Russlands neoliberale Eliten blühen auf

Ein Gespräch mit Karine Bechet‐Golovko

Hat der Krieg in der Ukraine Moskau von seinen berüchtigten neoliberalen Parasiten befreit?

Diese Frage habe ich der Wissenschaftlerin und Autorin Karine Bechet‐​Golovko per E‑Mail gestellt. Sie hat sich freundlicherweise bereit erklärt, ihre Gedanken zu diesem oft missverstandenen Thema darzulegen.

Bechet‐​Golovko ist promovierte Juristin, Gastprofessorin an der Staatlichen Universität Moskau, Präsidentin der französisch‐​russischen Juristenvereinigung und Autorin zahlreicher Artikel über die politisch‐​rechtlichen Entwicklungen in Russland. Ihr Blog Russia Politics ist eine Pflichtlektüre. Folgen Sie ihr auf Twitter und Telegram.

Hinweis: Das Interview wurde auf Französisch geführt. Ich danke meiner geschätzten Freundin Modeste Schwartz für ihre Unterstützung bei der englischen Übersetzung.

2018 schrieben Sie ein Buch über den Zusammenstoß zwischen neoliberalen und konservativen Fraktionen in Russland. Wie hat sich der Krieg in der Ukraine auf diesen Machtkampf ausgewirkt? In den ersten Tagen des Konflikts gab es Hoffnungen, dass die neoliberalen Elemente Russlands aus der Regierung entfernt werden würden (man denke an den Rücktritt von Tschubais). Aber ist es richtig zu sagen, dass der konservativ‐​patriotische Block die Neoliberalen von der Macht verdrängt hat?

In der Tat hätte man erwarten können, dass die patriotischen politischen Eliten Russlands mit dem Beginn der Militäroperation die Macht übernehmen würden, aber das war nicht wirklich der Fall. Abgesehen von einigen wenigen Abgängen, wie dem von Tschubais oder Kudrin, sind alle neoliberalen politischen Eliten, die vor dem Februar 2022 an der Macht waren, immer noch an der Macht, und im Allgemeinen werden ihre globalistischen Dogmen nicht in Frage gestellt.

Das neoliberale Managementmodell, das zu besonders schädlichen Reformen im Gesundheitswesen geführt hat, wird immer noch nicht in Frage gestellt. Ebenso wenig werden die Reformen im Bildungs‐ und Forschungsbereich in Frage gestellt, die zu einer Verschlechterung der Qualität der Studenten wie auch der Forschung geführt haben.

Der digitale Kult und das Wunder der Hochtechnologien werden nicht in Frage gestellt. Während sie Russland auf den Weg zum globalen Glück führen sollen, gefährden sie die Sicherheit des Staates und verlangsamen die Entwicklung der realen Wirtschaft, die Russland heute so dringend braucht. Auf der anderen Seite erleben wir eine relative Wiederbelebung der industriellen Produktion, nicht nur im militärischen, sondern auch im zivilen Bereich. Das bedeutet, dass sich Russland der Notwendigkeit einer nationalen Produktion bewusst geworden ist.

Im Grunde genommen sind die russischen politischen Eliten immer noch nicht in der Lage, aus dem globalistischen Denkmodell auszubrechen. Sie wollen einige der Bögen dieses Modells ändern und versuchen die Blöcke innerhalb dieses Modells zu diversifizieren, aber sie stellen es nicht in Frage. Das ist ihre Schwäche. Wir sehen das zum Beispiel bei der Erneuerung des Getreideabkommens, das unter der Schirmherrschaft der UNO mit der Türkei als Vermittler durchgeführt wurde und den Hunger in der Welt bekämpfen sollte, indem es die Lieferung von ukrainischem Getreide an bedürftige Länder garantierte. In Wirklichkeit erreichen nur etwas mehr als zwei Prozent dieses Getreides die bedürftigen Länder. Dank der aktiven Mitarbeit Russlands ermöglicht der Hauptteil dieses Abkommens der Ukraine die Aufrechterhaltung ihrer Präsenz auf dem westlichen Getreidemarkt.

Die große Mehrheit der russischen politischen Eliten sieht sich nicht im Krieg und versucht, den Sturm zu überstehen. Schon Tolstoi schrieb über den Krieg gegen Napoleon: Die meisten Eliten um den Kaiser waren vor allem bestrebt, ihre Interessen zu wahren. Leider ist die menschliche Natur unveränderlich. Was die intellektuellen und akademischen Eliten betrifft, so ist die Bilanz leider nicht optimistischer. Sie werden seit dreißig Jahren durch westliche Stipendien finanziert, was ihre Denkweise völlig konditioniert hat. Bislang ist es zu keinem größeren intellektuellen »Bruch« mit dem Westen gekommen: Die Forschungsthemen der russischen öffentlichen Fördermittel folgen der globalistischen Linie (nachhaltige Entwicklung, Verwaltung persönlicher Daten, Gender, Einwanderung, Klimawandel, digitale Transformation).

Im Großen und Ganzen lässt sich jedoch eine leichte Beugung des Diskurses und die Wiedereinführung von Schlüsselbegriffen inmitten dieses globalistischen Sumpfes feststellen, wie etwa das Konzept der Souveränität, das plötzlich auf dem Petersburger Rechtsforum auftauchte.

Die kulturellen Eliten hingegen sind am stärksten betroffen: Diejenigen, die sich geweigert haben, die Position ihres Landes zu unterstützen, sind abgewandert – vor allem, um ihre Vorteile nicht zu verlieren und um in der globalen Welt, zu der sie hauptsächlich gehören, nicht »verbannt« zu werden. Die anderen schweigen vorerst oder haben ihre Wahl getroffen und unterstützen ihr Land.

Generell ist eine Distanzierung der Eliten vom Volk festzustellen, das von Natur aus konservativer und wirklich patriotisch ist, was für die Stabilität des Landes gefährlich ist, insbesondere in Kriegszeiten.

Der Duma‐​Abgeordnete Sergej Lewtschenko bezeichnete Russlands wachsende Abhängigkeit von China kürzlich als eine Form der »Importsubstitution«, die das von Russlands pro‐​westlichen Eliten in den 1990er Jahren entwickelte Wirtschaftsmodell nicht grundlegend ändern würde (sprich statt eine Rohstoff‐​Pipeline für den Westen zu sein, wird Moskau zu einem Anhängsel des Ostens). Glauben Sie, dass diese Kritik berechtigt ist? Sie scheint der weit verbreiteten Ansicht zu widersprechen, dass die Hinwendung Moskaus zu China eine geopolitische und wirtschaftliche Verbesserung gegenüber den scheinbar gescheiterten Beziehungen zum Westen darstellt.

Ich halte es für notwendig, diese Aussage zu relativieren. Einerseits können wir die Stärkung der Abhängigkeit Russlands von China, aber auch von der Türkei feststellen, die beide von der Neuverdrahtung der »globalen« Wirtschaftskreisläufe Russlands profitiert haben. Die so genannte »globale« Route nach Süden von St. Petersburg nach Bombay steht kurz vor der Fertigstellung und trägt zu diesem Wandel bei, der auch eine Form der Diversifizierung darstellt.

Das Problem scheint mir nicht die Abhängigkeit Russlands von China zu sein, denn kein Land kann wirklich autark sein. Das Problem liegt darin, dass die Säulen der Globalisierung nicht ernsthaft in Frage gestellt werden und die Entwicklung der russischen Realwirtschaft blockieren. Russland wendet sich anderen Kontinenten zu, da der Westen seine Türen schließt. In diesem Sinne findet eine Diversifizierung statt, die die Unabhängigkeit des Landes stärken soll. Aber Moskau sucht nach einem Ersatz, nicht nach einer Umgestaltung, die manchmal seine Abhängigkeit von anderen zu erhöhen scheint.

China ist eines der zentralen Länder der Globalisierung. Sein Menschen‐ und Gesellschaftsbild ist für Russland ideologisch äußerst gefährlich, zumal beide Nationen dem digitalen Kult anhängen. Man kann sich auch über diese privilegierte »Partnerschaft« mit der Türkei wundern, die auch Kampfdrohnen an die Ukraine verkauft. Das berührt natürlich auch Russland. In diesem Sinne fällt es Russland schwer, aus der globalistischen Denkweise auszubrechen, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR zur einzigen Ideologie wurde. Und das behindert seine Entwicklung, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Und es hat auch die Wiederherstellung der wahren Souveränität Russlands behindert.

In einem kürzlich erschienenen Artikel haben Sie eine sehr beunruhigende Frage gestellt: Stellt Wagner‐​Chef Jewgeni Prigoschin den Höhepunkt des »neoliberalen Exzesses« dar, der »externen Kräften, ob freiwillig oder nicht, erlauben könnte, Russland von innen heraus zu stürzen«? Wie ernst schätzen Sie diese Gefahr ein? »Turbo‐​Patrioten« wie Igor Strelkow glauben, dass der Krieg in der Ukraine zu einem »Szenario 1917« in Russland führen könnte.

Das Modell der Privatarmeen in seiner modernen Version ist ein angelsächsisches Modell. Diese Armeen werden in der Regel eingesetzt, um auf fremdem Boden Aufgaben zu erfüllen, die die nationale Armee nicht offen ausführen kann, weil dies entweder illegal oder unrechtmäßig wäre. Diese Armeen können formell von ausländischen Regierungen in deren nationalen Kriegen oder im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt werden. Sie können diskret in einem fremden Land im Interesse der eigenen Regierung intervenieren, so dass diese im Verborgenen bleibt. Sie können zur Erledigung der schmutzigen Arbeit herangezogen werden, ohne eine Flagge zu zeigen.

Aber sie werden nie auf nationalem Boden eingesetzt, denn in diesem Fall schwächen sie die Position der Staatsmacht. Das galt jedenfalls schon vor dem Einsatz von Wagner durch Russland auf russischem Boden. Das Problem des Einsatzes einer Privatarmee durch Prigoschin ist ein systemisches. Dabei spielt es keine Rolle, ob er selbst ein Patriot oder einfach nur ein Geschäftsmann ist. Objektiv betrachtet begeht Russland einen strategischen Fehler, wenn es eine Privatarmee in einem Krieg einsetzt, der ein Krieg zur Befreiung eines nationalen Territoriums ist oder sein sollte.

Erinnern wir uns daran, dass die Regionen Donezk, Lugansk, Cherson und Saporischschja nach russischem Recht seit der Änderung der russischen Verfassung im letzten Herbst zum Staatsgebiet gehören. Es handelt sich also nicht um eine große Anti‐​Terror‐​Operation, wie viele in Russland gerne glauben machen wollen, sondern um einen Krieg.

Nach dreißig Jahren neoliberaler Reformen der Armee, die darin bestanden, die (zu teuren) Soldaten durch Technologien zu ersetzen, die nach der Logik des Managements als effizienter gelten, fehlten Russland jedoch objektiv Männer. Das große globalistische Credo, das diese Verkleinerung der nationalen Armeen (mit Ausnahme der der Vereinigten Staaten) unterstützte, beruhte auf der Behauptung, dass es in der globalen Welt keinen traditionellen Krieg im großen Stil mehr gebe. Wir sehen, dass dieses Postulat falsch ist: Die globale Welt ist selbst der Vorbote des Krieges, denn sie duldet keinen Dissens, den sie mit Waffengewalt niederschlägt, wenn politische Drohungen nicht ausreichen. Der Konflikt in der Ukraine ist ein perfektes Beispiel dafür.

Um mit diesem Wiederaufleben des traditionellen Krieges fertig zu werden, hat Russland an Wagner appelliert, anstatt in großem Stil zu mobilisieren. Dies schafft ein falsches Gefühl der Leichtigkeit, aber es erlaubt den Eliten, die immer noch zögern, diesen Krieg als Krieg anzuerkennen, die Stärkung eines echten Patriotismus in der Bevölkerung zu verhindern. Eines Patriotismus, der, hat man die Front einmal verlassen, unvereinbar ist mit Moskaus sanftem Zögern und dem Wunsch nach Normalisierung – ungeachtet der menschlichen Kosten.

Ich lese Ihren Blog gerne, weil er mir sehr … russisch vorkommt! Meiner Erfahrung nach sind viele Westler, die mit Russland sympathisieren, extrem feindselig gegenüber jeder noch so kleinen Kritik an der russischen Regierung. In den englischsprachigen »alternativen Medien« ist es ein schreckliches Sakrileg, die Allmacht der russischen Führung und Eliten in Frage zu stellen. Gibt es dieses Phänomen auch in den französischsprachigen »alternativen Medien«? Wenn ja, was ist Ihrer Meinung nach die Ursache dafür?

Dieses Phänomen der Verherrlichung Russlands ist in den französischsprachigen Netzen weit verbreitet. Ich gehe davon aus, dass es überall dasselbe ist. Dafür gibt es meiner Meinung nach mehrere Gründe. Zunächst einmal würde ich sagen, dass einige »pro‐​russische« Westler Russland lieben wollen – sozusagen »gegen« ihr eigenes Land. Sie wollen in Russland all das sehen, was sie in ihrer eigenen Heimat nicht mehr finden können. Sie weigern sich die Nuancen der russischen Gesellschaft zu sehen, die besonders komplex ist.

Zweitens liegt es in der Natur des Menschen, dass er glauben muss, dass er beruhigt werden muss. Wenn Menschen einen bequemen Mythos erschaffen, um den Alltag zu ertragen, und auf eine bessere Zukunft hoffen, können sie es nicht ertragen, in die Realität zurückgeholt zu werden, die sie zwingen würde, ihre Komfortzone zu verlassen – auch wenn sie illusorisch ist.

Schließlich gibt es diejenigen, die weder Russisch sprechen noch lesen können. Sie glauben den französischen Medien nicht, die sie aus gutem Grund für zu parteiisch halten. Deshalb haben sie sich in die alternativen Medien geflüchtet, die ein idyllisches Bild von der Situation vermitteln. Sie haben nicht die objektive Möglichkeit, Russland in der Tiefe zu verstehen. So wird jeder Fehler der russischen Behörden systematisch als Teil eines großen geheimen Spiels gedeutet, bei dem Moskau fünfzig Züge voraus ist.

Aber es gibt noch eine andere Gruppe von Menschen, die sich fragen, nachdenken und versuchen, den Sinn der Dinge zu verstehen – und es ist eine große Freude, mit ihnen zu kommunizieren, selbst über einen Blog.


Vielen Dank, Karine!

Habt einen erholsamen Sonntag, Freunde.

Riley

Zuerst in englisch erschienen im Substack von Edward Slavsquat: https://​edwardslavsquat​.substack​.com/

Bild: Fastfood‐​Auslieferer in Moskau‐​City (Tatiana El‐​Bakri CC BY‐​SA 2.0)

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