»Multipolarität« oder internationalistischer Antiimperialismus?

Einleitung

Der laufende Dritte Weltkrieg stellt die globale revolutionäre Bewegung vor entscheidende Aufgaben. Er macht es notwendig und unumgänglich, die Taktik des antiimperialistischen Kampfes mit dem Kampf für die Strategie der sozialistischen Revolution und die Perspektive des Kommunismus organisch zu verbinden.

Die dringend notwendigen Aufgaben des Antikolonialismus, des Antiimperialismus, der nationalen Befreiung, der nationalen Unabhängigkeit, des Antifaschismus und dergleichen mehr können durch eine frontale revolutionäre Bewegung – in der die Kommunisten eine Vorreiter‐ und Führungsrolle spielen – wirksam und konsequent erreicht werden. Dies wiederum ist in dem Maße möglich, wie die Kommunisten auch an der Spitze des theoretischen und ideologischen Kampfes stehen, indem sie in Rede stehende Ziele auf organische, fundierte, wissenschaftliche und überzeugende Weise mit der revolutionären Perspektive des Sozialismus, mit revolutionären gesellschaftlichen Umgestaltungen verbinden, die den Weg für die sozialistische Revolution ebnen.

Um diesen Aufgaben bestmöglich gerecht zu werden, wurde die World Anti‐​imperialist Platform (WAP) gegründet und wird derzeit weiterentwickelt. Die wichtigsten, miteinander verbundenen Ziele der Antiimperialistischen Weltplattform sind: 1. Die Koordinierung und Organisation des antiimperialistischen Kampfes; 2. der ideologische Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus, die die Bewegung untergraben; 3. die Konsolidierung der konsequenten revolutionären und internationalistischen kommunistischen Kräfte, ohne deren führende Rolle der siegreiche antiimperialistische Kampf der Völker unerreichbar ist.

In der WAP halten wir eine möglichst breite Zusammenführung und Mobilisierung von Kräften und Tendenzen mit unterschiedlichen ideologischen und politischen Ausgangspunkten und Tendenzen im antiimperialistischen Frontkampf für notwendig. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass die optimale Art und Weise der Organisation und Eskalation des antiimperialistischen Kampfes ohne seine organische Verbindung mit dem Kampf für die sozialistische Revolution nicht bewusst geplant werden kann.

Antiimperialismus und Sozialismus/​Kommunismus sind in ihrem sozialen/​klassenmäßigen und ideologischen/​politischen Inhalt zwei unterschiedliche, aber organisch miteinander verbundene Bestandteile eines einzigen revolutionären Prozesses, einer einzigen Bewegung.

Die Grundvoraussetzung für die Stärkung des antiimperialistischen Kampfes ist heute die Wiederherstellung und Stärkung der kommunistischen Bewegung auf nationaler, regionaler und globaler Ebene auf der Grundlage der schöpferischen Entwicklung und Anwendung der zeitgenössischen revolutionären Theorie und Methodik.

Der Dritte Weltkrieg hat eine Fülle von Ideen, Szenarien und Ansätzen in Bezug auf die raschen Verschiebungen im weltweiten Kräftegleichgewicht an die Oberfläche gespült. Gegenwärtig wird die antiimperialistische Bewegung von Kräften aufgegriffen, die bis zu einem gewissen Grad von Ideologien und ideologischen Konstrukten inspiriert oder beeinflusst sind, in denen Begriffe und Doktrinen der »Geopolitik« vorherrschend sind.

Wenn wir eine wirklich wissenschaftliche Herangehensweise an das Thema anstreben, müssen wir klar zwischen zwei Ansatzebenen unterscheiden:

  1. Auf der einen Seite steht der eigentliche objektive historische Prozess, an dessen Entwicklung historischen Subjekte aufgrund der objektiv verfügbaren Ressourcen und Mittel zur Verfolgung ihrer Handlungen beteiligt sind. Die Kristallisation dieses Prozesses führt zu den jeweiligen Veränderungen in den Machtverhältnissen, den Anziehungs‐ und/​oder Abstoßungspolen der Macht und den entsprechenden (alten und neuen) Entscheidungszentren.
  2. Auf der anderen Seite gibt es eine Fülle von unterschiedlich zuverlässigen oder unzuverlässigen Ideen, Ansätzen, Wahrnehmungen, Spekulationen, Arbeitshypothesen und so fort, mit denen die Menschen versuchen, die genannten Phänomene zu verstehen, zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen.

Geopolitik als Ideologie und Propaganda der Kapitalistenklasse

Die Geopolitik ist eine Richtung der bürgerlichen Ideologie, eine Handlangerin aller strategischen und taktischen Bestrebungen des »Gesamtkapitalisten« auf nationaler und internationaler Ebene (und damit des führenden politischen Personals der herrschenden Klasse). Der Geopolitik wird oft ein wissenschaftliches Mäntelchen umgehängt, mit entsprechenden Studiengängen, Abschlüssen, Universitätsstellen, »Forschungszentren« und so fort.

Als eine weit verbreitete Richtung oder Tendenz im politischen Denken und in der Propaganda des Bürgertums hat die Geopolitik ihre Wurzeln in der extremen Übertreibung oder sogar Verabsolutierung der Rolle geografischer Faktoren im Leben der Gesellschaft und in der Geschichte. Ihren Ideologien und Ansätzen zufolge steht der gesamte Verlauf der Geschichte der menschlichen Gesellschaft in direktem Zusammenhang mit geografischen Begriffen und der geografischen Lage, in Verbindung mit malthusianischen und neomalthusianischen Ideen der Demografie und sogar mit rassistischen Konzepten des Sozialdarwinismus. Nach diesen Konzepten sind nicht alle Rassen und Nationen gleich. Im Gegenteil, es gibt eine Hierarchie zwischen überlegenen und unterlegenen Rassen/​Nationen. Außerdem gibt es immer zu wenig »Lebensraum« für die »überlegenen und aufstrebenden Nationen«, weshalb es legitim ist, »Lebensraum« zu beanspruchen, was zu ständigen Revisionen der verschiedenen physischen Grenzen und ähnlichem führt. Daher fungiert die Geopolitik in der Regel als notwendige Grundlage für die Ideologie und Propaganda der aggressiven Außenpolitik des Imperialismus.

Sie entstammt in ihren ideologischen Grundzügen dem bürgerlichen öffentlichen Schrifttum des ausgehenden 19. Jahrhunderts im kolonialen Großbritannien, Frankreich, Schweden und weiteren Ländern. Ihre Blütezeit erlebte sie jedoch während des Ersten Weltkriegs als Sphäre der ideologischen Rahmung des Kriegs und der politischen Bestrebungen der kriegführenden imperialistischen Lager. Damals formulierte der schwedische pangermanistische Politologe Johan Rudolf Kjellén den Begriff »Geopolitik« und beschrieb den Staat als einen geografischen und biologischen Organismus. Seitdem ist die Geopolitik auch organisch mit den praktischen, »institutionellen« Anwendungen des Rassismus verbunden (Eugenik, gerichtlich angeordnete Sterilisationen, Konzentrations‐ und Vernichtungslager für unerwünschte Personen, Kontrolle und Unterdrückung von Einwanderern, ethnische Säuberungen, Verfolgung von Revolutionären als »die nationale Reinheit untergrabende« Kräfte, Lobotomien und vieles mehr).

In der Zwischenkriegszeit florierte sie in Italien, Deutschland, dem militaristischen Japan und anderswo, wo sie als »Fundament« der offiziellen Doktrinen des Faschismus, Nazismus und Monarchofaschismus diente. Sie bildete die ideologische Grundlage für die menschenverachtenden und völkermordenden Praktiken der Antikomintern‐​Regime der faschistischen Achse.

Die Agenten der faschistischen Geopolitik organisierten und verbreiteten auf breiter Ebene offiziell die Propaganda von Revanchismus und Vergeltung für den »ungerechten Charakter« des Versailler Vertrags gegen Deutschland. In Wirklichkeit ging es ihnen darum, die imperialistischen Bestrebungen zur Neuverteilung von Kolonien und Einflusssphären zugunsten der deutschen Finanzoligarchie zu befriedigen, die sie als angeblich »natürliche Aggression zur Beanspruchung notwendiger Lebensräume« im Namen der gesamten « überlegenen deutschen Nation« und der »arischen Rasse« darstellten …

Nach dem Zweiten Weltkrieg erblühte die Geopolitik in den Vereinigten Staaten und in einigen anderen imperialistischen Ländern als ideologisches Instrument des Antisowjetismus/​Antikommunismus während des Kalten Krieges, als Mittel zur Durchsetzung der neokolonialistischen Ziele der Finanzoligarchie des Imperialismus. Ein charakteristisches Merkmal der Geopolitik ist der Ausdruck der Ansprüche der großen imperialistischen Staaten und ihrer staatenübergreifenden Organe, Koalitionen und so weiter auf Weltherrschaft, »Weltordnung« und, wenn möglich, »Weltregierung«. In jedem Fall wurde die Geopolitik im Laufe der Zeit mit verschiedenen Varianten von Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus, aber auch mit Varianten des Kosmopolitismus in Verbindung gebracht.

Rassismus ist ein Mischmasch aus unwissenschaftlichen und irrationalen Überzeugungen über die angeblich biologisch bedingte körperliche und geistige Ungleichheit der menschlichen Rassen und über den entscheidenden Einfluss der Rassenunterschiede auf die Geschichte und Kultur der Gesellschaft. Allen Rassismen gemeinsam ist der Misanthropismus, das Vorurteil über überlegene und minderwertige Rassen. Solche, die angeblich dazu bestimmt seien, die alleinigen Schöpfer von Zivilisation und Herrschaft zu sein, wie solche, die zur kulturellen Schöpfung nicht in der Lage seien und daher dazu verdammt seien, ausschließlich beherrscht, unterjocht und ausgebeutet zu werden.

Der Nationalismus als bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologie, Psychologie und Politik sieht die Nation als eine übergeordnete – nicht geschichtliche und klassenüberschreitende – Einheit an, als ein harmonisches Ganzes mit identischen Grundinteressen. Die Interessen der herrschenden Klasse werden hier als »landesweit« projiziert, während die Nationalisten gegenüber anderen Nationen die Idee der eigenen nationalen Vorherrschaft und Exklusivität vertreten. Eine extreme Form des Nationalismus ist der Chauvinismus, dessen charakteristisches Merkmal das Beharren auf »nationaler Exklusivität«, die Vorherrschaft der Interessen einer Nation über die Interessen anderer Nationen, nationale Arroganz, Feindseligkeit und Hass gegenüber anderen Nationen ist.

Der Kosmopolitismus ist die reaktionäre bürgerliche Ideologie/​Utopie mit geopolitischen Implikationen, die sich gegen die Autonomie des Staates und die nationale Souveränität, gegen nationale Traditionen, nationale Kultur und Patriotismus richtet. Diese Ideologie ist im Zeitalter des Imperialismus besonders weit verbreitet, denn sie zielt auf die ungehinderte Freiheit des Kapitals der multinationalen Monopolkonzerne im Weltmaßstab, auf freie Hand und Straflosigkeit für die Finanzoligarchie. Die Vertreter dieser Ideologie halten den Antiimperialismus, jede nationale Befreiungsbewegung, jeden Kampf für nationale und Volkssouveränität für »obsolet« (in dieser Hinsicht stimmen die Anhänger der revisionistischen Doktrin der »imperialistischen Pyramide« mit der reaktionären bürgerlichen Utopie des Kosmopolitismus überein, mit dem einzigen Unterschied, dass versucht wird, diese Angleichung an die Strategie des Imperialismus als »die einzig revolutionäre« darzustellen!).

Der proletarische Internationalismus wendet sich gegen alle Formen von Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus sowie gegen den bürgerlichen Kosmopolitismus, der die Integration der Nationen durch die gewaltsame Assimilierung und Versklavung ihrer Völker durch den Imperialismus in Form von Kolonialismus und Neokolonialismus befürwortet. Marxisten sehen die Perspektive der Annäherung und des Zusammenschlusses der Nationen durch die objektive gesellschaftliche Entwicklung, durch den gesetzlich geregelten Weg zur Vereinigung der Menschheit im Kommunismus. Dies geschieht durch die Befreiung, Emanzipation und die Selbstbestimmung der Nationen, durch das Aufblühen des kulturellen Wohlstands jeder dieser Nationen als organische Elemente der Kultur der vereinigten Menschheit auf einer völlig freiwilligen Basis.

Aus all dem ergibt sich, dass die Geopolitik keine Wissenschaft ist und auch nicht sein kann. Sie beruht ihrer Definition nach auf einer überwiegend oberflächlichen, subjektiven und irrational aufgeladenen, ja geradezu zwanghaften Wahrnehmung der Realität, vor allem dann, wenn sich ungelöste Widersprüche durch die Häufung von Veränderungen des Kräfteverhältnisses im regionalen und globalen Maßstab auftun.

Unter den Bedingungen drohender und/​oder andauernder militärischer Konflikte wird die Geopolitik in den Kreisen der öffentlichen Meinung und des Alltagsbewusstseins besonders populär.

Trotz ihrer Beliebtheit unter Konfliktbedingungen ist die Geopolitik jedoch nicht in der Lage, ihre immanenten methodischen Unzulänglichkeiten und ihre bürgerlich‐​reaktionären ideologischen Grenzen zu überwinden. Geopolitische Narrative sind voller instabiler Bezüge, die in Richtung einer Vielzahl unterschiedlicher Ideologien, pseudophilosophischer Schwärmereien und irrationaler Elemente taumeln.

Abgesehen von der Überbetonung des geografischen Faktors werden in ihren Erzählungen viele verschiedene Faktoren nach Belieben angeführt. Das macht sie zu einer Version der so genannten »Faktortheorie«. Diese Art von »Theorie« versucht, Struktur und Bewegung, Gleichgewichte, Ungleichgewichte und Konflikte zu beschreiben und zu erklären, indem sie sich auf bestimmte »gleichrangige« Faktoren beruft: Wirtschaft, Demografie, Geografie, militärische Macht, Religion, Moral, Technologie, Kultur, »Rasse« und so weiter. Die Unfähigkeit, diese Faktoren organisch miteinander zu verknüpfen und zu priorisieren, führt zu einem chaotischen Teufelskreis, in dem es ziemlich unmöglich ist, Ursache‐​Wirkungs‐​Beziehungen, Gesetze und gesetzlich geregelte Prozesse zu erkennen. Letztlich kann alles alles beeinflussen, und aus diesem Wirrwarr unbestimmter, chaotischer Wechselwirkungen kann alles hervorgehen… Auf diese Weise ist es unmöglich, fundierte und systematische wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die in der Lage sind, objektiv zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und ein wirksames Instrument für menschliches Handeln zu sein.

In der Regel kümmern sich ihre Befürworter nicht darum, dass in ihren Erzählungen Widersprüche, disparate Elemente, ja sogar irrationale Mystifikationen vorhanden sind, wie sie für die ideologischen Konstruktionen/​Dogmen des Nationalismus, Chauvinismus und dergleichen typisch sind. Ich möchte darauf hinweisen, dass, wenn einige Verfechter der Geopolitik in ihren Äußerungen Elemente von Scharfsinn zeigen, dies keineswegs auf die wissenschaftliche Gültigkeit dieses Bereichs ideologischer Tätigkeit zurückzuführen ist. Im Gegenteil, ihre aufschlussreichen Äußerungen werden in Abweichung von der irrationalen Tradition erzielt, die diesen Bereich historisch kennzeichnet. Sie sind also eher auf ihre eigene individuelle Gelehrsamkeit und Einsicht, ihre eigene Selbsterziehung und ihr Verständnis von Gesellschaftstheorie, Philosophie, politischer Ökonomie und so weiter zurückzuführen.

Solche Fachleute (Universitätsprofessoren, Journalisten und »Analysten«, schwafelnde Politiker und andere Vertreter des ideologischen Apparats der herrschenden Klasse) können sich in der Regel nicht über die wissenschaftlich verblendete propagandistische Schematisierung und Systematisierung eines narrativen Rahmens erheben, der den aktuellen ideologischen Agenden zur Rechtfertigung vorher festgelegter Entscheidungen des politischen Personals der Oligarchie des Kapitals, der nationalen oder supranationalen Gremien und Institutionen entspricht, denen sie dienen (Regierungen, transnationale Gremien wie NATO, EU und ähnlichem mehr).

Auf der Ebene des bürgerlichen geopolitischen Drehbuchschreibens können die Völker keine handelnden Subjekte sein, sondern entbehrliche »Ressourcen«, die zur Verwirklichung der »nationalen und supranationalen Ziele der Eliten« eingesetzt werden. Daher übersehen sie de facto den Klasseninhalt in den Interessen der wirklichen handelnden Subjekte hinter jedem Krieg, während die einzigen von ihnen anerkannten und geförderten Subjekte Staatsgebilde/​Nationen und Staatenkoalitionen sind. In der Praxis der Geopolitik können die handelnden Subjekte vor allem die herrschenden Klassen und ihre Instrumente auf nationaler und supranationaler/​transnationaler Ebene (Staatenbündnisse et cetera) sein. So tritt das Klassenwesen, der widersprüchliche und gesetzmäßige Charakter des Systems, in einer umgekehrten Form an die Oberfläche. Diese Form verbirgt nicht nur sein Wesen, sondern stellt die jeweiligen Errungenschaften und Vorausbestimmungen der Strategie des Imperialismus als eine Einbahnstraße dar …

Eine Darstellung des historischen Entstehungskontextes des Narrativs der »Multipolarität«

Eine systematische Auseinandersetzung mit der Geschichte und den wichtigsten Tendenzen der Geopolitik gehört nicht in den Rahmen dieses Beitrags. Um der ideologischen Debatte willen werde ich mich hier speziell auf jene Version/​Untervariante der Geopolitik beziehen, die heute als »Multipolarität« projiziert wird. Die Debatte betrifft bestimmte Strömungen innerhalb und im Umfeld der antiimperialistischen Bewegung unserer Zeit, die aus verschiedenen Gründen auf die genannte Variante der Geopolitik zurückgreifen.

Ursprünglich wurde der Begriff »Polarität« in den 1970er‐​Jahren in den Diskurs der Geopolitik, der Politikwissenschaft und der Internationalen Beziehungen eingeführt, als es darum ging, die Bedingungen des damals vorherrschenden bipolaren Systems des Kalten Krieges zu beschreiben und zu erklären.

Multipolarität als Begriff und Trend in der Geopolitik ist nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden. Er impliziert die Existenz (oder das Streben nach Entstehung und gleichzeitiger Vorherrschaft) mehrerer Pole/​Machtzentren in der Welt, die sich aus den stärksten Mächten/​Staaten zusammensetzen und nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt nicht an eine bestimmte Ausrichtung gebunden sind. Einigen »multipolaren« Erzählungen zufolge sollte keiner dieser »Machtpole« (militärisch, kulturell, politisch, wirtschaftlich et cetera) den anderen zahlenmäßig überlegen sein oder versuchen, seinen Einfluss auf die anderen auszuweiten. Seit 1989, dem Ende des Kalten Krieges, gibt es die bipolare Welt (USA und UdSSR) nicht mehr. Seitdem schwelgen viele »wohlmeinende« Journalisten in Meinungsartikeln über die »künftige gerechte Welt«, die irgendwie »multipolar, fair und gleichberechtigt« sein »sollte«, dem »Völkerrecht, der Moral und der Gleichheit verpflichtet« und eine für alle Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit und einen »fairen Wettbewerb auf dem Weltmarkt« fördern und jedem unabhängigen Land Raum für eine eigene Innen‐ und Außenpolitik lassen sollte und so weiter und so fort.

Damals war die Konfrontation durch den Antagonismus zwischen zwei rivalisierenden sozio‐​politischen und wirtschaftlichen Systemen, zwei Lagern, gekennzeichnet: dem Kapitalismus und den Ländern des frühen Sozialismus. Vor allem nach der vernichtenden Niederlage des Faschismus‐​Nazismus – mit der entscheidenden Rolle der UdSSR und der von den Kommunisten angeführten antifaschistischen Volksbefreiungsbewegungen – wurden auf globaler Ebene andere Arten von Machtverhältnissen geschaffen. Dies begünstigte die Entwicklung von antikolonialen, antiimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen auf allen Kontinenten, auf denen bis dahin die wichtigsten imperialistischen Länder ihre Eroberungen und Kolonien aufrechterhalten hatten. Zu dieser Zeit war es selbst für die unwissendsten Sozialwissenschaftler klar, dass es einen unversöhnlichen Konflikt zwischen zwei Polen (Lagern, Koalitionen) gab, zwischen »zwei Welten«, die von zwei Supermächten angeführt wurden: der ersten, angeführt von den USA, und der zweiten, angeführt von der UdSSR.

Dazwischen gab es auch einen ambivalenten und umstrittenen Raum, eine Vielzahl von Ländern, die damals wie heute oft als »Dritte‐​Welt‐​Länder« bezeichnet werden. Eines nach dem anderen erlangten diese Länder auf unterschiedliche Weise und auf verschiedenen Ebenen ihre Unabhängigkeit. Die Breite und Tiefe der sozioökonomischen und politischen Unabhängigkeit, die sie erlangten, ergab sich aus dem Klassencharakter der sozio‐​politischen und ideologischen Fronten, die diese antikolonialen, antiimperialistischen Bewegungen anführten, aus den Machtverhältnissen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene und aus der Wirksamkeit der internationalistischen Unterstützung aus dem Lager der frühsozialistischen Länder. Dies erklärt das Spektrum der vielfältigen sozioökonomischen Veränderungen und Reformen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in diesen Ländern zu beobachten waren.

Diese Veränderungen können nicht wissenschaftlich verstanden werden, ohne die theoretische und methodische Untersuchung der Position und Rolle, die die Existenz des Lagers der frühen sozialistischen Revolutionen und der aus ihnen hervorgegangenen Länder einnimmt. Sie müssen als historisch notwendige Zuspitzung des Grundwiderspruchs des globalen kapitalistischen Systems, als grundlegende Bedingung und Manifestation der allgemeinen Krise dieses Systems untersucht werden. Das bedeutet die Tatsache, dass das übergeordnete System/​die sozioökonomische Formation des Privateigentums (Kapitalismus) aufgrund der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit in Richtung Sozialismus und die kommunistische vereinigte Menschheit die Rechtfertigung ihrer historischen Existenz zu verlieren beginnt. Gerade die Manifestation revolutionärer Situationen, die sich zu siegreichen frühsozialistischen Revolutionen in den Ländern entwickeln, die die schwachen Glieder des kapitalistischen Weltsystems darstellen, schafft die Bedingungen für einen Aufschwung des historischen Optimismus und neue Arten von Befreiungsbewegungen in den Ländern, die der Überausbeutung durch die parasitären imperialistischen Länder ausgesetzt waren.

Der Widerspruch zwischen den Polen des imperialistischen Kerns und der Peripherie der Kolonien und Eroberungen dieses Kerns ist auch eine Manifestation des grundlegenden, fundamentalen Widerspruchs des globalen kapitalistischen Systems: des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.

Mit den von Lenin in seinem Werk Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus aufgestellten Untersuchungen wird deutlich, dass im Monopolstadium die Eskalation der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab vielfach vermittelte1 Mechanismen zur Abschöpfung des Mehrwertes im Weltmaßstab in Form von Monopolsuperprofiten schafft.

Gerade durch die Schaffung und Stärkung des Lagers des Frühsozialismus entsteht – auf der Ebene des Kräfteverhältnisses, aber auch auf der Ebene der Erkenntnis dieser Tatsache – eine andere Ebene der Kampffähigkeit für die Befreiung/​Emanzipation der Kolonien, wodurch der Spielraum für das räuberische Parasitentum in Form von Völkermord der imperialistischen Länder gegenüber den Kolonien und ihren Besitzungen, Halbkolonien, abhängigen, halbunabhängigen und formell unabhängigen Ländern schrumpft.

Auf diese Weise kommt es in der Monopolphase des Kapitalismus (Imperialismus) nach dem Zweiten Weltkrieg zu raschen Veränderungen des globalen Kräfteverhältnisses, die in direktem Zusammenhang mit den qualitativ unterschiedlichen Erscheinungsformen des wesentlichen Grundwiderspruchs des kapitalistischen Systems stehen:

  1. Der Dipol des Widerspruchs zwischen Kapital und Lohnarbeit, zwischen toter Arbeit der Vergangenheit (eingebettet in die materiellen Produktionsmittel) und lebendiger Arbeit der Gegenwart (die diese materiellen Mittel produktiv aktiviert).Dieser Grundwiderspruch manifestiert sich weiterhin, aber nicht mehr in eindeutiger Form, im Kontext jedes einzelnen Landes. Gerade die neue Art, die Zuspitzung des von Marx entdeckten Gesetzes der Kapitalakkumulation auf einer höheren Ebene, führt – wie Lenin auf dem Gebiet der Wissenschaft der politischen Ökonomie gezeigt hat – zum Monopolstadium. Darin offenbaren sich zwei zusätzliche, organisch miteinander verknüpfte widersprüchliche Dipole, die sich in einem radikal anderen Maßstab, als qualitativ und wesentlich differenziert, manifestieren:
  2. Kapitalismus – Frühsozialismus und
  3. imperialistisches Zentrum – koloniale/​neokoloniale Peripherie.Gerade der Triumph der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der nachfolgenden großen frühsozialistischen Revolutionen in Korea, China, Vietnam, Laos, Kambodscha, Kuba und anderen Ländern hat eine katalytische Wirkung auf die Entstehung dieses dritten Dipols, der in dem äußerst populären, aber ungenauen Begriff »Dritte Welt« zum Ausdruck kommt.Jeder dieser organisch miteinander verbundenen gegensätzlichen Dipole, und alle zusammen, bilden Bereiche, in denen sich die Kämpfe zwischen den Kräften des Fortschritts und des Rückschritts unterscheiden: Lohnarbeit und Kapital, Frühsozialismus und untergehender Imperialismus (Monopolkapitalismus), antiimperialistische/​antikolonialistische Bewegungen und Imperialismus/Neokolonialismus.Auf diese Weise wurde im 20. Jahrhundert eine neue Stufe der Internationalisierung des wirtschaftlichen, sozialen und ideologisch‐​politischen Lebens der Weltbevölkerung im globalen Maßstab eingeleitet. Das Weltsystem, die globale Arbeitsteilung und die jeweiligen Positionen und Rollen der Länder und Regionen der Welt artikulieren sich in ihrer weiteren Entwicklung durch die Zuspitzung dieser widersprüchlichen Bipolaritäten. Diese sind nicht statisch, sondern unterliegen der historischen Notwendigkeit des Gesetzes des globalen einheitlichen revolutionären Prozesses des Übergangs der Menschheit zum Sozialismus, der das Werden, der Prozess der Bildung des Kommunismus, der vereinigten Menschheit ist.Der Prozess dieses revolutionären Übergangs kann nicht auf eine nichthistorische, linear‐​mechanistische Weise verstanden werden. Es handelt sich um einen Prozess, der durch eine außerordentliche und zunehmende Komplexität und Vielfalt gekennzeichnet ist, die nicht nur auf die vielfach vermittelten Beziehungen zwischen dem grundlegenden Widerspruch des kapitalistischen Systems und seinen notwendigen abgeleiteten Erscheinungsformen im Imperialismus zurückzuführen ist. Sie sind auch mit der außerordentlichen Vielfalt der verbliebenen vorkapitalistischen Formen und Strukturen verbunden. Diese Überbleibsel – sofern sie nicht vollständig vom Kapitalismus transformiert wurden – fungieren als historisch notwendige und äußerst bequeme Formen der monopolistischen Überausbeutung des Imperialismus, der Erscheinungsformen und der historisch spezifischen Reproduktion der Ungleichheit. In dieser Eigenschaft sind sie organisch mit dem Gesetz des »schwachen Glieds« und damit mit dem äußerst widersprüchlichen Prozess des Aufstiegs und Niedergangs revolutionärer Bewegungen in der historischen Konfrontation zwischen den Kräften des revolutionären Fortschritts und der konterrevolutionären Reaktion/​Regression verwoben​.Im Gegensatz zu den reaktionären und irrationalen Selbsttäuschungen der Ideologen der Finanzoligarchie (die sich schnell in die Schreie der Bourgeoisie und das Wehklagen einiger schiffbrüchiger »Linker« über die Niederlage und den Verzicht auf die Idee der Revolution einreihten) läutete die vorübergehende Niederlage einiger früher sozialistischer Revolutionen (in der UdSSR und in den sozialistischen Ländern Europas) keineswegs die Totenglocke des »Endes der Geschichte«, die endgültige und unwiderrufliche Herrschaft der kapitalistischen Barbarei, die Annullierung des unvermeidlichen historischen Weges der Menschheit zum Kommunismus​.In der Tat hat die weltweite Arbeiter‐ und Revolutionsbewegung eine beispiellose strategische Niederlage erlitten. Die tragischen Folgen dieser Konterrevolution äußerten sich sogar in demografischen Verlusten, die einem Völkermord gleichkamen. Die Anhänger der Bewegung erlebten die Konterrevolution, ihre Folgen und ihre Auswirkungen auf tragische Weise, oft in Form von existenziellen Ängsten.Diese Niederlage war von strategischer Bedeutung und wurde von den Menschen der revolutionären Bewegung tragisch erlebt. In der Logik der Geschichte, im weltgeschichtlichen Maßstab, war es jedoch nur eine taktische Niederlage. Es gibt in der Geschichte keinen strategischen Gesamtsieg ohne einzelne taktische Niederlagen der endgültigen Sieger. Niederlagen, durch die sich das Lager der kommenden siegreichen Revolutionen auf allen Ebenen (theoretisch, praktisch, organisatorisch und so weiter) neu formiert, um die Kräfte der Konterrevolution schließlich endgültig und unwiderruflich zu besiegen.

    Die Tragödie dieser Niederlage negiert in keiner Weise die historische Notwendigkeit des globalen revolutionären Prozesses, die historische Legitimität des revolutionären Übergangs zu einer vereinten Menschheit. In der Zeit seit diesen Konterrevolutionen hat sich der historische Gesetzmäßigkeitsprozess durch die oben genannten und andere komplexere und vermittelte Widersprüche weiter zugespitzt. Unterirdische, fundamentale Prozesse setzten die Arbeit der zerstörerischen und schöpferischen Kräfte des historischen Werdens fort (sie sind für den gewöhnlichen, nicht in der dialektischen Wissenschaft geschulten Verstand unsichtbar, aber auch für seine Variante, die in metaphysischen, durch Dogmatismus und Revisionismus stereotypisierten, Schemata verhaftet bleibt).

    Die Sowjetunion und die europäischen Länder des Frühsozialismus wurden erneut in ein reifes Feld für räuberische Ausbeutung verwandelt und gewaltsam in das kapitalistische System zurückgeschleppt. Der Imperialismus versuchte mit ungezügeltem Revanchismus, sie seinem eigenen System der globalen Arbeits‑, Positions‐ und Rollenteilung unterzuordnen, was ihm zu einem beträchtlichen Teil auch gelang. Zu diesem Zweck wurden alle legitimen und illegitimen Mittel, alle betrügerischen und unmenschlichen Methoden der Durchsetzung, Manipulation und Unterwerfung eingesetzt.

    Dieser Prozess war gekennzeichnet durch die Rekolonisierung dieser Länder und Völker durch das imperialistische Lager unter Führung der USA und ihrer supranationalen Organe. Dieser Prozess der Rekolonisierung fand einen fruchtbaren Boden in einem historisch beispiellosen Prozess der primären Akkumulation von Kapital. Der bisher historisch bekannte Prozess der ursprünglichen Kapitalakkumulation vollzog sich in seiner klassischen Form als Prozess des historischen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, als Prozess der Abschaffung des Feudalismus und der feudalen Zunftbeziehungen der Gesellschaft durch die entstehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dieser Prozess wurde von der damals revolutionär aufstrebenden Bourgeoisie zusammen mit ihren Verbündeten, der entstehenden Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft der Kleinbauern und landlosen Bauern, die unter den Übeln der untergehenden Leibeigenschaft litten, vorangetrieben. Die aufeinanderfolgenden frühbürgerlichen Revolutionen wurden von feudalen Gegenrevolutionen und restaurativen Prozessen hinweggefegt, bis sich schließlich auf der Ebene des bürgerlichen Überbaus das (in der Wirtschaft längst dominierende) kapitalistische System etablierte. Dies geschah mit den spätbürgerlichen und bürgerlich‐​demokratischen Revolutionen in einem Prozess, der sich in den großen europäischen Ländern über mehr als fünf Jahrhunderte hinzog.

    Die beispiellose historische Form der ursprünglichen Kapitalakkumulation im Gegenteil, die von neuem begann, wurde von der neu entstandenen parasitären Bourgeoisie in Russland und den anderen Ländern des postsowjetischen Raums angeführt. Diese teilweise unvollständige Akkumulation fand unter den Bedingungen der globalen Vorherrschaft des Spätimperialismus statt.

    Entscheidend für das Verständnis des historischen Kontextes der entstehenden Narrative der Multipolarität sind die tektonischen Machtverschiebungen, die durch den Entwicklungsprozess der frühsozialistischen Länder, die den sozialistischen Aufbau fortsetzen, gekennzeichnet sind, wobei die historisch beispiellos schnelle Entwicklung der Volksrepublik China eine herausragende Rolle spielt.

Geopolitische Doktrinen zur »Multipolarität«

Nach dem Sieg der bürgerlichen Konterrevolution, der Auflösung der Sowjetunion und der Durchsetzung reaktionärer Prozesse zur Demontage des kohärenten Rahmens der sozialistischen Planwirtschaft während der kapitalistischen Restauration in den Ländern, die aus der Auflösung der UdSSR hervorgingen, und insgesamt in den Ländern des Frühsozialismus in Europa haben verschiedene Formen des öffentlichen geopolitischen/​geostrategischen Diskurses unter den ideologischen Bestandteilen der herrschenden Klasse verschiedener Länder neuen Auftrieb erhalten.

Besonders hervorzuheben ist die Übernahme und Anwendung der geopolitischen Ansichten der »Multipolarität« in Russland nach der bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR. Die historische Besonderheit der von der neu entstehenden Bourgeoisie in Russland vertretenen Ideologien ist organisch mit der historischen Besonderheit ihrer Entstehung und Formierung verbunden: von den Strukturen der Schattenwirtschaft, die von den Schwächen der zentralen Planung der UdSSR im Bereich der Zirkulation schmarotzte, bis zur Aneignung von immer tieferen Positionen und Rollen in Wirtschaft und Gesellschaft, proportional zur Eskalation der bürgerlichen Konterrevolution und der kapitalistischen Restauration. Sie bereicherten sich buchstäblich, indem sie über Leichen gingen, durch die räuberische Privatisierung des Reichtums und der Infrastruktur, die von Generationen von Sowjetbürgern mit ihrem Schweiß und Blut geschaffen und verteidigt wurden.

Das erklärt ihren zwiespältigen Charakter. Seit Jahrzehnten betteln sie bei den imperialistischen Mächten um einen Anteil und eine Rolle in der Weltwirtschaft. Sie wurden herumgeschubst und ihnen wurden von allen Seiten die Türen vor der Nase zugeschlagen. Der Weltimperialismus war nicht erfreut über die Niederlage und die Auflösung des Frühsozialismus in der UdSSR und in Europa, um an seiner Stelle selbst Kleinstkapitalisten mit Ambitionen und Ehrgeiz zu haben. Er war und ist bestrebt die totale Kolonisierung der postsowjetischen Formationen durch weitere Zersplitterung zu erhalten und präventiv jede Konkurrenz auszuschalten, indem er sie zu anfälligen und unterwürfigen Quellen von Rohstoffen, Energie und billiger Arbeitskraft macht. Für dieses Ziel reicht eine schleimige, unterwürfige Kompradorenbourgeoisie (vom Typ lateinamerikanischer Bananenrepubliken wie der des verstorbenen Jelzin) mehr als aus. Was immer diese Bourgeoisie an Unabhängigkeit und Autonomie besaß, rührt von der ständigen Prügelstrafe und Demütigung auf internationaler Ebene her, von der Tatsache, dass Russland noch nicht aufgelöst ist, und – vor allem – von dem mächtigen Arsenal, das sie von der UdSSR geerbt hat.

Das heutige Russland ist keineswegs die UdSSR und sollte nicht mit ihr gleichgesetzt werden. Doch selbst das gegenwärtige konterrevolutionäre Russland mit den antisowjetischen/​antikommunistischen Exzessen seiner Führung muss seine Handlungen mit Verweisen auf den glorreichen antifaschistischen Sieg der UdSSR, den »Antinazismus« und dergleichen bemänteln, denn es verdankt seine Macht den Errungenschaften und dem Erbe der Oktoberrevolution und dem Aufbau des Sozialismus.

Der sowjetische und später russische Spion, Politologe, Diplomat und Politiker Jewgeni Primakow (1929 – 2015)2 war der Vordenker der Außenpolitik und Diplomatie der Russischen Föderation, die auf der Doktrin einer russischen Variante der »Multipolarität« basiert, deren operative/​militärische Version heute als »Gerassimow‐​Doktrin« (nach dem russischen Generalstabschef General Waleri Gerassimow) bekannt ist:

  • Streben nach einer »multipolaren Welt«, die von einer Gruppe unabhängiger mächtiger Staaten regiert wird, die ein Gegengewicht zur unipolaren Macht der USA bilden können.
  • Bestreben, die Kontrolle über den postsowjetischen Raum wiederzuerlangen und dort die Rolle eines Pols des Zusammenwachsens und der Integration der Länder zu spielen, die es beeinflusst und inspiriert.
  • Hervorhebung und Stärkung der geopolitischen »eurasischen Rolle« Russlands in Zentralasien und darüber hinaus.
  • In diesem Zusammenhang ist es notwendig, enge Bündnisbeziehungen mit asiatischen Ländern (insbesondere China, Indien, Iran usw.) zu knüpfen, die eine Schwächung der euro‐​atlantischen Wirtschafts‐ und Währungsdominanz in der Weltwirtschaft und der internationalen Arbeitsteilung bewirken und die Tendenzen des Zusammenwachsens innerhalb der EU stärken können.
  • Es ist von entscheidender Bedeutung, eine weitere Expansion und Stärkung der NATO in ihrer Peripherie zu verhindern, indem militärisch‐​technische oder sogar militärisch‐​operative Maßnahmen der Machtprojektion und Abschreckung aktiviert werden.

Es gibt zwei Versionen oder Aspekte von Narrativen über »Multipolarität«:

  1. Die erste ist bestätigender Art und weist auf die Situation hin, in der es keinen einzelnen dominanten Pol oder zwei von ihnen mit unbestrittener Macht gibt, sondern eine Situation der Unsicherheit, in der einige bestehende oder sogar potenziell aufstrebende Pole – Machtzentren – nebeneinander bestehen, konkurrieren oder kooperieren.
  2. Die zweite ist ethischer und/​oder praktisch‐​politischer Natur: »Multipolarität« als wünschenswerter Idealzustand oder gar als »Strategie«.Die erste Version (mit bestätigendem Charakter) enthält meiner Meinung nach den rationalen Kern dieser Argumentation: Sie stellt fest, erfasst einige Momente eines laufenden Prozesses, auch wenn sie dies auf statische, fragmentierte und unzusammenhängende Weise tut, ohne wissenschaftlich zu untersuchen, wo, warum und wie dieser Prozess zustande gekommen ist, und ohne eine wissenschaftliche Vorhersage machen zu können, wohin diese Situation führen wird.Zunächst einmal müssen wir darauf hinweisen, dass kein komplexer Entwicklungsprozess in Form eines stabilen Zustands, als eine Art statische »Multipolarität«, existiert. Dies gilt insbesondere für die Gesellschaft als das komplexeste System, das ein organisches Ganzes darstellt.Jedes organische Ganze – egal wie multifaktoriell der Kontext der vorangegangenen oder auch gegenwärtigen Realität ist, in und aus dem es hervorgeht – kann zwar verschiedene Tendenzen und dynamische Richtungen der Weiterentwicklung beinhalten. Im Verlauf des Entwicklungsprozesses selbst konvergieren diese verschiedenen Tendenzen jedoch, bis sie als Komponenten eines grundlegenden antithetischen Dipols polarisiert sind, der seine Entwicklung hervorbringt, als bewegender und treibender Widerspruch, der die gesetzmäßige Grundlage seiner Selbstentwicklung darstellt. Dies ist der Grundwiderspruch des Systems, aus dem alle weiteren abgeleiteten Widersprüche hervorgehen​.Im Prozess der wissenschaftlichen Forschung und der dialektischen Rekonstitution in der Erkenntnis der Struktur und der Geschichte der Gesellschaft als ein sich entwickelndes (organisches) Ganzes kann daher jede partielle Existenz einer sich bildenden Vielfalt von Polen und Widersprüchen nur ein historisches Moment der frühen Stadien der Bildung eines neuen Ganzen mit seinem eigenen wesentlichen Widerspruch darstellen.Daher sind beide Versionen der oben erwähnten »multipolaren« Narrative höchst unwissenschaftlich, begrenzt, statisch und restriktiv. Sowohl der Ansatz, der die »Multipolarität« bestätigend als gegebenen und unveränderlichen Zustand betrachtet als auch der, der sie als ideale und unüberschreitbare Zukunftsperspektive wahrnimmt, als Imperativ, auf den der Entwicklungsprozess ausgerichtet werden muss, als … »strategisches Ziel der antiimperialistischen Bewegung«.Wenn es also einen rationalen Kern in der Vielzahl der Ansichten zur Multipolarität gibt, so reduziert sich dieser bestenfalls auf die statische Bestätigung, die auf die Existenz verschiedener Pole in einem bestimmten Stadium ihres Entwicklungsprozesses hinweist.Wird die Multipolarität als moralisch‐​politisches und ethisches Prinzip, als eine Art Ideal oder – noch schlimmer – als eine Art Strategie angesehen, deren Verfolgung als grundlegendes strategisches Ziel einer antiimperialistischen Bewegung behauptet wird, so ist es sicher, dass ein derartiges, extrem kurzsichtiges, vages und desorientierendes Ziel letztlich katastrophale Folgen für die Bewegung haben wird. In jedem Fall sind die Multipolaritäts‐​Narrative, so »realistisch« sie manchen auch erscheinen mögen, höchst unhistorisch, undialektisch und damit unwissenschaftlich und unbegründet.

    Sicherlich können bestimmte Versionen einer wünschenswerten »Multipolarität« in dem von den Institutionen der Außenpolitik und Diplomatie geführten Diskurs eine gewisse Resonanz und Funktionalität haben. Für diejenigen, die eine Welt ohne Unipolarität, ohne Vorherrschaft und Beherrschung auf globaler Ebene durch eine Koalition des Zwangs unter der Führung der Vereinigten Staaten als »einzige Supermacht, die Ansprüche erhebt«, propagieren, hat die Funktionalität dieses Narrativs eine gewisse Bedeutung, eine taktische Bedeutung. Diese Bedeutung könnte in Slogans zum Ausdruck gebracht werden wie etwa: »Nieder mit der imperialistischen Aggression der US‐​geführten Achse!«

    In jedem Fall aber deutet das Beharren auf »Multipolarität« als strategischem Horizont auf eine Tendenz und Haltung hin, in der der oder die schwächeren Pole, die »Betrogenen« im gegenwärtigen Kräfteverhältnis, für sich eine bessere Position in der zukünftigen Gesellschaftsordnung beanspruchen oder sogar darum betteln, in Kooperation mit anderen schwächeren und »betrogenen« Gleichen. Wenn also der Diskurs der Multipolarität in diesem Zusammenhang artikuliert wird, handelt es sich um einen eher kurzsichtigen und oberflächlichen Versuch, taktische Ziele ideologisch zu formulieren, die keinesfalls eine strategische Perspektive einer antiimperialistischen Bewegung mit revolutionärem Antrieb und Ziel darstellen können.

    Dies bezieht sich eindeutig auf die Multipolaritätsvorstellungen und die Rhetorik des offiziellen politischen und propagandistischen Diskurses der neu gebildeten derzeitigen herrschenden Klasse in Russland.

    Dabei beziehe ich mich nicht einmal auf jene Schattierungen von »Multipolaritäts«-Ideologien, die organisch und offen nicht nur mit Versionen von Mystizismus, Obskurantismus, Regression und Reaktion, sondern auch mit Versionen faschistischer Praktiken und Ideologien verbunden sind. Bezeichnend sind die Fälle, in denen die Bildung von geopolitisch bedeutsamen Zentren/​Polen angestrebt wird, die auf reaktionären Tendenzen beruhen, die eher mit Verschwörungstheorien verwandt sind, wie beispielsweise »Antiglobalismus«, »konservative Werte«, kirchliche und theologische Strukturen der Orthodoxie, Panslawismus3, Pan‐​Turkismus, jede nationalistische »große Idee« und so weiter. Das Streben nach der Errichtung eines Pols dieser »Multipolarität« auf der Grundlage der »national‐​russischen Exklusivität«, der »russischen Idee«, einer metaphysischen »besonderen Mission des russischen Volkes«, der »russischen Welt« – und das in einem hochgradig multinationalen Staat wie der heutigen Russischen Föderation – bezeichnet eine nationalistische und chauvinistische Position. Der russische Nationalismus kann in einem Geist des Konservatismus und der Reaktion, der die nationale Spaltung nährt, nicht als Gegenpol zur russophoben Hysterie des Imperialismus hingestellt werden.

    Versionen des »Multipolaritäts«-Diskurses finden sich auch in Erklärungen mit Verfassungscharakter, in offiziellen Texten internationaler Organisationen wie BRICS, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) und anderen alternativen Koalitionen im aktuellen historischen Kontext.

    Eine ähnliche Rhetorik wird häufig in Bezug auf die Außenpolitik der Volksrepublik China geäußert, in voller Übereinstimmung mit dem Modell der Außenwirtschaftspolitik, das dieses frühsozialistische Land auf internationaler Ebene verfolgt. In all diesen Fällen müssen wir die Besonderheiten der internationalen Politik und der diplomatischen Sprache der verschiedenen Länder berücksichtigen, die nicht direkt mit der präzisen wissenschaftlichen und ideologischen Ausrüstung der antiimperialistischen revolutionären Bewegung verwechselt werden dürfen.

Ethische und moralische Aspekte von »Multipolarität«

Hat »Multipolarität« etwas mit Gerechtigkeit zu tun?

Gerechtigkeit ist ein Konzept, das Aspekte der Ethik, der Politik und des Rechts berührt. Die Begriffe »gut« und »böse« liegen auf einer höheren Verallgemeinerungs‐ und Abstraktionsebene und ermöglichen die Formulierung moralischer Urteile über bestimmte moralische Phänomene als Ganzes. Im Gegensatz zu den Begriffen von Gut und Böse, die bestimmte Phänomene (Einstellungen, Verhaltensweisen, Handlungen, Aktionen, Schritte, Initiativen, Unterlassungen, Untätigkeit und so weiter) moralisch charakterisieren, charakterisiert die Gerechtigkeit insbesondere die Wechselbeziehung zwischen bestimmten Phänomenen oder sogar die Gesamtbeurteilung des Zustands der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt im Hinblick auf die Wechselbeziehung und Verteilung von Gut und Böse in den zwischenmenschlichen Beziehungen. In diesem Sinne bewerten Menschen mit Hilfe der Begriffe »Gerechtigkeit« und »Ungerechtigkeit« die Gesamtheit der sozialen Bedingungen ihrer Existenz und bilden sich ein Urteil darüber, ob es notwendig und wünschenswert ist, diese Bedingungen beizubehalten oder zu verändern.

Unter dem Prisma der Gerechtigkeit wird die Art und Weise der Verteilung von knappen Gütern unter den Menschen untersucht ( zum Beispiel ein quantitativ und qualitativ optimaler Zugang zu materiellen Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung in erster Linie biologischer Bedürfnisse, ein optimaler Zugang zu kreativen Tätigkeiten, die zur Entwicklung des Einzelnen und zum Erwerb von Kultur führen). Es geht also um die Art und Weise, wie Menschen zueinander in Beziehung stehen, vermittelt durch den Zugang zu begehrten und umkämpften Gütern oder nicht. Es geht auch um die globale Dimension der Wirtschaft und der zwischenstaatlichen Beziehungen, um die Beziehungen der Ausbeutung, der Herrschaft und der Unterordnung auf planetarischer Ebene.

Unter diesem Gesichtspunkt herrscht, solange dieser Zugang ungleich ist, das heißt, solange die Existenz der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen historische Notwendigkeit ist, Ungerechtigkeit und die Aussicht auf die Beseitigung dieser Ausbeutung zeichnet sich als Aussicht auf Gerechtigkeit ab. Die objektiven und sich historisch herausbildenden und heranreifenden Bedingungen dieser Aussicht realisieren sich in entsprechenden Gerechtigkeitsvorstellungen.

Letztere sind in dem Maße gespalten, wie die materiellen Interessen von Individuen, Gruppen (Klassen), Ländern, Ländergruppen, der Gesellschaft und der gesamten Menschheit sich spalten, unterscheiden und aufeinanderprallen. Während die jeweilige herrschende Vorstellung von Gerechtigkeit auf der Ebene der Alltagspraxis innerhalb der herrschenden Verhältnisse gefestigt und verinnerlicht wird. Im Allgemeinen wird sie aber auch von den Institutionen der herrschenden materiellen Interessen als eine pseudo‐​generische Gerechtigkeit auferlegt, die angeblich die gesamte Gesellschaft zum Ausdruck bringt (durch Gesetze, Institutionen, et cetera), aber auch durch die Berufung auf »nationale Interessen«, internationale und/​oder »universelle«, »demokratische«, »antiautoritäre« Prinzipien, Werte, Institutionen und so weiter).

Diese Wahrnehmungen ändern sich historisch und regional. In der Antike beispielsweise wurde die Sklaverei als natürlicher Zustand der Sklaven (nach Aristoteles »sprechende Werkzeuge«) angesehen, während Feudalismus und Leibeigenschaft in ihrem Niedergang vom aufstrebenden Bürgertum als ungerechter und unwürdiger Anachronismus betrachtet wurden, der es verdiente, überwunden zu werden.

Bis vor kurzem galt die neokolonialistische Superausbeutung von Völkern durch den Imperialismus als »unüberwindbare Normalität«. Mit der Eskalation des Dritten Weltkriegs beginnen jedoch die antiimperialistischen/​neokolonialistischen Gefühle von hunderten Millionen von Menschen auf der Welt als Forderung nach Gerechtigkeit und Würde in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu brodeln.

Im letztgenannten Fall haben wir es mit eindeutigen Symptomen zu tun, die auf massenhafter wie auf der Ebene des Alltagsbewusstseins den moralischen Verfall und den Bankrott historisch überholter wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen und Institutionen, aber auch die sich radikal verändernden Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen.

Sofern revolutionäre Marxisten‐​Leninisten nicht in abstraktem Moralismus und willkürlichen deontologischen Konstruktionen aus sicherer Entfernung schwelgen wollen, beschränken sie sich jedoch weder auf philosophische Umformulierungen der Erfahrungen, die die oben genannten Symptome in den Subjekten des Alltagsbewusstseins hervorrufen, noch auf Schemata jenseits des geschichtlichen Ortes und der Zeit, als wären sie zeitlose unveränderliche »Prinzipien und Werte«. Abstrakte Ideen, verstanden als unhistorische Selbstgerechtigkeit, und Gerechtigkeitsgefühle können die theoretische (philosophische und interdisziplinäre) Untersuchung der tatsächlichen Möglichkeiten und der gesetzmäßigen Notwendigkeit eines Auswegs aus den sozialen Sackgassen, die von den Menschen als Bedingungen der Ungerechtigkeit auf lokaler, nationaler und globaler Ebene erlebt werden, nicht ersetzen. Sie können kein Ersatz für den Kampf um die taktischen und strategischen Ziele der realen revolutionären Bewegung sein.

Die bürgerliche Vorstellung von Gerechtigkeit ist mit formaler Gleichheit (Egalitarismus) und Naturrechtstheorien verbunden. In den bürgerlichen »neoliberalen« Ideologien der »unverfälschten Leistungsgesellschaft« und in den Praktiken der postmodernen Identitäts‐ und Rechtspolitik manifestiert sich heute die völlige Degeneration der Forderungen des aufstrebenden Bürgertums nach Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Die heute vorherrschende neoliberale Revision der bürgerlichen Werte manifestiert sich in einem so extremen sozialen Minimalismus, dass sie nicht nur auf die Perspektive der sozialen Revolution, des Antiimperialismus und jeglicher radikaler Forderungen der Arbeiterklasse und des Volkes verzichtet, sondern auch auf jede positive Definition des Kampfes gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung, auf jede positive Plattform, auf Mittel und Wege, Forderungen zu stellen, auf jede konkrete Verknüpfung von revolutionärer Taktik und Strategie. Sie beschränkt sich auf eine negative Kritik der Bedingungen, die zur Verfestigung der heute unbestrittenen Ungleichheit und Unterdrückung geführt haben. Oder aber auf die Bedingungen ihrer Reformierung, um einen Konsens mit den strategischen Entscheidungen der Finanzoligarchie sicherzustellen. Der moderne Opportunismus und Revisionismus funktionieren auf ähnliche Weise.

Einige praktische Schlussfolgerungen zur ideologischen Intervention und Propaganda in der antiimperialistischen Bewegung

Wenn die »Multipolarität« als Ideal, als Erwartung einer gerechteren Welt oder jedenfalls als Rahmen für gerechtere internationale Beziehungen propagiert wird, dann ist sie mit deontologischem Denken und einem bestimmten moralischen Ideal verbunden, mit einigen Vorstellungen von Gerechtigkeit, die auf einem bestimmten Rechtsempfinden beruhen.

In dieser Hinsicht sind Personen und Personengruppen, die beginnen, Ungerechtigkeit auf einer primitiven Ebene zu verstehen, sogar in Begriffen, die den »multipolaren« Erzählungen entlehnt sind, in der Bewegung willkommen.

Es gibt jedoch keinen Grund, diese statische, begrenzte und einschränkende Ebene des Bewusstseins in ihrer jetzigen Form beizubehalten und zu reproduzieren. Und es gibt auch keinen Grund, sie als zentrales Anliegen und Ziel der Bewegung zu propagieren.

Jede Wahrnehmung der Menschen, die auch nur ansatzweise, wenn auch statisch, das Unrechtsempfinden des herrschenden Regimes des Imperialismus widerspiegelt, das jetzt die Menschheit bedroht, kann eine gewisse Grundlage, ein Ausgangspunkt für ihren Zusammenschluss in unserem frontalen antiimperialistischen Kampf sein. Aber das ist nicht genug. Es bedarf der katalytischen Intervention von Kommunisten, die mit wissenschaftlicher revolutionärer Theorie bewaffnet sind, um eine weitere Radikalisierung der Wahrnehmungen und Neigungen dieser Menschen zu erreichen.

In jedem Fall ist dieses Gerechtigkeitsempfinden organisch mit der Position und der Situation einiger verbunden, die sich in der internationalen Arbeitsteilung, den Positionen und Rollen, in der globalen Hierarchie der Länder und Regionen benachteiligt oder sogar »betrogen« fühlen. In diesem Sinne ist die Rhetorik der »Multipolarität« selbst als Rahmen des Protests, der dieses Rechtsempfinden zum Ausdruck bringt, äußerst oberflächlich und pessimistisch, wenn sie jemals zu einem Bezugsrahmen zur Inspiration einer antiimperialistischen Bewegung mit einer bestimmten Perspektive werden soll. In ihren Erzählungen nimmt diese Rhetorik standardmäßig die Bedingungen und Grenzen des Zustands einer bestimmten Art von internationalen Übergangsbeziehungen auf dem Planeten als gegeben hin. Sie bewegt sich per definitionem im Bereich der Heterodefinition, einer negativen Identifikation mit der alten Welt, mit der untergehenden und schwindenden imperialistischen Unipolarität unter der Führung und Hegemonie der Vereinigten Staaten.

Die Rhetorik der »Multipolarität« lenkt von der Erkenntnis des Charakters des Krieges und der zwingenden Notwendigkeit eines militanten Antiimperialismus ab und fängt das Bewusstsein in den Ideologien der bürgerlichen Pseudowissenschaft der Geopolitikim Kielwasser der Kapitalistenklasse bestimmter Länder. Daher stellt sie kein positives perspektivisches Projekt dar, das als strategisch ausgerichtetes Ziel eine antiimperialistische Massenbewegung in eine revolutionäre Richtung lenken könnte.

In dem Maße, wie die geotektonischen Machtverschiebungen und Kriege anhalten, wird sich diese Fluidität in der Existenz verschiedener Anziehungs‐​/​Abstoßungsbewegungen von Polen und Zentren widerspiegeln. Daher werden auch die Ansichten zur »Multipolarität« in verschiedenen Formen reproduziert werden. Dies wird so lange geschehen, bis – durch die Konflikte und das revolutionäre Potential, das sie hervorbringen – die neue Übergangskristallisation des globalen Grundwiderspruchs mit seinen abgeleiteten wesentlichen Erscheinungsformen in einem neuen Stadium, in einem neuen widersprüchlichen Dipol deutlicher hervortritt. Dabei werden die Kräfte des sozialistischen Pols und seiner antiimperialistischen Verbündeten in der Breite und Tiefe (extensiv und intensiv) gestärkt, für den Fall, dass er aus dem Konflikt siegreich hervorgeht.

Dieser Konflikt des Dritten Weltkriegs, der aus radikalen qualitativen und grundlegenden Veränderungen der Inhalte, Formen und handelnden Subjekte resultiert, die an der Lösung des Kerns der Widersprüche der Zeit und der Umstände beteiligt sind, wirkt seinerseits katalytisch auf all diese Variablen ein und beschleunigt, erweitert und vertieft die Transformationen und Projektionen der beteiligten Subjekte.

Das rasche Wiederaufleben einer neuen, noch nie dagewesenen Welle des Antiimperialismus, die nun in der Lage ist, das Potenzial der Superausbeutung der Mehrheit der Weltbevölkerung durch die imperialistischen Mächte (durch die Abschöpfung des enormen Mehrwerts, durch verschiedene und vielfach vermittelte Mechanismen der neokolonialen Superausbeutung durch die Ausbeutung von Monopol‐​Superprofiten) dynamisch und drastisch zunichte zu machen, wird auch durch neue Bündnisse, Koalitionen und Integrationen eines alternativen Typs deutlich aufgewertet. Allein die rasante Expansion der BRICS auf ihrem jüngsten 15. Gipfel in Südafrika ist ein Indiz für die quantitativen Veränderungen, die nun qualitativ und wesentlich werden. Es handelt sich nicht mehr um eine numerische Anhäufung von Ländern, Bevölkerungen, Größen, wirtschaftlichen und militärischen Mächten, sondern um einen qualitativen und substanziellen Sprung in der Bildung eines neuen Polzentrums, das heißt eines neuen Subjekts im Entstehen, das eine entscheidende Rolle im globalen Entwicklungsprozess spielt.

Diese Tendenzen sind äußerst ermutigend. Die revolutionäre Bewegung hat jedoch keinen Platz für grundlosen Überoptimismus und Selbstgefälligkeit, während die Konflikte auf Leben und Tod eskalieren.

Die Geschichte des frühen Sozialismus und des Antiimperialismus des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass die Lebensfähigkeit des revolutionären Lagers direkt von der Wechselbeziehung zwischen revolutionären und konterrevolutionären Kräften im globalen revolutionären Prozess abhängt.

In diesem Zusammenhang sind die Rolle des Lagers der sozialistischen Länder, das Ausmaß und die Tiefe der Konsolidierung der sozialistischen Transformationen in ihnen und der Grad ihrer Konstitution als kollektives historisches Subjekt katalytisch und entscheidend.

Der Grad ihrer Konstitution als kollektives historisches Subjekt ist wiederum eine Funktion des Grades der wirtschaftlichen Integration und der Internationalisierung der sozialistischen Produktionsverhältnisse, des Grades der kollektiven Unterordnung ihrer Gesellschaften unter die wissenschaftliche Planung und damit ihrer monolithischen Einheit angesichts der verbleibenden tödlichen Kräfte des schrumpfenden Imperialismus.

Die historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass das Lager des Frühsozialismus dem imperialistischen Lager sowohl hinsichtlich seiner Kräfte als auch hinsichtlich des Grades der Integration der sozialistischen Volkswirtschaften und Gesellschaften im Vergleich zum Imperialismus deutlich unterlegen war. Leider spielte die »Multipolarität« innerhalb des sozialistischen Lagers (mit störenden Tendenzen, die bis zu kriegerischen Konflikten zwischen den Bündnissen reichten, und sogar mit Elementen nationalistischer Geopolitik) eine unterminierende und zersetzende Rolle, die zur Diskreditierung des Sozialismus und zu den bekannten Phänomenen der Gegenrevolutionen am Ende des 20. Jahrhunderts beitrug.

Nur mit einer qualitativen und substanziellen Aufwertung (einer radikalen Verbreiterung und Vertiefung) des sozialistischen Lagers als führendem Pol wird die Aufwertung des antiimperialistischen Lagers erreicht. Dessen Zugkraft wird die weltgeschichtliche Tendenz der »nicht‐​kapitalistischen Entwicklungsweise« mit einer klaren sozialistischen Ausrichtung für die Länder stärken, die die Fesseln der imperialistischen neokolonialen Abhängigkeit sprengen.

Auf diese Weise wird durch den siegreichen militärischen oder friedlichen Vormarsch des revolutionären Pols (sozialistisch und antiimperialistisch) der Prozess der frühen sozialistischen Revolutionen vollendet und revolutionäre Prozesse werden auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern, in den Zentren des Imperialismus, in Gang gesetzt, da die Finanzoligarchie, nachdem sie ihre Quellen des Parasitentums verloren hat, nicht mehr in der Lage sein wird, die Ressourcen der monopolistischen Superprofite zu nutzen, um die Arbeiterklasse in ihren Herkunftsländern zu manipulieren (durch Bestechung, Täuschung, Spaltungen und rohe Gewalt).

Dann wird der Sozialismus beginnen, sich auf seiner eigenen (wissenschaftlich‐​technischen, produktiven und kulturellen) Grundlage zu entwickeln (indem er die kapitalistischen und vorkapitalistischen Überreste aufhebt, frei von Sabotage und Einmischung von außen) und sich schnell in Richtung Kommunismus, in Richtung Reife der Gesellschaft, in Richtung einer vereinigten Menschheit bewegen.

Dann wird die Zeit für die reifen und späten sozialistischen Revolutionen kommen. Mit deren Sieg wird der Grund für jede Spur von »multipolaren« Phasen und Vorstellungen verschwunden sein, da der Kapitalismus und alle Ausbeutungsverhältnisse von der historischen Bühne getilgt sein werden.

Kein ideologisches Konstrukt der »Multipolarität« ist auch nur in der Lage, die Komplexität dieser Dialektik von strategischen und taktischen Zielen auf eine rationale wissenschaftliche Basis zu stellen.

Diese Aufgaben erfordern einen bewussten Kampf für die qualitative und wesentliche theoretische, praktische und organisatorische Aufwertung der antiimperialistischen und kommunistischen revolutionären Weltbewegung, was die strategische Bedeutung der Erreichung der Ziele der World Anti‐​Imperialist Platform bestätigt.

Anmerkungen

1 Mehrfache Vermittlung bezeichnet in der dialektischen Logik und Methodik der wissenschaftlichen Forschung die Art von Verbindungen, Beziehungen und Interaktionen, die die widersprüchliche Komplexität eines Systems kennzeichnen, das ein organisches Ganzes bildet. Es handelt sich dabei um nichtlineare, komplexe, vielschichtige, widersprüchliche, verdeckte, an der Oberfläche nicht direkt sichtbare Zusammenhänge, deren Untersuchung eine systematische wissenschaftliche Forschung erfordert. Zum Beispiel ist für manche die bloße Tatsache der Existenz formal unabhängiger Staaten in Afrika ein Beweis dafür, dass es keine imperialistische Abhängigkeit, Überausbeutung oder ähnliches gibt. Dabei werden die tiefgreifenden und vielfach vermittelten Mechanismen der Mehrwertgewinnung in Form von Monopolsuperprofiten, ungleichem Austausch, Über‐ und Unterbewertung, Kreditverträgen, Währungsmanipulationen, Regierungsübernahmen, Erpressung, Regimewechsel, Rüstungsprogrammen, ausländischen Stützpunkten, militärischen Interventionen ignoriert, die für den Neokolonialismus typisch sind.

2 Primakow ist ideologisch und politisch in der rechten Sozialdemokratie verortet. Er strebte für Russland eine Version des Kapitalismus mit staatlich‐​monopolistischer Regulierung nach keynesianischem Vorbild an. Seine Popularität stieg sprunghaft an, als er als Ministerpräsident der Russischen Föderation auf dem Weg zu einem offiziellen Besuch in den Vereinigten Staaten 1999, als er von den Bombenangriffen der USA und der NATO auf Jugoslawien erfuhr, den Piloten seines Flugzeugs anwies, über dem Atlantik eine 180‐​Grad‐​Wendung einzuleiten und nach Moskau zurückzukehren. Es war ein feiger, symbolischer Akt der Würde gegenüber der US‐​Führung. Eine Führung, die in ihrer ungezügelten Arroganz die völlige nationale Demütigung, die internationale Verunglimpfung des konterrevolutionären Russlands auch auf symbolischer Ebene inszeniert hatte: mit der medialen Berichterstattung über die offizielle Anwesenheit des russischen Ministerpräsidenten neben der Berichterstattung über die Bombardierung des für das russische Volk brüderlichen Jugoslawien! Natürlich wäre es von viel größerem Wert gewesen – und zwar nicht nur symbolisch, sondern vor allem praktisch -, wenn Herr Primakow dem damaligen weißrussischen Präsidenten Lukaschenko erlaubt hätte, einige S‑300 Flugabwehrraketenbatterien an das heldenhafte Jugoslawien zu liefern, wodurch ein Angriff der Westmächte auf das Land praktisch verhindert worden wäre. Die damalige russische Führung war jedoch weit davon entfernt, eine würdige Verteidigungspolitik zu betreiben, selbst auf dieser Ebene.

3 Eine Internetsuche nach dem Wort »Multipolarität« führt in der Regel zu dem berüchtigten irrationalen »Philosophen« Aleksandr Dugin. Offensichtlich haben wir es mit einem aggressiven Marketing zu tun, das diese Version eklektizistischer Überzeugungen mit faschistischem Anstrich übermäßig anpreist. In ihrem Zentrum stehen ein konsequenter Antisowjetismus/​Antikommunismus, die Wiederbelebung reaktionärer Lehren der Slawophilen des 18. bis 19. Jahrhunderts, eine primitive Version des russischen Nationalismus, ein Mystizismus der Orthodoxie und die Projektion Russlands als Träger einer metaphysischen Mission des »Eurasianismus«. Die Verbindungen dieser Kreise zur terroristischen Nazi‐​Organisation »Goldene Morgenröte« in Griechenland und zu einer Vielzahl von rechtsextremen, nationalistischen und faschistischen Gruppen aus der Türkei und vielen anderen Ländern sind alles andere als zufällig. Solange einige Leute ihren »Antiimperialismus« und ihre Bereitschaft zur »Unabhängigkeit« auf bürgerliche geopolitische Narrative der »Multipolarität« stützen, auf die Wiederauferstehung des obskurantistischen »eurasischen« Mystizismus des neunzehnten Jahrhunderts und »philosophische Tiefe« in den irrationalen faschistischen Hirngespinsten wie denen von Dugin suchen, ebnen sie praktisch den Weg zum Faschismus!

Dimitrios Patelis ist Philosophieprofessor an der Technischen Universität Kreta und Mitglied des Kollektivs für die Revolutionäre Vereinigung der Menscheit aus Griechenland, das die World Anti‐​Imperialist Platform unterstützt, auf deren Website dieser Beitrag in englisch erschien.

Bild: Dimitrios Patelis, zweiter von rechts, auf einer Demonstration der World Anti‐​Imperialist Platform in Südkorea (Telegram)

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