ziele der BDS-​Kampagne implementiert. Überhaupt habe BDS eine vereinigende Plattform für die pro-​palästinensische Solidarität geschaffen. Doch die Kampagne krankt an verschiedenen Haltungen zu anderen Konflikten, wo manche Aktivisten Positionierungen für Menschenrechte verlangen, während andere sich nur auf die Palästina-​Frage konzentrieren wollen. Und letztendlich gibt es nur wenig Konzepte, wie eine praktische Umsetzung der Ziele in einer Art und Weise erfolgen könne, dass sie auch für die israelische Arbeiter*innenklasse tragbar ist.

Nada Elia problematisierte die Sichtweise der internationalen feministischen Bewegung auf die palästinensische Frauenbewegung (dazu auch). Israel stelle sich in einer Pinkwashing-​Kampagne selbst als Vorkämpfer für Frauen- und LGBTQ-​Rechte dar, während es gelungen sei, die Frauen in Palästina als durch islamistische Kräfte unterdrückt darzustellen. Die lange Geschichte der Kämpfe von Frauen gegen die Besatzung und Vertreibung zeige jedoch, dass es Israel sei, das als größter Unterdrücker von den palästinensischen Frauen wahrgenommen werde. Im Rahmen eines intersektionalistischen Ansatzes könne man einem Regime, welches Frauen auf Grund ihrer ethnischen Abstammung, ihrer Religion oder ihres Wohnsitzes diskriminiere generell keinen feministischen Geist zusprechen.

Khury Petersen-​Smith erklärte, warum die BDS-​Bewegung so gut mit Black Lives Matter vernetzt ist. Erstens habe der anti-​kolonialistische Kampf in der schwarzen Bewegung Amerikas eine lange Tradition. Bereits die Black Panthers organisierten internationale Kongresse mit der arabischen Welt und Malcolm X bereiste selbst Palästina, um sich ein Bild von der dortigen Apartheid zu machen. Zweitens verbinde beide eine ähnliche Erfahrungswelt. Die Gewalt des israelischen Militärs in der besetzten Westbank ähnele in vielerlei Hinsicht der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Beide Gruppen würden medial marginalisiert und ihr Protest von den herrschenden Klassen als Verwaltungsproblem, nicht als legitimer Ausdruck des Kampfes gegen Ungerechtigkeit geframed. Drittens könnte beide Bewegungen nicht siegen, ohne den prinzipiellen Charakter der auf Kolonialismus gegründeten Staaten zu ändern. Ein solch hoch gestecktes Ziel sei nur gemeinsam zu erreichen.

Die Herausgeber Sumaya Awad und Brian Bean schoben den versammelten Essays ein eigenes Fazit hinterher. Sie betrachten den Kampf als einen der permanenten Revolution im Sinne Trotzkis. Um die Lage der Palästinenser in Israel zu stärken, müsse die bedingungslose Solidarität der USA mit dem Land geschwächt werden. Um dies zu erreichen, müsse wiederum eine linke Bewegung Fuß fassen, die den eigenen siedlerkolonialistischen Gründungsmythos überwinde und den einst Kolonisierten und heute Marginalisierten im Bündnis mit den armen Arbeitern und kleinen Bäuern zur Macht verhelfe. Und umgekehrt versetze jeder Schlag gegen den Unverwundbarkeitsmythos Israels auch einen gegen den der USA. Um wiederum die Vereinten Nationen so zu stärken, dass sie nicht allein durch die USA blockiert würden, müssten die postkolonialen Länder eine stärkere Stimme bekommen.

Zusammenfassung

Das Buch ist all jenen zu empfehlen, die sich aus erster Hand einen Eindruck von der Argumentation der palästinasolidarischen Bewegung machen wollen. Während Israelis oder jüdische Schriftsteller beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse (zu Recht) eine breite Bühne erhielten, um ihre Sichtweisen vorzutragen, wurde die Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli verschoben. Anstatt der billigen Argumentation zu folgen, dass jetzt nicht die richtige Zeit sei, sich mit der palästinensischen Perspektive auseinanderzusetzen, sollte man es gerade jetzt tun. Um diese Perspektiven zu hören, muss man nicht unbedingt A Socialist Introduction lesen, sondern kann zum Beispiel auch den hervorragenden Podcast »Parallelwelt Palästina« (Link) hören.

Neben einigen Stärken gibt es auch zwei maßgebliche Schwächen des Buches. Erstens ist die jüdisch-​israelische Perspektive für eine dialektisch-​materialistische Beurteilung des Konflikt nicht vollständig ignorierbar. Auch wenn man der israelischen Arbeiterklasse eine hohe Affinität zu einem rassistischen Staat zuspricht, so handelt diese keineswegs frei, sondern ist selbst den Imperativen der Profitlogik unterworfen. Eine wirkliche anti-​koloniale Perspektive Palästinas darf nicht nur die einfache Negation sein, indem sie Juden aus dem Nahen Osten zu vertreiben versucht, sondern eine doppelte, die den Siedlerkolonialismus als auch das jüdische Proletariat unterdrückend thematisiert. Auch wenn es angesichts der so offenen Gewalt gegen Palästinenser schwer fällt. Und zweitens krankt das Buch an einem typisch trotzkistischen Revolutionsoptimismus. Die BDS-​Bewegung stützt sich auf ein junges, wenig gebundenes akademisches Milieu. Eine wirkliche Volksbewegung muss jedoch auch die Teile der Gesellschaft integrieren, die im Kampf um das tägliche Brot für sich und Familie Konzessionen gegenüber dem Aktivismus machen müssen. Es fehlt ein wenig die Stimme der Palästinenser, die nicht kämpfen können oder wollen und dafür auch gute Gründe vorlegen. Dieser Bevölkerungsanteil wächst und wird weiter wachsen, wenn praktische mittelfristige Erfolge ausbleiben. Hier tut sich die Analyse noch schwer und wenn man das Buch liest, scheint es diesen Teil nicht zu geben. Wer ihn aber nicht berücksichtigt, wird die eigenen Kräfte überschätzen.

Dennoch ist besonders der erste Teil des Buches zu empfehlen, wenn man sich den realen Widersprüchen im Krieg Israels gegen den Gazastreifen nähern will.

Literatur

Awad, S. (Hrsg.) & bean, b. (Hrsg.): Palestine. A Socialist Introduction. Chicago: Haymarket Books. Online verfügbar unter: https://​www​.haymarketbooks​.org/​b​l​o​g​s​/​4​9​5​-​f​r​e​e​-​e​b​o​o​k​s​-​f​o​r​-​a​-​f​r​e​e​-​p​a​l​e​s​t​ine

Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz, im Gegensatz zum Original wurde auf gendern nach Rücksprache mit den Autoren verzichtet, gewisse Formalia an MagMa-​Format angepasst, zudem wurde der Zweiteiler hier in einem Artikel veröffentlicht

Bild: Jerusalem, Graffito mit roter Flage und arabischem Schriftzug (brionv wikimedia commons)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert