Stranger than Fiction … oder wie real fiktives Kapital ist

  • Über das fiktive Kapital ranken sich verschiedene Legenden, wir das des automatischen Subjekts oder der Krake, welche die produktive Ökonomie erdrosselt.
  • Auch Marx sah im fiktiven Kapital den Verblendungszusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise auf die Spitze getrieben.
  • Die heterodoxe Ökonomin Carolina Alves widmete sich in der New Political Economy der komplexen Materie unter dem Fokus der Staatsanleihen.
  • Sie betont Marxens Erkenntnis, dass fiktives Kapital Werte nicht verdoppelt, sondern ein Versprechen auf Anteile der Profite der Zukunft sind.
  • Als besonders sicheres Versprechen sind Staatsanleihen sowohl Werkzeug des Staats zur Lenkung der Ökonomie, als auch Verpflichtung gegenüber der Bourgeoisie, ein akkumulationsfreundliches Umfeld zu schaffen.

Um das Finanzkapital ranken sich noch immer zahlreiche Mythen. Es erscheint vielen Menschen übermächtig, schwer durchschaubar und irgendwie von der »realen Ökonomie« abgekoppelt. Diese Verständnisprobleme sind auch nicht auf die bürgerliche Wissenschaft beschränkt. Das ist nicht überraschend. Schließlich stellte bereits Marx im dritten Band des Kapitals fest, dass die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise im fiktiven Kapital auf die Spitze getrieben würde. Das Kapital erscheine als automatisches Subjekt, welches Kapitalisten wie Arbeiter*innen unter seine Herrschaft zwinge. Nicht wenige Linke sitzen dieser Vorstellung bis heute auf. Ganze zweieinhalb dicke Bücher musste Marx erklärend vollschreiben, um zu zeigen, dass es sich anders verhält. Fiktives Kapital ist tief in der Produktion und den Klassenverhältnissen verwurzelt. Jedoch müssen sehr viele Vermittlungsschritte nachvollzogen werden, welche die Spur verwischen.

Die heterodoxe Ökonomin Carolina Alves von der Cambridge Universität hat in ihrem Aufsatz »Fictitious Capital, the Credit System, and the particular Case of Government Bonds in Marx« die Spur des fiktiven Kapitals aufgenommen. Am Beispiel der Staatsanleihen zeigt sie, wie das fiktive Kapital den Staat als Klassenstaat formt.

Fiktives Kapital

Was ist also fiktives Kapital? Auf der Ebene des ersten Kapitalbandes ist Geld keine Ware wie jede andere, denn Geld fehlt ein eigenständiger Gebrauchswert. Geld ist schlicht ein allgemeines Warenäquivalent, dass umso besser seine Funktionen erfüllt, je weniger es gebraucht oder verbraucht wird. Bei der Analyse des Gesamtprozesses der kapitalistischen Reproduktion fällt jedoch auf, dass Geld durchaus einen Gebrauchswert besitzt: die Fähigkeit, mehr Geld zu erzeugen. Ein Kapitalist mag einen gesellschaftlich notwendigen Geschäftszweig erkannt haben, indem sich Mehrwert abschöpfen ließe. Ohne Geld wird er nicht an die entsprechenden Produktionsmittel gelangen. Daher benötigt er vorgeschossenes Geld, wofür es über Kredite, Aktien, etc. verschiedene Möglichkeiten gibt. Fiktives Kapital ist daher bei Marx jenes, welches Geld zirkulieren lässt, ohne dass Wert zirkuliert. Der Preis der Ware Geld ist dabei der fällige Zins. Er wird als Teil des Profits nach Abschluss der Realisierung des Werts an den Gläubiger zurückgezahlt. Wie der Kampf um die Anteil des Lohns am Gesamtwert ist auch der Teil des Profits, der für die Zinsen verausgabt wird, Ergebnis eines Kampfes innerhalb der Bourgeoisie. Dadurch bilden sich die Fraktionen des produktiven und des Finanzkapitals (sowie des Handelskapitals) heraus. Ihr Kampf findet jedoch seine Grenze im Funktionieren der Mehrwertproduktion.

Worauf Marx mit dem Begriff »fiktiv« anspielt, ist, dass »[a]ller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozeß des Kapitals so bis auf die letzte Spur verloren [geht], und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten [sich] befestigt.« (MEW 25, S.484). Fiktives Kapital ist also deshalb nur scheinbar, weil der Rechtstitel auf Kapital eben nicht das Kapital selbst ist. Durch die Eigenschaft, Zinsen abzuwerfen, erscheint es aber als automatisches Subjekt, da es zum realen Ausbeutungsprozess kaum noch vermittelt ist:

Die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise erreicht hier ihre Spitze, indem statt die Verwertung des Kapitals aus der Ausbeutung der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, dass die Arbeitskraft selbst zinstragendes Kapital ist (MEW 25, S.483).

Die eigene Bewegung des fiktiven Kapitals

Eine besondere Eigenschaft des fiktiven Kapitals ist, dass es eine Doppelexistenz führen kann. Zum einen geht das geliehene Geld in die Zirkulation ein. Der leihende Kapitalist kauft Produktionsmittel und Arbeitskraft und fertigt eine Ware, aus deren Erlös er Schulden und Zinsen zurückzahlt. Gleichzeitig kann jedoch auch der Schuldtitel gehandelt werden. Es kann in eine vom Wert losgelöste Zirkulation antreten. Diese losgelöste Zirkulation wurde von vielen bürgerlichen Ökonomen häufig als ursächlich für kapitalistische Krisen erachtet. Aber Karl Marx stellt sehr eindeutig klar:

[…] dies Kapital existiert nicht doppelt, einmal als Kapitalwert der Eigentumstitel, der Aktien, und das andre Mal als das in jenen Unternehmungen wirklich angelegte oder anzulegende Kapital. Es existiert nur in jener letztern Form, und die Aktie ist nichts als ein Eigentumstitel, pro rata, auf den durch jenes zu realisierenden Mehrwert (MEW 25, S.484).

Dies bedeutet, dass fiktives Kapital Spekulation auf eine funktionierende reale Kapitalakkumulation in der Zukunft ist. Diese Zukunft kann durch die beliebige Aneinanderreihung – Schuldtitel wird für Schuldtitel wird für Schuldtitel verkauft … – zwar zeitlich verschoben werden. Sie ist aber nicht losgelöst von der realen Kapitalakkumulation. Wenn eine Finanzblase platzt, dann hat die reale Akkumulation nicht funktioniert und gleichsam wäre die Wirtschaftskrise ohne die Finanzinstrumente bereits eher eingetreten. Carolina Alves koppelt daher den Wert des fiktiven Kapitals an die Sicherheit einer gelingenden Kapitalakkumulation.

Es gibt daher keinen absoluten Widerspruch zwischen Finanz‐ und Industriekapital, sondern nur einen relativen. Alves beschreibt dies durch die Erweiterung der bekannten Formel aus dem ersten Band des Kapitals M‑M‘ auf M-(M‘ – M«), da das zinstragende Kapital von produktiven wieder abgezogen werden muss, aber dennoch Bestandteil der Produktion bleibt. Der Kampf um die Höhe der Revenue trennt beide Fraktionen, die Abhängigkeit von der gelingenden Kapitalakkumulation, d.h. der funktionierenden Ausbeutung des Proletariats, eint beide.

Alves macht darüber hinaus einen Punkt von Marx stark, den sie als häufig übersehen glaubt, nämlich dass fiktives Kapital »keine Verfügung über dies Kapital« (MEW 25, S.494) sei, sondern nur »nominelle Repräsentanten nicht existierender Kapitale« (ebd.).

Sie werden zu Formen des zinstragenden Kapitals, weil sie nicht nur gewisse Erträge sich weil sie nicht nur gewisse Erträge sichern, sondern auch, weil durch Verkauf ihre Rückzahlung als Kapitalwerte erhalten werden kann. Soweit die Akkumulation dieser Papiere die Akkumulation von Eisenbahnen, Bergwerken, Dampfschiffen etc. ausdrückt, drückt sie Erweiterung des wirklichen Reproduktionsprozesses aus […]. Aber als Duplikate, die selbst als Waren verhandelbar sind und daher selbst als Kapitalwerte zirkulieren, sind sie illusorisch, und ihr Wertbetrag kann fallen und steigen ganz unabhängig von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, auf das sie Titel sind. Ihr Wertbetrag, d.h. ihre Kursnotierung an der Börse, hat mit dem Fallen des Zinsfußes, soweit dies, unabhängig von den eigentümlichen Bewegungen des Geldkapitals, einfache Folge des tendenziellen Falles der Profitrate ist, notwendig die Tendenz zu steigen, so daß dieser imaginäre Reichtum, dem Wertausdruck nach für jeden seiner aliquoten Teile von bestimmtem ursprünglichem Nominalwert, sich schon aus diesem Grunde im Entwicklungsgang der kapitalistischen Produktion expandiert (ebenda).

Dem Industriekapital ist es also schnuppe, wer die formalen Rechtstitel besitzt. Auf den realen Akkumulationprozess hat das fiktive Kapital keinen Einfluss. Fiktives Kapital kann aber den tendenziellen Fall der Profitrate dadurch unterlaufen, dass es Ansprüche auf zukünftige Profite in der Gegenwart akkumuliert. Dies kann nur solange funktionieren, solange diese zukünftigen spekulativen Profite glaubhaft sind. Daher sagt Alves, dass Sicherheit eine harte Währung des fiktiven Kapitals ist. Denn wichtig ist, beim Wert gibt es keine doppelte Buchführung. Wert ist erbrachte durchschnittliche Arbeit und die wird nicht durch die Teilung in Kapital und Schuldtitel mehr.

Staatsanleihen

Als wahrscheinlich sicherste Form des fiktiven Kapitals untersuchte Alves abschließend die Staatsanleihen. Bei einer Staatsanleihe kauft der Gläubiger – in der Regel institutionelle Anleger wie Banken, Fonds oder Versicherungen, aber auch reichere Privatpersonen – einen fest verzinsten Rechtstitel, den er nach einer festgelegten Zeitspanne wieder ausgezahlt bekommt. Für den Staat ist die Anleihe neben Privatisierungen, Steuern und Profiten aus Staatsbeteiligungen eine vierte Möglichkeit der Haushaltsfinanzierung. Staatsanleihen gelten als besonders sicher, da Staatsbakrotte sehr selten und meistens bereits im Vorfeld absehbar sind.

Die Herausgabe von Staatsanleihen ist jedoch keineswegs wertneutral und der Staat kann mit dem vorhandenen Geld nicht machen, was er will. Vielmehr legt die Staatsanleihe die Verwendung des geliehenen Geldes fest, denn wie jedes fiktive Kapital nur ein Rechtsanspruch auf Anteile zukünftiger Profite ist, so sind auch Staatsanleihen nur Rechtsansprüche auf zukünftige erhöhte Steuereinnahmen (oder erhöhte Einnahmen aus Staatsbeteiligungen). Der Staat kann also nicht einfach das Geld in soziale Wohltaten stecken. Ohne Investitionen in die Verbesserung der Bedingungen der Kapitalakkumulation könnte der Staat nicht die Zinsen begleichen und das verausgabte Geld ersetzen. Das Ziel aller staatlichen Unternehmungen muss es sein, entsprechend den versprochenen Zinsen die Ökonomie so zu entwickeln, dass die Steuereinnahmen zu steigen. Dies führt zu einer fetischisierten Vorstellung über den Klassencharakter des Staates. Während die Bourgeoisie Krokodilstränen darüber vergießt, dass sie durch immer höhere Steuern den Staat finanzieren, ist es gerade die Staatsschuld die im Verwertungsinteresse der Bourgeoisie aufgenommen wurde. Staatsanleihen vertiefen also den Klassencharakter des Staates, anstatt durch Umverteilung mittels progressiver Steuern die Klassenkämpfe zu glätten.

Dennoch deutet Alves die Staatsanleihe nicht nur als passive Verpflichtung des Staates auf eine akkumulationsfreundliche Einrichtung der Gesellschaft, sondern auch als aktives Instrument des Einflusses auf die Ökonomie. Erstens sind Staatsanleihen durch ihr geringes Risiko ein guter Puffer für andere spekulative Geschäfte der Banken. Ein hoher Anteil an Staatsanleihen kann Banken Risikogeschäfte machen lassen, ohne die Gefahr vollständig insolvent zu gehen. Zweitens lässt sich über den Verkauf von Staatsanleihen an Zentralbanken die Geldmenge regulieren (Näheres hier). Drittens liefert die sichere Staatsanleihe eine Standkerze für die Zinserwartungen anderer Finanztitel, sozusagen eine Mindestmarke. Von dieser aus lässt sich mit steigendem Risiko der steigende Zinssatz hochrechnen. Und ganz allgemein legt jede Staatsanleihe natürlich auch den Gläubiger auf den Erfolg der staatlichen Tätigkeiten fest. Dieses Interesse wird zwar prinzipiell neoliberaler Natur sein, aber Steuern wird das Finanzkapital aus Eigeninteresse nicht in Frage stellen. Alves kommentiert trocken: Der Staat leihe sich Geld von seinen reichsten Bürgern, anstatt sie hoch zu besteuern und zahlten ihnen Zinsen. Auch eine Möglichkeit Loyalität zu erreichen.

Zusammenfassung

Die Betrachtung des fiktiven Kapitals bei Marx und der Essay von Carolina Alves machen eines deutlich. Es gibt keine Trennung von Finanzkapital und Realökonomie. Weder gibt es einen absoluten Widerspruch zwischen schaffendem und raffendem Kapital, noch noch einen neutralen Staat als fairer Mittler zwischen den Klassen. Und erst recht gibt es kein automatisches Subjekt, welches alle Mitglieder unter seine Herrschaft zwängt. Die kapitalistische Gesellschaft besteht aus sozialen Beziehungen zwischen Menschen und eine solche Beziehung ist beispielsweise das Versprechen auf zukünftige Zinsen bei Bereitstellung von Kapital. Die Spuren zwischen fiktivem und Industriekapital mögen verwischt sein, aber sie lassen sich rekonstruieren, auch wenn es kompliziert ist. Marx brauchte dazu einiges an Argumentation und viel kürzer lässt es sich wohl auch nicht machen. Dass die bürgerliche Ökonomie regelmäßig doppelt Buch führt, erschwert natürlich die Analyse der konkreten empirischen Verhältnisse. Aber selbst mit den Verzögerungstricks und Wetten auf die Zukunft sinkt die Durchschnittsprofitrate beständig. Ganz praktisch scheint das Finanzkapital Marxens Vorhersage Recht zu geben, auch wenn es das nie offen zugeben würde.

Literatur

Alves, C. (2023): Fictitious capital, the credit system, and the particular case of government bonds in Marx. In: New Political Economy. Jahrgang 28. Ausgabe 3. S.398 – 415.

Marx, K. & Engels, F. (1983): Das Kapital. Band 3. In: Marx‐​Engels‐​Werke. Band 25. Berlin, Hauptstadt der DDR: Dietz.

Zuerst erschienen bei Spectrum of Communism unter einer CC4.0‑BY-NC-Lizenz

Bild: Anleihe der Holländischen Ostindien‐​Kompanie (wikimedia commons)

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