Die SPD wird gerade öffentlich weich gekocht, was die Lieferung von deutschen Taurus‐Marschflugkörpern betrifft. Die Welt berichtete im Jubelton: »Front in SPD gegen Lieferung von Taurus‐Marschflugkörpern bröckelt.« Politiker aus CDU, FDP und den Grünen sind bereits dafür.
Aber nicht einmal Verteidigungsminister Boris Pistorius ist wirklich dagegen, er spielt nur noch einmal das Leopard‐Spiel, sprich, er würde, wenn auch die USA … Wie man inzwischen weiß, lief das beim Leopard dann ganz anders, denn die Abrams‐Panzer sind nach wie vor nicht in der Ukraine, aber Pistorius scheint seinem Aberglauben treu zu bleiben, dass eine entsprechende Aussage der USA irgendeine Bedeutung hätte.
Dabei wird in der wirklichen Welt eine solche Lieferung von Tag zu Tag gefährlicher. Warum? Weil die ganze viel gepriesene ukrainische Offensive sich nur als großformatige Operation zur Vernichtung von Truppen und Material erwies. Allein in den Monaten Juni und Juli habe die Ukraine 43.000 Gefallene zu verzeichnen, sagt das russische Verteidigungsministerium. Andere Stellen, die Schätzungen etwa über die Erweiterungsflächen ukrainischer Friedhöfe betreiben, kommen insgesamt bereits auf eine halbe Million. Das eine mag zu hoch, das andere zu niedrig gegriffen sein – aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir von Verlusten in einer Größenordnung reden, die noch Jahrzehnte danach zu spüren sein werden.
Selbst CNN wird inzwischen zunehmend pessimistischer. Sie zitieren einen US‐Abgeordneten aus Illinois, Mike Quigley, der vor Kurzem in Europa mit US‐Offizieren gesprochen hatte, die ukrainische Truppen ausbilden: »Unsere Lagebesprechungen sind ernüchternd. Wir werden an die Herausforderungen erinnert, vor denen sie stehen.«
»Sie werden in den nächsten paar Wochen sehen, ob es eine Chance gibt, irgendwelche Fortschritte zu machen. Aber damit sie wirklich Fortschritte machen, müsste sich das Gleichgewicht dieses Konflikts ändern, und das ist, denke ich, extrem, höchst unwahrscheinlich«, wird ein westlicher Diplomat wiedergegeben.
Einer seiner Kollegen erklärte, »die Russen haben eine Reihe von Verteidigungslinien, und sie [die ukrainischen Truppen] sind nicht wirklich durch die erste Linie durch«. Das ist ausnahmsweise eine fast zutreffende Beschreibung. In Wirklichkeit sind sie noch nicht einmal zur ersten Linie vorgedrungen, hinter der noch zwei weitere Linien liegen, und dazwischen weitere Minenfelder.
»Selbst wenn sie die nächsten Wochen weiter kämpfen, wenn es ihnen in den letzten sieben, acht Wochen nicht gelungen ist, durchzubrechen, wie wahrscheinlich ist es, dass es ihnen mit weiter verringerten Kräften gelingen wird?«
Das klingt ganz anders als die Aussagen vom Frühjahr, in denen ein ukrainischer Durchmarsch bis zum Asowschen Meer binnen weniger Tage fantasiert wurde. Es klingt auch ganz, ganz langsam nach dem Eingeständnis, dass es keinen ukrainischen Sieg geben wird. Nicht auf diesem Planeten.
Augenblicklich gibt es sogar nur einen aktuellen Artikel auf t‑online, der den bekannten – wie unangebrachten – triumphalen Ton hält und verkündet, »Putin hat Angst vor dem Ende«. Der Rest der Medienlandschaft berichtet lieber gerade gar nicht von militärischen Details, dann muss man die Leser auch nicht mit Meldungen wie jener von CNN verwirren. Deutschland dürfte den US‐Medien noch einige Wochen hinterherhinken und noch ein wenig langsamer die Realität eingestehen.
Aber diese Realität hat längst sichtbare Folgen, wie die zunehmende Neigung der Ukraine zu Terroranschlägen beweist. Gleich, ob zivile Brücken oder Schiffe, egal, welche Art Waffe oder Munition, alles wird eingesetzt, und die ersten Streubombeneinsätze gegen Wohnviertel in Donezk sind längst belegt. Auch HIMARS und NATO‐Haubitzen wurden sogleich entsprechend verwendet. Warum sich die Mühe machen, militärische Ziele zu identifizieren, wenn man einfach die Einwohner terrorisieren kann?
Und dann sind da die Drohnen, die in den letzten Wochen nicht nur auf das Grenzgebiet um Belgorod, sondern auch auf Moskau selbst gerichtet werden. Keine ernsthafte militärische Bedrohung, aber ein Versuch, die russische Regierung irgendwie zu einer emotionalen Reaktion zu nötigen. Was nutzlos ist, denn wer auf Odessa 2014 nicht emotional, sondern strategisch reagierte, der lässt sich durch Drohnen nicht aus der Ruhe bringen.
Dennoch, das ist die Lage, in der dann die deutschen Taurus‐Raketen ins Spiel kämen. Raketen, deren Reichweite 500 Kilometer und mehr betragen kann, und deren Sprengkopf, wie es der Focus jubilierend schreibt, ein »Bunkerbrecher«, ein »tödlicher Nagel« sei.
»Die Ukraine hat sich bisher beeindruckend diszipliniert an die Vorgabe gehalten, westliche Waffensysteme nur auf eigenem Staatsgebiet einzusetzen«, erklärte der FDP‐Verteidigungspolitiker Marcus Faber dem Tagesspiegel. Allerdings fügte er nicht hinzu, »gegen militärische Ziele«, also ist der Einsatz gegen die Zivilbevölkerung des Donbass für Herrn Faber offenkundig in Ordnung, denn andernfalls müsste er feststellen, dass Zusagen der Ukraine wenig wert sind.
Dank der unterschiedlichen Kaliber waren die NATO‐Granaten sofort erkennbar, wenn sie auf Wohngebiete oder auf das Atomkraftwerk Energodar abgefeuert wurden. Auch die »Storm Shadow«-Raketen sind identifizierbar und wurden schon für den Terror gegen die Zivilbevölkerung gebraucht, wie so gut wie alles, was die ukrainische Armee überhaupt in die Finger bekommt.
Eine weitere Behauptung von Herrn Faber lautet, die Taurus‐Raketen ließen sich »so programmieren, dass sie nur in einem bestimmten Gebiet eingesetzt werden können«. Nun, wenn man sich sicher ist, dass es in der Ukraine keine Vertreter einer befreundeten Macht gibt, die auch das umgehen können … ist das ziemlich viel Vertrauen in ein ziemlich zweifelhaftes Gegenüber, das unter extremem Druck steht, Erfolge zu liefern, weil es ohne Almosen ohnehin am Ende wäre.
Anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung in Kiew der Versuchung widerstehen könnte, die Taurus‐Raketen tief in russisches Gebiet zu feuern, ist nicht allzu hoch. Die Entfernung vom nördlichsten ukrainischen Winkel nach Moskau beträgt gerade einmal 472 Kilometer. Eine Vereinbarung, wie es die Grüne Agnieszka Brugger vorschlägt, oder eine Programmierung dürfte da nicht wirklich im Weg stehen. Man kann anhand der Geschichte der Minsker Abkommen nachvollziehen, was Vereinbarungen mit Kiew wert sind.
Aber da gibt es noch einen weiteren Punkt, bei dem deutsche Politiker notorisch unvorsichtig sind, denn im Hintergrund lauern noch zwei Fragen. Die eine ist die altbekannte: Wann wird das von Russland als Beteiligung gesehen? Schon witzig, ein Gegenüber zum Ausbund allen Übels zu erklären und dann darauf zu vertrauen, dass genau diese Frage äußerst vorsichtig behandelt wird. Ob es nun Großbritannien oder Deutschland betrifft, es ist nicht dasselbe.
In Ermangelung eines Friedensvertrages gibt es nach wie vor nur einen Waffenstillstand zwischen der Russischen Föderation und Deutschland. Und es ist eine andere Frage, ob etwas einen Bruch eines Waffenstillstands darstellt, oder eine Beteiligung an einem völlig neuen Krieg. Durchaus denkbar, dass die Reaktion auf die britischen Störmanöver vorsichtiger ist als die auf die deutschen. Und auch da wird etwas passieren, als Reaktion auf die Seedrohnen, die geradezu nach britischer Anleitung riechen.
Doch das ist immer noch nicht das Kernproblem. Das lautet nämlich folgendermaßen: Wie sicher ist sich die Bundesregierung, dass ihre vermeintlichen Verbündeten, namentlich Polen, Briten, US‐Amerikaner und Franzosen, sich auf eine Art gemeint fühlen, sollte ihr etwas Explosives auf den Kopf fallen? Oder, um es einmal ganz deutlich zu sagen: Wie kommen Scholz & Co. eigentlich auf die Idee, dass die Polen etwas anderes tun würden als sich zurücklehnen und Spaß zu haben, sollte Berlin Besuch von Herrn Kinschal erhalten? Oder die Briten?
Nachdem es problemlos möglich gewesen ist, Nord Stream zu sprengen, ohne auch nur einen Ansatz einer Reaktion in Deutschland auszulösen, ist es geradezu tollkühn, sich darauf zu verlassen, dass Verbündete, die keine sind, im Ernstfall ausgerechnet dem Land zu Hilfe kämen, das als Einziges dieses Waffenstillstandsproblem an der Backe hat und das der große amerikanische Bruder gerade ohnehin abwickelt.
Ja, die derzeitige polnische Regierung kann sich kaum zurückhalten in ihrem Eifer, in einen Konflikt mit Russland einzusteigen, aber man könnte wohl problemlos darauf wetten, dass sie sich im Falle einer russischen Reaktion auf den Einschlag von aus Deutschland gelieferten Raketen auch nur in der Nähe von Moskau (die Luftabwehr dürfte mit ihnen fertig werden) schnell und deutlich darauf besinnen würde, dass sie an ihrer westlichen Grenze ebenso sehr einen Feind verortet wie an ihrer östlichen.
Zusammengefasst heißt das, dass es schon immer dumm gewesen ist, der Ukraine solche Raketen zu liefern, es zu einem Zeitpunkt zu tun, an dem sie in Ermangelung militärischer Erfolge immer mehr auf eine Strategie des Terrors ausweicht, ist saudumm. Dabei die besondere Lage Deutschlands zu vergessen, spottet schon fast jeder Beschreibung, aber dann auch noch den »Verbündeten« zu vertrauen, das ist auf der Skala der menschlichen Intelligenz bereits nicht mehr messbar und qualifiziert im Grunde direkt für den Darwin‐Award.
Aber so dürfte das verlaufen: Erst klopfen sie sich laut auf die Brust, weil sie diese Raketen wie üblich dann doch schicken werden, dann schauen sie zu, wie die Ukraine sie immer schamloser einsetzt, was sie mit öffentlich geheuchelter Empörung und heimlicher Freude begleiten dürften, bis … ja, bis dann doch eine Reaktion erfolgt, womit dann übergangslos das arme unschuldige Opfer gegeben wird, sofern zwischen Heulen und Zähneklappern noch eine Möglichkeit dazu bleibt.
Am Ergebnis des Konflikts in der Ukraine wird all das nichts ändern. Es gibt schlicht keine Wunderwaffe, die Hunderttausende wieder auferstehen lässt, und selbst CNN schreibt mittlerweile:
»Einige Behördenvertreter fürchten inzwischen, dass durch den immer größer werdenden Spalt zwischen Erwartungen und Ergebnissen ein Kampf um die Schuldzuweisung zwischen ukrainischen Vertretern und ihren westlichen Unterstützern ausbrechen wird, was Uneinigkeit in der Allianz erzeugen könnte, die in den bisher bald zwei Jahren des Krieges weitgehend intakt geblieben ist.«
Momentan fürchten viele deutsche Politiker, dass man ihnen vorwerfen könne, nicht genug für die Ukraine getan zu haben. Langsam sollten sie anfangen, darüber nachzudenken, welche Verfehlungen gegen ihr eigenes Land man ihnen anlasten könnte, denn mit jedem Schritt in diese Richtung kommen sie einem katastrophalen Ergebnis näher, nach dem sie verwundert feststellen müssten, dass die meisten Freundschaften, auf die sie sich verlassen haben, nur eine Einbildung waren.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker‐Verbandes, von dessen Website freidenker.org der Artikel übernommen wurde, Erstveröffentlichung am 09.08.2023 auf RT DE
Bild:Taurus KEPD‐350 Vorführflugzeug auf dem Slovak International Airfest, Flugplatz Malacky, September 2022 (Boevaya mashina CC BY‐SA 3.0)