Die Einheit der nationalen und sozialen Frage

Der Titel mag aufgrund der Beanspruchung des Themenfelds durch Neonazis anrüchig klingen. Dabei ist er es nicht. Er lehnt sich an das KPD‐​Programm von 1930 zur nationalen und sozialen Befreiung1 an. Die nationale Frage und die soziale Frage sind eng verbunden. Kann man denn ein wahrhafter Patriot seines Vaterlandes sein, ohne Sozialist zu sein? Wie soll denn eine Nation im Grunde zusammenhalten, wenn der antagonistische Widerspruch zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten sie in zwei Teile zerreißt mit einem unüberwindlichen Strom in der Mitte?

Diesen Zwiespalt sahen schon bürgerlich‐​revolutionäre Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Bettina von Arnim. Sie schrieb:

Wer ist des Staates Untertan? Der Arme ists! – Nicht der Reiche auch? – Nein, denn seine Basis ist Selbstbesitz, und seine Überzeugung, dass er nur sich angehöre! – Den Armen fesseln die Schwäche, die gebundnen Kräfte an seine Stelle. – Die Unersättlichkeit, der Hochmut, die Usurpation fesseln den Reichen an die seine. Sollten die gerechten Ansprüche des Armen anerkannt werden, dann wird er mit unzerreißbaren Banden der Blutsverwandtschaft am Vaterlandsboden hängen, der seine Kräfte der Selbsterhaltung weckt und nährt, denn die Armen sind ein gemeinsam Volk, aber die Reichen sind nicht ein gemeinsam Volk, da ist jeder für sich, und dann sind sie gemeinsam, wenn sie eine Beute teilen auf Kosten des Volkes.2

Die bürgerliche Moral besteht darin, dass sich jeder selbst der Nächste sei. Die Bourgeoisie ist nur geeint, wenn es um ihre kollektiven Klasseninteressen geht. Wenn ein einzelner Kapitalist aber eine schlechte wirtschaftliche Performance abliefert, wie etwa Schlecker vor einem Jahrzehnt, dann wird dieser, der zuvor als eine Art unternehmerischer Genius gelobt wurde, auf dieselbe Weise in Grund und Boden verdammt. Diese Erkenntnisse reichen weit über den Klassenkampf der Bourgeoisie gegen den Feudalismus im 19. Jahrhundert hinaus. Genauso auch, dass das werktätige Volk nur dann wirklich ein vaterländisches Bewusstsein haben kann, wenn es nicht völlig besitzlos ist und geknechtet wird.

Wie kann man vollwertiger Teil einer Nation sein, wenn man sich an dessen soziokulturellen Leben nicht angemessen beteiligen kann? Das ist auch der Grund, wieso es so schwierig ist, Migranten unter kapitalistischen Verhältnissen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und zu assimilieren. Ohne die Lösung der sozialen Frage kann die nationale Frage auch nicht gelöst werden. Beide Fragen sind ineinander verschlungen wie zwei Ranken.

Natürlich mögen einige vom bürgerlichen Kosmopolitismus beeinflussten Genossen die nationale Frage an sich gerne negieren wollen, und zitieren dazu gerne Marx und Engels aus dem Kontext: »Die Arbeiter haben kein Vaterland.« Dieses Zitat ist echt, kein Zweifel. Genauso wenig besteht aber kein Zweifel darin, dass dieses Zitat abgehackt worden ist. Der Nachsatz dazu lautet nämlich:

Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.3

Die Arbeiterklasse keines Landes hatte 1848 einen eigenen Staat. Somit handelt es sich dabei um eine zutreffende Bestandsaufnahme. Marx und Engels erkannten aber auch, dass das siegreiche Proletariat eines Landes eine sozialistische Nation begründen wird. Die nationale und soziale Frage ist also auch im Marxismus von Anbeginn als eins gesehen worden. Auf diese Erkenntnisse konnte später Lenin zurückgreifen. Lenin schrieb am 12. Dezember 1914, dass den großrussischen Sozialdemokraten die »ungeheure Bedeutung der nationalen Frage« nicht in Vergessenheit geraten sei und sie durchaus Nationalstolz besäßen4. Die Oktoberrevolution erschuf ein sozialistisches Großrussland in Form der Sowjetunion. Man kann sie keineswegs als »Internationalstaat des Weltproletariats« bezeichnen, aber dennoch als den ersten sozialistischen Staat der Welt. Lenin schrieb am 24. Februar 1918:

Alle wissen, warum wir nach dem 25. Oktober 1917, nach dem Sieg der Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft, alle Vaterlandsverteidiger geworden sind, warum wir für die Verteidigung des Vaterlands sind.5

Die sowjetischen Werktätigen hatten sich mit der Oktoberrevolution ihr sozialistisches Vaterland geschaffen, damit die nationale und soziale Befreiung der russländischen Völker verwirklicht.

Die Begriffe national und sozial wurden Jahrzehnte später durch die NSDAP raubkopiert und missbraucht. Die NSDAP ging mit diesen Begriffen demagogisch um. Das blieb aber auch innerparteilich nicht völlig ohne Widerspruch. Es gab kritische Stimmen innerhalb der NSDAP während der 20er Jahre bezüglich der verkündeten »Volksgemeinschaft«. So schrieb am 22. Juni 1925 der faschistische Student Wilhelm Tempel aus Marburg an Adolf Hitler einen Brief, in dem stand: »Wahre Volksgemeinschaft kann also nur entstehen, wenn sich der Arbeiter nicht mehr als der unterdrückte Teil fühlt.»6 Außerdem schrieb Tempel davon, dass die Mehrwerttheorie von Marx »nicht aus den Fingernägeln gesogen« sei. Rudolf Heß antwortete am 1. August 1925 in einem Brief, in dem sogar der Adressat als »Tengel« falsch geschrieben worden ist, damit, dass man den Marxismus nicht unterstützen dürfe, indem man das Problem beim Arbeitergeber sucht7. Den Nazis war die Lage des werktätigen Volkes egal, sie bekämpften jene, die Kritik an der Ausbeutung des Volkes durch das Großkapital übten; sie verkündeten eine »Volksgemeinschaft«, deren Begriff völlig inhaltsleer war. Es galt bei ihnen nicht: »Was dem ganzen Bienenschwarm nicht zuträglich ist, das ist auch der Biene nicht zuträglich.»8 Die NSDAP vertrat bloß die Interessen einer kleinen Elite aus Monopolkapitalisten und Junkern.

Die KPD vertrat eine dem diametral entgegengesetzte Position. Ernst Thälmann sagte im Jahre 1927:

Das Vaterland der Hindenburg, der Borsig und Krupp, der Wels, Noske und Scheidemann ist nicht das Vaterland der deutschen Arbeiter. – Unser Vaterland wird es sein, wenn von den Giebeln die siegreichen Fahnen des Sozialismus wehen werden.9

Dieses sozialistische deutsche Vaterland hatten wir bereits einmal in der Geschichte – die DDR. Es obliegt uns, ihrem Beispiel zu folgen und ein neues sozialistisches Deutschland zu erschaffen. Dies kann nur geschehen, indem der Klassenkampf das werktätige deutsche Volk gegen die kapitalistischen Ausbeuter eint.

Verweise

1 Siehe: »Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« (24. August 1930) In: Ernst Thälmann »Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, Bd. II, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 530 ff.

2 Bettina von Arnim »Armenbuch«, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 101.

3 »Manifest der Kommunistischen Partei« In: »Manifest der Kommunistischen Partei« In: Karl Marx/​Friedrich Engels »Werke«, Bd. 4, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 479.

4 Vgl. »Über den Nationalstolz der Großrussen« (12. Dezember 1914) In: W. I. Lenin »Werke«, Bd. 21, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 91/​92.

5 »Stellungnahme des ZK der SDAPR (Bolschewiki) zur Frage des annexionistischen Separatfriedens« (24. Februar 1918) In: Ebenda, Bd. 27, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 42.

6 Zit. nach: (Hrsg.) Henrik Eberle »Briefe an Hitler«, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2007, S. 45.

7 Vgl. Ebenda, S. 48.

8 Mark Aurel »Selbstbetrachtungen«, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1969, S. 81.

9 »Bereit sein« (5. Juni 1927) In: Ernst Thälmann »Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin 1956, S. 510.

Zuerst erschienen in Die Rote Front

Bild: Cover der Broschüre mit dem Protokoll und dem Manifest der Gründungsversammlung des Nationalkomitees »Freies Deutschland«

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