Al-​Aqsa-​Flut: Imperialismus, Zionismus und Reaktionärismus im 21. Jahrhundert

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Am 7. Oktober 2023 durchbrachen zwei- bis dreitausend palästinensische Kämpfer verschiedener politischer Gruppierungen, darunter die Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad, die DFLP (Demokratische Front für die Befreiung Palästinas) und die PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas), die 16-​jährige Belagerung des Gazastreifens. Sie taten dies, um eine epische Schlacht im südlichen besetzten Gebiet des historischen Palästina zu beginnen und einen Befreiungskrieg vom Joch der zionistischen Entität (Israel) zu entfachen. Der achte Tag des Krieges ist nun angebrochen. Der kollektive Westen hat die Palästinenser sofort und einhellig verurteilt und das Recht Israels auf Selbstverteidigung verteidigt. Indem sie die Hamas als einzige Fraktion, die den Kampf anführt, herausstellten, schlossen sich die kollektiven westlichen herrschenden Klassen zusammen und bezeichneten diese historische Operation als islamisch inspirierte »terroristische Operation«. Die Darstellung der Palästinenser als islamische Terroristen gab der israelischen Regierung das nötige grüne Licht, den Gazastreifen ununterbrochen zu bombardieren und eine Bodeninvasion vorzubereiten. Der kollektive Westen hat absolute Einigkeit und Unterstützung für die völkermörderischen israelischen Aufrufe zur »Auslöschung des Gazastreifens« und zum Abstellen von Gas, Wasser und Strom gezeigt, während der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu stolz auf Twitter/​X die Bombardierung eines zivilen Wohnhauses im Gazastreifen bekannt gab.

Die Kriegstrommeln rollen weiter, die palästinensischen Kämpfer sind immer noch in den Kampf verwickelt. Und da die palästinensischen Gruppen im Westjordanland begonnen haben, sich den Besatzungstruppen entgegenzustellen, könnten andere regionale Akteure wie der Iran, Syrien und die Hisbollah jeden Moment in den Krieg eingreifen. In diesem Beitrag versuche ich, über das Ausmaß und die Bedeutung des Krieges sowohl auf regionaler als auch auf globaler Ebene nachzudenken, wobei ich mich auf das theoretische Instrumentarium stütze, das den Menschen im Globalen Süden oft geholfen hat, ihre Notlage und ihre Kämpfe zu verstehen. Das heißt, ich halte es für wichtig, auf die konzeptionelle Trias von Imperialismus/​Zionismus/​Reaktionärismus zurückzugreifen, um diesen historischen Kampf über die Grenzen des Freiluftgefängnisses von Gaza hinaus zu verorten. Dabei müssen wir uns auf diese Konzepte stützen, sie jedoch auf die heutige Zeit übertragen, um den dialektischen Charakter dieses Krieges in einer Welt zu verstehen, die den langsamen (aber stetigen) Niedergang des US-​geführten Imperialismus erlebt.

Imperialismus: das Ende des unipolaren Moments der USA

Imperialismus bezeichnet ein weltweites System der Mehrwertaneignung1, in dem die Entwicklung entlang von Rassen- und Klassenlinien ungleich verteilt ist. Es handelt sich um ein System materieller Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Ländern des globalen Nordens und Südens, das durch einen Prozess der Klassenzusammenarbeit zwischen den herrschenden Klassen im Kern und den Kompradoren in der Peripherie entsteht. Die Akkumulation hängt dann mehr und mehr davon ab, inwieweit die imperialistischen Länder die Entwicklungsländer unterdrücken und ausbeuten.2 Dies beinhaltet beispielsweise den Einsatz militärischer Vorherrschaft und eine Politik, die die Entwicklungsländer daran hindert, ihre internen Ressourcen für die regionale oder volkswirtschaftliche Entwicklung zu nutzen. Diese historisch begründete ungleiche Anhäufung von Reichtum umfasst nicht nur die Anhäufung von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, sondern ist auch eine Masse von Ideen, die der Logik des Kapitals entsprechen. Mit anderen Worten: Der Imperialismus als soziologisches Phänomen3 ist sowohl ein materieller als auch ein ideologischer Prozess.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die USA, die ihren politischen und finanziellen Einfluss weltweit konsolidierten und zur imperialistischen Großmacht wurden. Als Gläubiger Frankreichs und Großbritanniens während des Krieges versuchten die USA, das Weltsystem nach dem defizitären Rückzug des europäischen Kolonialismus aus Afrika und Asien neu zu strukturieren.4 Diese Aufgabe beruhte auf den miteinander verknüpften Bereichen Handel und militärische Expansion. In Handelsfragen strebte die Truman-​Administration nach dem Krieg eine »Offene Tür« an, mit »der Abschaffung von Handels- und Finanzschranken, exklusiven Handelsblöcken und restriktiven Maßnahmen jeder Art«.5 Während diese neuen Handelsvereinbarungen als Erleichterung einer neutralen Unternehmensfreiheit und des internationalen Austauschs dargestellt wurden, stellten sie in Wirklichkeit eine Amerikanisierung des globalen Systems dar und spiegelten die Bedürfnisse des US-​Kapitals wider, wie sie Ende der 1940er-​Jahre bestanden. Die neu geschaffene Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) regulierten den Welthandel unter einer gemeinsamen Währung, dem US-​Dollar; der wirtschaftliche Wiederaufbau Westeuropas nach dem Krieg verschaffte den US-​Exporteuren neue Märkte; und die militärische Koordinierung mit dem im Niedergang begriffenen britischen Imperialismus ermöglichte den US-​Konzernen einen bevorzugten Zugang zu den wichtigsten Ressourcen der industrialisierten Welt, insbesondere zu Öl. Die Mythologie der »amerikanischen Ausnahmestellung« trug unweigerlich zur Aufrechterhaltung dieser Herrschaftspolitik bei. Diese politische Mythologie verkörperte den missionarischen und kolonialen Eifer, der den Völkermord an den Amerikanern rechtfertigte6 und einen religiösen Glauben an die Idee verkörperte, dass die USA eine einzigartige Rolle in der Weltgeschichte zu spielen hätten, während andere Länder nachrangig seien.

Der fortschreitende wirtschaftliche Aufstieg Chinas und zwei russische Militärinterventionen – 2015 zur Unterstützung der syrischen Regierung und 2022 gegen den Einmarsch der NATO in der Ukraine – haben die USA und ihre Verbündeten Europa und Japan jedoch in einen geopolitischen Albtraum gestürzt. Der US-​geführte Imperialismus ist in eine historische Phase des politischen Niedergangs eingetreten. Das unipolare Moment bröckelt, während neue politische Blöcke aus dem globalen Süden an Durchsetzungsvermögen gewinnen. Dazu gehören die BRICS-​Staaten, die eine internationale Ordnung anstreben, in der sie nicht gedemütigt, sondern gleich behandelt werden. Parallel zu diesen Prozessen erlebten wir auch eine Welle von Militärputschen in Westafrika gegen den französischen/​westlichen Neokolonialismus und die zunehmende Selbstbehauptung des Irans in Westasien und seine Zusammenarbeit mit Russland, während Kuba und Venezuela jahrzehntelangen Sanktionen und von den USA geförderten Putschen widerstanden. Der Druck auf den US-​geführten Imperialismus und seine Verbündeten nimmt zu, und die unmittelbarste Reaktion auf die bewusste Erkenntnis ihres Niedergangs ist eine neue Welle unverhohlener faschistischer Rhetorik und Ideologie. Seit der Wahl von Donald Trump 2016 in den USA ist das auffälligste Merkmal des neuen faschistischen Europas die vollständige Rehabilitierung des Nazismus in der Ukraine als eine Form des Volkswiderstands gegen das »diktatorische« Russland. Von Giorgia Meloni in Italien bis zu Emmanuel Macron in Frankreich sind die herrschenden Klassen Europas bereit, ihre Völker und Länder um jeden Preis für die mächtigen Vereinigten Staaten zu opfern.

Zionismus und Reaktionärismus: Von der arabischen Einheit zur Muqawama

Vor diesem Hintergrund hat die arabische Region in der Geostrategie des US-​geführten Imperialismus seit dem Zweiten Weltkrieg eine einzigartige Rolle gespielt, insbesondere aufgrund ihres Ölreichtums. Da es sich um eine wichtige natürliche Ressource für die Wirtschaft der imperialistischen Länder handelt, bestand das beste Mittel zur Sicherung dieses garantierten Zugangs darin, sich die politische Kontrolle über die Region zu sichern.7 Um diese Ziele zu erreichen, arbeitete der US-​geführte Imperialismus eng mit zwei treuen Verbündeten zusammen – Israel und den reaktionären Golfmonarchien.

Die zionistische Entität wurde faktisch zu einem militärischen Außenposten der USA in der Region.8 Wie Sheila Ryan9 schreibt, hatte Israel von 1948 bis Mitte 1973 »die schwindelerregende Summe von mehr als acht Milliarden Dollar an Wirtschaftshilfe aus verschiedenen ausländischen Quellen erhalten, das sind insgesamt 3.500 Dollar für jeden Israeli: durchschnittlich 233 Dollar pro Jahr und Kopf an Hilfe. Damit erhielt ein durchschnittlicher Israeli jedes Jahr allein an Hilfe mehr als das Doppelte des Pro-​Kopf-​Einkommens eines Ägypters (102 Dollar im Jahr 1969).« Zwischen 1943 und 2023 haben die USA Israel 160 Milliarden Dollar an Hilfe zur Verfügung10 gestellt (inflationsbereinigt etwa 260 Milliarden Dollar), ohne die regelmäßigen Darlehensgarantien zu berücksichtigen, die dem Land in Milliardenhöhe gewährt werden. Diese Hilfe für Israel ist für den US-​geführten Imperialismus eine Investition in den Militarismus. Die Besonderheit des zionistischen Staatsgebildes liegt darin, dass es ebenso wie die USA eine siedler-​koloniale Formation ist, die eine Bewusstseinsweise ausbrütet, die imperialistische Werte fördert und die hegemoniale Vorherrschaft der USA in der Region sichert. Durch den Erwerb von Atomwaffen und durch seine zahlreichen militärischen Angriffe auf und Invasionen in andere Länder der Region, wie den Irak11, den Libanon und Syrien12, ist Israel die Haupttriebkraft hinter der imperialistischen Kapitalakkumulation und ihrer Folge, der arabischen Rückentwicklung. Wie palästinensische linke Kreise in den 1960er und 1970er-​Jahren immer wieder betonten, ist der Zionismus die Speerspitze des Imperialismus in der Region. So wie die Befreiung Palästinas ein Kampf gegen den US-​geführten Imperialismus ist, in dessen Auftrag Israel als Gendarm agiert, ist ein Angriff auf Israel ein Versuch, die Kerninteressen der USA und ihrer reaktionären Verbündeten in der Region direkt zu untergraben.

Was die ölreichen Golfmonarchien betrifft, so garantierte die Kontrolle der herrschenden Klassen dieser politischen Formationen die Vorherrschaft des US-​Dollars auf internationaler Ebene durch auf Dollar lautende Ölverkäufe13, die dann in den Kauf von US-​Staatsanleihen und Waffen umgewandelt wurden. In den letzten Jahren, nach den verschiedenen Angriffen auf die Souveränität säkularer arabischer Republiken (Irak, Libyen und Syrien), die mit dem Geld und den Waffen der Golfstaaten koordiniert wurden, haben die USA auch eine Normalisierung mit Israel vorangetrieben. Je mehr Israel in der Region offiziell anerkannt wird, desto sicherer sind die Interessen des US-​geführten Imperialismus.

Es kam jedoch zu zwei weiteren Prozessen, die das geopolitische Gleichgewicht in der Region erschütterten. Erstens: Während 2011 der von der NATO geführte Regimewechsel in Libyen erfolgreich war, zeigte die russische Intervention in Syrien 2015 – die zum Teil durch die Erfahrungen mit der Invasion in Libyen angestoßen wurde -, dass sich die regionalen und geopolitischen Gleichgewichte verändert hatten. Zweitens konnte sich die Islamische Republik Iran dank ihrer Fähigkeit, jahrzehntelangen Sanktionen zu widerstehen (wie dies Kuba, die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) und Venezuela getan haben), zu einem wichtigen politischen Akteur in der Region entwickeln und zum Feind Nummer eins der zionistischen Entität werden. Das politische und militärische Durchsetzungsvermögen des Iran, der andere sozio-​politische Formationen in der Region unterstützt, darunter die Hisbollah im Libanon und die Ansar Allah im Jemen, stellt eine entscheidende Veränderung in der Art des ideologischen Marsches der Region gegen den Zionismus dar. Mit der Konsolidierung der Muqawama-​Widerstandsideologie haben sowohl der Iran als auch die Hisbollah es weitgehend vermieden, eine sektiererische, ausgrenzende, von Schiiten geführte Vision für die Region zu entwickeln. Mit anderen Worten, sie umgingen die Gefahr, mit der gleichen Medizin auf das zu reagieren, was der US-​geführte Imperialismus seit den Zeiten der afghanischen Mudschaheddin in Zusammenarbeit mit sunnitischen reaktionären Kräften nach und nach finanziert hatte. Im Gegenteil, die Muqawama-​Führung hat die historische und ideologische Kontinuität der Region dialektisch bewahrt und ist von der arabischen zur muslimischen Einheit übergegangen. Sie hat die Vergangenheit nicht a priori abgelehnt. Vielmehr hat sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden und eine neue ideologische Ordnung geschaffen, die die arabisch-​islamische Identität der Region zum Kampf gegen den materiellen und ideologischen Krieg aufruft, den ausländische Unterdrücker gegen die Souveränität jedes Staates in der Region entfesseln. Wie Seyed Hassan Nasrallah einmal bemerkte:

»Im Projekt der amerikanischen Hegemonie ist die Existenz eines starken Staates nicht erlaubt, eines starken Staates im Sinne eines unabhängigen Staates, eines Staates, der seine Entscheidungen selbst trifft, eines Staates, der die Interessen seines Volkes berücksichtigt, eines Staates, der seine Ressourcen und seine Wirtschaft nutzt und einsetzt, eines Staates, der sich wissenschaftlich, technisch, kulturell und administrativ auf allen Ebenen entwickelt. Im Projekt der amerikanischen Hegemonie ist [ein solcher Staat] verboten.«

Angesichts des Niedergangs der unipolaren Weltordnung verkörpert die Muqawama eine Verteidigungsachse, die sich entschlossen gegen imperialistische Angriffe auf die Region wehrt. Sie könnte auch den Raum für zukünftige und unerwartete Neuordnungen schaffen. Tatsache ist, dass, während die Mainstream-​Analysen die westliche Öffentlichkeit mit dem Bild einer sunnitisch-​schiitischen Kluft überschwemmten, in der Saudi-​Arabien gegen den Iran stehe, die die Region definiere und angeblich ihre Zukunft gestalte, war es die Volksrepublik China, die mit der Vermittlung eines diplomatischen Abkommens zwischen diesen beiden Ländern im Jahr 2023 einen wichtigen politischen Schritt machte. Was wäre, wenn der Iran und Saudi-​Arabien einen gemeinsamen Weg für die Zukunft der Region finden könnten?

Abgesehen davon ist der Reaktionärismus in der Region nach wie vor lebendig und aktiv. Die Interessen der herrschenden Klassen verschiedener Kompradorenregime sind nach wie vor eng mit dem US-​geführten imperialen Kapital verbunden, insbesondere mit Jordanien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Al-​Aqsa-​Flut hat jedoch die Widersprüche zwischen den reaktionären Staaten der Region und ihrer Bevölkerung sowie innerhalb der entstehenden multipolaren Ordnung noch verstärkt. Während die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Beziehungen zur zionistischen Entität bereits normalisiert hatten, reagiert Saudi-​Arabien nun, indem es jede weitere Diskussion über eine Normalisierung einfriert, während es (zum ersten Mal) mit dem Iran über die Situation verhandelt. In diesem Zusammenhang könnte die Al-​Aqsa-​Flut zum Friedhof des von den USA unterstützten Transportkorridors werden, der Indien über Saudi-​Arabien und Israel mit der EU verbinden sollte. Es überrascht nicht, dass Indien sich beeilte, Israel zu unterstützen, aber die weitaus mächtigeren BRICS-​Mitglieder reagierten völlig entgegengesetzt. In einem Telefongespräch mit ihren brasilianischen Amtskollegen zögerte das chinesische Außenministerium nicht, zu betonen, dass »der Kern des Problems in der Tatsache liegt, dass dem palästinensischen Volk keine Gerechtigkeit widerfährt«.14 Die Entwicklung dieser Ereignisse ist eine zunehmend schlechte Nachricht für die USA und ihre Hoffnungen, sich aus der Region »zurückzuziehen«, um sich auf China zu konzentrieren. Die Palästinenser haben den Kerninteressen der USA einen direkten Schlag versetzt. Sie haben nicht nur eine neue und unerwartete militärische Front eröffnet, sondern auch den globalen Süden daran erinnert, dass die Schaffung einer neuen Weltordnung über Palästina laufen muss, wenn die Macht der USA nicht unangefochten bleiben soll.

Außerdem hat die Al-​Aqsa-​Flut die bestehende Kluft zwischen den reaktionären herrschenden Regimen und ihren Wählern weiter vergrößert. Unabhängig von den Interessen der Kompradoren spiegeln diese nicht die Interessen der arbeitenden Massen in der Region wider. Als das jordanische Militär die Grenze zu Israel erbärmlicherweise abriegelte und der Widerstand zu großen Mobilisierungen in der gesamten Region aufrief, strömten die Menschen dennoch zur Unterstützung Palästinas an die Grenzen. Die Al-​Aqsa-​Flut hat in der Arbeiterklasse der Region das Bewusstsein dafür neu entfacht, wie sehr ihr Schicksal mit dem Kampf gegen das US-​Kapital, seine Militärbasen und reaktionären Verbündeten verknüpft ist. Dies ist ein Prozess, der sich langsam entfaltet und dessen Form und Intensität noch nicht abzusehen sind. So ist der Angriff libanesischer Demonstranten auf McDonalds in Saida ein frühes Beispiel für eine Massenmobilisierung gegen die ideologischen und materiellen Verkörperungen des US-​geführten Imperialismus in der Region. In Alexandria ist die Erschießung von zwei israelischen Touristen und der dadurch verbreitete Diskurs über Israelis als Feinde der arabischen Nation ein weiterer Schlag gegen die offizielle ägyptische Haltung zur Normalisierung. Das bedeutet, dass der Kampf nicht nur um oder in Gaza stattfindet, sondern in allen arabischen Hauptstädten, von Kairo bis Amman und Bagdad, und dass es für die arbeitenden Massen der Region wichtig ist, sich um Palästina herum zu organisieren, um ihre Zukunft und Unabhängigkeit wiederzuerlangen.

Gaza ist die Hoffnung der Welt auf eine gerechte Zukunft

Vor diesem Hintergrund müssen wir bei der Betrachtung der palästinensischen Operation, die am 7. Oktober 2023 gestartet wurde, mehrere Elemente berücksichtigen. Erstens stellt die Operation den Weg der Palästinenser dar, in diesem historischen Moment des Niedergangs der USA entscheidend einzugreifen und einen Befreiungskrieg gegen die zionistische Entität zu führen, der wie die Muqawama Vergangenheit und Gegenwart mit der Zukunft verbindet. Mit der Wahl des 50. Jahrestages des arabischen Krieges gegen Israel im Jahr 1973 baut der palästinensische Befreiungskrieg der Al-​Aqsa-​Flut auf der arabischen Einheit der Vergangenheit auf, projiziert sich jedoch auf eine Zukunft, die alle Araber, Muslime und Christen dazu aufruft, für die heiligen Stätten zu kämpfen und sie zu verteidigen.15 Während Art und Umfang der Al-​Aqsa-​Flut zweifellos historisch sind, ist ihre Fähigkeit, die arabischen Massen für den Kampf um die Befreiung Palästinas zu mobilisieren und militärisch zu vereinen, nicht unmittelbar. Wie bereits erwähnt, besteht ein konkretes Hindernis in den reaktionären Regimen der Region, deren Kerninteressen mit dem US-​geführten Kapital verbunden sind, ohne die systematische militärische Zerstörung zu vergessen, die die wichtigsten antizionistischen Republiken der Region (Irak, Libyen und Syrien) heimgesucht hat. Aber die Achse der Muqawama kann ihre Verbündeten in Palästina nicht verlieren. Tatsache ist, dass die Hisbollah wiederholt gewarnt hat, sie sei bereit, in den Krieg einzutreten, sollte es zu einer Bodeninvasion in Gaza kommen. Hier zeigt sich der kumulative Charakter der Geschichte. Wir können die Al-​Aqsa-​Flut nicht nur als den letzten Weg zu einem Befreiungskrieg betrachten, sondern als einen der großen Schritte, die, beginnend mit dem militärischen Sieg der Hisbollah gegen Israel im Jahr 2006, zum Pflügen des Feldes der Befreiung führen werden.

Zweitens wurde die zionistische Entität völlig überrumpelt. Die technologisch fortschrittlichste Armee der Region hat es nicht geschafft, einen solchen Angriff zu verhindern, und das bedeutet bereits einen großen politischen Verlust. Inmitten zunehmender gesellschaftlicher Widersprüche, die liberale und konservative Siedler gegeneinander aufbringen, hofft Netanjahu, das Land im Hinblick auf das zu einen, was Israel am meisten repräsentiert: den Völkermord an den Palästinensern. Aus diesem Grund haben zahlreiche israelische Politiker offen zu einer zweiten Nakba aufgerufen, mit dem Ziel, den Gazastreifen von der Erde zu tilgen. Diese Aufrufe zum Völkermord sind jedoch ein Pyrrhussieg für die Zionisten, da sie den Ländern des Globalen Südens den raschen Abstieg des Westens und seiner Verbündeten in den moralischen und politischen Faschismus nur noch deutlicher vor Augen führen. Gleichzeitig könnten die Aufrufe zum Völkermord aber auch ein anderes Schicksal ereilen. Sollte nämlich das Westjordanland beschließen, zu den Waffen zu greifen und sich den Gruppierungen in Gaza anzuschließen, oder sollte die Achse der Muqawama beschließen, neue militärische Fronten zu eröffnen, könnte sich Israel völlig in die Enge getrieben fühlen. Ein vollständiger Angriff der zionistischen Entität auf den Gazastreifen ist eine erneute Machtdemonstration der schwindenden US-​Macht in der Region. Mit anderen Worten: Es geht gegen die historische Zeit, denn sowohl Russland als auch China und andere Länder des globalen Südens beobachten den Krieg. Palästina ist ein Test für ihren neuen Wunsch, eine gleichberechtigte globale Ordnung zu schaffen.

Drittens ist diese dialektische Bewegung für die so genannte westliche Linke unverständlich, die sich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, dass ein fortschrittlicher Kampf in der Region eine islamisch geführte Wendung genommen hat, selbst wenn, wie oben beschrieben, die ideologisch heterogenen Widerstandskräfte in Palästina eine strategische Koordination und Bündnisse mit Leuten wie der Hamas eingegangen sind. Geblendet von seiner imperialistischen Arroganz ist der kollektive Westen entweder sehr schnell in eine faschistische und fanatische Unterstützung Israels abgerutscht oder hat seine linken Gruppen völlig desorientiert. Tatsache ist, dass letztere weiterhin verzweifelt nach dem »richtigen« Ausmaß oder der »richtigen« Art von Gewalt suchen, und wenn es sie nicht gibt, beeilen sie sich, beide Seiten gleichermaßen zu verurteilen. Es versteht sich von selbst, dass der Westen, der sieben Jahrzehnte lang die zionistische Gewalt gegen die Palästinenser und die wiederholten Bombardierungen der Region normalisiert und unterstützt hat, an diesem historischen Punkt als Verbündeter Palästinas versagt. Oder anders gefragt: Hat es die westliche Linke trotz aller Widerstände jemals geschafft, eine von den USA oder der NATO geführte Bombardierung in der Region zu verhindern? In diesem kritischen historischen Moment sollte die westliche Linke daran erinnert werden, dass Gaza und der Kampf für Palästina die Hoffnung der Menschheit auf eine bessere Welt sind. Die letzten Tage haben gezeigt, wie die kollektiven westlichen Zivil‑, Bildungs- und Medieninstitutionen Hand in Hand mit ihren Militär- und Sicherheitsapparaten arbeiten. Sie alle sind im Einsatz, um die Interessen der herrschenden Klassen zu schützen. Die Zeit ist reif für die westliche Linke, sich kurz- und langfristig an mehreren Fronten zu mobilisieren: 1) um der einmütigen völkermörderischen Unterstützung der zionistischen Entität durch ihre herrschenden Klassen entgegenzuwirken; 2) um eine politische Alternative zu bieten, die sich mit dem Süden zusammenschließt, um eine alternative und gerechtere Weltordnung zu schaffen. Wie Ghassan Kanafani, palästinensischer Autor und führendes Mitglied der PFLP, bekanntlich schrieb: »Die palästinensische Sache ist nicht nur eine Sache für Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, eine Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen.«

Die Al-​Aqsa-​Flut ist ein Moment, der unsere historische Zeit verkörpert. Die palästinensischen, arabischen und muslimischen Massen haben beschlossen, die Bühne zu betreten und der Welt zu sagen, dass sie nicht von der Geschichte ausgeschlossen werden. Sie sind bereit, sich dem Kampf für eine gleichberechtigtere Welt für die Mehrheit ihrer Bewohner anzuschließen. Sind Sie es auch?

Verweise

1 Siehe Arghiri Emmanuel, Unequal Exchange: A Study of the Imperialism of Trade (New York: Monthly Review Press, 1972); Samir Amin, Unequal Development: An Essay on the Social Formations of Peripheral Capitalism (New York: Monthly Review Press, 1976); Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism (New York: Columbia University Press, 2016).

2 Ali Kadri, Imperialism with Reference to Syria (Singapore: Springer, 2019).

3 Anouar Abdel-​Malek, Social Dialectics: Nation and Revolution (Albany: SUNY Press, 1981).

4 Joyce Kolko and Gabriel Kolko, The Limits of Power: The World and United States Foreign Policy, 1945 – 1954 (New York: Harper & Row, 1972).

5 Joyce Kolko and Gabriel Kolko, The Limits of Power, p. 12.

6 Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte. Aus dem Italienischen von Christa Herterich (Neue Kleine Bibliothek 265), 2021.

7 Brandon Wolfe-​Hunnicutt, The Paranoid Style in American Diplomacy: Oil and Arab Nationalism in Iraq (Stanford: Stanford University Press, 2021).

9 Sheila Ryan, »Israeli Economic Policy in the Occupied Areas: Foundations of a New
Imperialism.« MERIP Reports (1974) 24, pp. 3 – 28, p. 6

10 Congressional Research Service, »US Foreign Aid to Israel«, 2023, chrome-extension://efaidnbmnnnibpcajpcglclefindmkaj/https://sgp.fas.org/crs/mideast/RL33222.pdf

12 Patrick Higgins, »Gunning for Damascus: The US war on the Syrian Arab Republic.« Middle East Critique 32(3)

13 Max Ajl »Robert Vitalis, Oilcraft: The Myths and Scarcity that Haunts U.S. Energy Policy.« Journal of Labor and Society 24(1): 252 – 260. 2021.

14 Yukio Tajima, »China calls lack of justice for Palestinians ›crux‹ of conflict«, Nikkei Asia, 13 October 2023. https://​asia​.nikkei​.com/​P​o​l​i​t​i​c​s​/​I​s​r​a​e​l​-​H​a​m​a​s​-​w​a​r​/​C​h​i​n​a​-​c​a​l​l​s​-​l​a​c​k​-​o​f​-​j​u​s​t​i​c​e​-​f​o​r​-​P​a​l​e​s​t​i​n​i​a​n​s​-​c​r​u​x​-​o​f​-​c​o​n​f​l​ict

15 Hamas, »Statement for the People«, Resistance News Network, 9 October 2023

Erschienen in englisch am 17. Okober 2023 in der Orinoco Tribune

Bild: Im Jabalakamp feiert die Menge auf erbeuteten Fahrzeugen der israelischen Armee (Resistance News Network)

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