Autoritäre Irrwege in der Friedensbewegung

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Einerseits bin ich froh darüber, dass es zumindest irgendeine Opposition in Österreich1 gegen die zunehmende Militarisierung gibt, aber andererseits bin ich weniger froh darüber, mit welchen autoritären und letztendlich bellizistischen Argumenten in Aufrufen, Reden, Artikeln und Petitionen die Kritik an dieser Militarisierung formuliert wird.2

Einmal abgesehen von einem idealistischen Pazifismus sind in der Friedensbewegung nämlich vor allem geopolitische und souveränistische Argumentationen vorherrschend. Beide argumentieren damit, dass ein Krieg das Ergebnis einer ungerechten Ordnung über den Staaten sei, und treten dafür ein, dass sich der eigene Staat entweder gar nicht oder als Vermittler in einem Krieg beteiligen solle. (Positionen, dass der eigene Staat im Krieg die Seite wechseln sollte, wären zwar auch möglich, würden aber wohl zu weitestgehender Isolierung führen.) Daneben sind noch häufig völkerrechtliche Argumentationen zu finden, welche eine moralistische Form des Souveränismus darstellen, indem sie Ursache und Wirkung umkehren.

Dass geopolitische, souveränistische und völkerrechtliche Argumentationen genauso auch dafür benutzt werden können, Kriegshandlungen von Staaten zu legitimieren, sollte vielleicht schon zu Misstrauen gegenüber derartigen Argumentationen führen. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum diese Ideologien letztendlich das reproduzieren, was sie vorgeben zu bekämpfen, und was vielleicht ein Ausweg aus den beschriebenen Problemen sein könnte.

Noch eine Anmerkung: Für alle, die glauben, es könne unter Umständen doch emanzipatorisch sein, die Kriegspolitik eines Staates zu unterstützen (ob durch die Forderung nach Sanktionen oder Waffenlieferungen, ob durch die persönliche Unterstützung einer Armee), gilt das im Folgenden Gesagte umso mehr.

Externalisierung als Herrschaftsinstrument

Zuerst einmal soll der innenpolitische Effekt von Souveränismus und Geopolitik betrachtet werden: Denn statt Innenpolitik als Folge von Außenpolitik zu erklären, wie es Machthaber nicht nur kriegführender Staaten besonders gerne tun, soll einmal der umgekehrte Blick vorgenommen werden, gerade auf jede Ideologien, auf den ersten Blick als rein außenpolitische Angelegenheiten wirken mögen.

Souveränismus und Geopolitik zeichnen sich nämlich dadurch aus, die Hauptursache gesellschaftlicher Probleme außerhalb dieser Gesellschaft zu suchen. Und da die Hauptursache außen gesehen wird, wird auch der Hauptfeind im Äußeren verortet, gegen den es dann auch gilt, im Inneren zusammenhalten und etwaige Klassenkämpfe im Inneren zurückzustellen. Aber es muss gar nicht einmal bei diesem Versuch der inneren Herrschaftsstabilisierung bleiben: Denn je weiter außen ein Feind ist, desto weniger befindet er sich in der eigenen Verfügungsgewalt, und so ist es naheliegend, einmal die »Äußeren im Inneren« quer zu Klasseninteressen als absolute Feinde zu bekämpfen und ihre Interessen nicht einfach nur für andersgeartet, sondern für illegitim zu erklären.

Derartige Vorstellungen finden sich nicht nur auf Seiten von Regierungen, die damit versuchen, Oppositionelle zu delegitimieren, sondern auch auf Seiten der Opposition, wenn zum Beispiel die Regierung als von ausländischen Mächten gesteuert beschrieben wird. Unabhängig davon, inwiefern das jetzt im Einzelfall stimmen mag oder nicht, stellt sich die Frage, was das für einen Mehrwert bringen soll beziehungsweise wem das einen Mehrwert bringt: Denn einerseits wird hier das Paradigma von Innen und Außen eingeübt, welches sich auch gut für den Klassenkampf von oben eignet, und andererseits liefert es sogar der Regierung eine Möglichkeit, sich aus der Verantwortung zu nehmen, indem sie ihr eigenes Handeln zum Ergebnis äußerer Zwänge einer nicht greifbaren Macht erklärt, sehr ähnlich zur bekannten Argumentation, man wolle eigentlich keinen Krieg und dieser sei nur vom Feind aufgezwungen.

Einmal abgesehen davon, dass es für die Wirkung von Unterdrückung keinen Unterschied macht, ob eine Regierung ihr Volk aus außenpolitischer Motivation unterdrückt oder nicht, stellt eine derartige Argumentation die Frage in den Mittelpunkt, wer über andere herrschen sollte, und setzt damit die Prämisse voraus, dass jemand über andere herrschen sollte.

Ähnlichkeit und Widersprüche von Geopolitik und Souveränismus

Sowohl Souveränismus als auch Geopolitik sind zu einem gewissen Maß zentralistisch, der Unterschied besteht vor allem in der Anzahl der als relevant erachteten Zentren. Und so föderalistisch organisiert ein Staat oder ein Großraum auch sein mag, letztendlich liegt das entscheidende Interesse in den als zentral erachteten Gebieten, während die Peripherie diesen Gebieten untergeordnet wird.

Insofern kann Geopolitik auch als eine Form von Souveränismus angesehen werden, deren Subjekte nicht einzelne Völker sind, sondern real existierende oder angestrebte Großreiche beziehungsweise deren zentrale Staaten. Dies zeigt auch, dass Geopolitik und nationaler Souveränismus in konkreten Fällen zwar in Einklang sein mögen, letztendlich aber durch ihre unterschiedlichen Vorstellungen relevanter Subjekte im Widerspruch zueinander stehen.

Insbesondere bei Geopolitik kommt noch dazu, welche Position da überhaupt eingenommen wird, nämlich die eines Strategen, der vielleicht sogar ganze Staatenverbünde steuert. Bei der überwiegenden Mehrzahl an geopolitisch argumentierenden Menschen entspricht das einer Vorstellung, die mit deren Wirklichkeit nun wenig bis nichts zu tun hat, einmal abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob derartige Positionen überhaupt wünschenswert sind.

Die Unmöglichkeit eines abstrakten Souveränismus

Einzelne Staaten stehen natürlicherweise nicht in einem harmonischen Verhältnis, sondern in Konkurrenz zueinander, denn jeder Anspruch an Souveränität wird dadurch in Frage gestellt, dass es konkurrierende Ansprüche auf Souveränität gibt.

Es mag zwar sein, dass sich ein Staat mit all seinen benachbarten Staaten einig über den eigenen Grenzverlauf ist, aber grundsätzlich stellt die Existenz anderer Staaten einmal eine Bedrohung für das eigene Staatsgebiet dar.3 Jeder Frieden zwischen Staaten ist in Wirklichkeit nur ein Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit, bis einer oder mehrere dieser Staaten zum Schluss kommen, dass das eigene Staats- oder Einflussgebiet doch vielleicht größer sein sollte als bisher vereinbart. Deswegen kann es durchaus rationales Handeln sein, wenn sich ein Staat von einem anderen Staat in seiner Sicherheit derart bedroht sieht, dass er dieses Problem präventiv im fremden Staatsgebiet zu lösen versucht.

Abstrakter Souveränismus ist die eingebildete Ausgangslage der Staaten, die bisher noch nie existiert hat und auch nie existieren wird. In der Praxis bedeutet Souveränismus also, Partei ergreifen zu müssen für den einen oder anderen Anspruch auf Souveränität.

Das Chaos der »internationalen Ordnung«

Dazu kommt noch, dass es gar nicht einmal klar ist, wem überhaupt zuerkannt wird, Subjekt in einer souveränistischen Ordnung sein zu dürfen. Abgesehen vom mehr oder weniger konsensual anerkannten Zerfall eines souveränen Subjekts in mehrere neue kommt es nämlich regelmäßig zu bedeutenden, häufig mit Krieg verbundenen Streitigkeiten darüber, wer überhaupt souveränes Subjekt ist beziehungsweise über welches Gebiet: So gibt es (die Beispiele sind nur eine Auswahl) uneindeutige Grenzverläufe (Kaschmir), einseitige Abspaltungen von souveränen Subjekten (Kosovo, Abchasien, Südossetien), einseitige Übertritte vom einen ins andere souveräne Subjekt (Krim), Alternativregierungen für das gleiche Territorium, die real nur über einen Teil davon regieren (Nord- und Südkorea), Exilregierungen (Tibet, Westsahara) oder Regierungen, die gar nicht einmal klar in diese Kategorien passen (Republik China/​Taiwan, Palästina und/​oder Israel).

Es ist also ersichtlich: Die internationale Realität ist eine Unordnung, entstanden genau aus dem Versuch, eine internationale Ordnung herzustellen bei gleichzeitiger Uneinigkeit, wie diese internationale Ordnung auszusehen habe. Und warum soll es jemals abgeschlossen sein, dass neue Gruppen auf die Idee kommen, sich zum souveränen Subjekt in dieser Ordnung zu erklären?

Eine Aufspaltung eines souveränen Subjekts in mehrere neue führt auch dazu, neue Grenzen zu erschaffen auf Kosten all jener, die nicht auf die eine oder andere Seite der Grenze passen. Und selbst wenn es einen völligen und ewigen Konsens gäbe, wer ein souveränes Subjekt sei, selbst wenn es keine Grenzstreitigkeiten zwischen diesen Subjekten gäbe, selbst dann wäre die scheinbare Möglichkeit eines allgemeinen Souveränismus noch immer eine Parteinahme: Sie würde zwar nicht Partei ergreifen innerhalb der souveränistischen Ordnung, aber dafür umso mehr gegen jene, die außerhalb dieser Ordnung stehen.

Was ist überhaupt Souveränität?

Neben der Frage, wer überhaupt als souveränes Subjekt anerkannt wird, besteht darüberhinaus das Problem, inwiefern ein Subjekt dann tatsächlich souverän ist, denn ein zwar allgemein als souverän anerkanntes Land kann in der Praxis ähnlich souverän sein wie ein zwar mit allen bürgerlichen Freiheiten ausgestatteter, aber mittelloser Mensch im Kapitalismus frei ist.

Ein derartiges Problem ist den Staaten bekannt, weswegen sie versuchen, auch wirtschaftlich ihre Souveränität zu verteidigen. Da sich aber zumeist nicht alle benötigten Güter im eigenen Land befinden, müssen die Staaten dann aber abwägen, gegen wen sie überhaupt zuerst einmal ihre wirtschaftliche Souveränität verteidigen wollen. Sofern der Konsum aber nicht verändert wird, führt dies dazu, gleichzeitig die Souveränität weniger gegen jene verteidigen zu können, von denen sich ein Staat nun abhängiger gemacht hat.

Diese Entscheidung ist ein politischer Akt, und alle dafür herangezogenen Kriterien sind ebenfalls die Folge eines politischen Aktes. Es gibt eben keine eindeutige Bestimmung, welche Handlung jetzt die allgemeine Souveränität erhöht und welche sie verringert. Besonders auffällig ist dies nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch bei Bündnissen. Nehmen wir als Beispiel die Osterweiterung der NATO: Ist sie nun ein Akt der Verlusts der nationalen Souveränität, indem ein Staat sich verstärkt dem Einfluss der USA und Westeuropas aussetzt, oder ist sie ganz im Gegenteil eine Möglichkeit für kleinere Staaten, sich endlich einmal aus dem Griff Moskaus zu befreien?

Souveränität ist eben auch die Souveränität, Außenbeziehungen nach dem (wie auch immer bestimmten) Willen des Regimes zu gestalten, ob dieser jetzt in einem Anschluss an Militärbündnisse besteht oder in einer weitestgehenden außenpolitischen Neutralität. Eindeutig behaupten zu wollen, was nun ein Mehr oder ein Weniger an Souveränität bedeute, führt nicht nur dazu, dass partikulare Interessen als allgemeines Interesse verkauft werden, sondern verwechselt auch Ursache und Wirkung, denn prinzipiell steht es jedem Regime frei, nach eigenem Willen zu handeln, wie es möchte. Innere und äußere Konsequenzen gibt es so oder so.

Die Widersprüche des Befreiungsnationalismus

Neben der Fiktion, es gäbe in der Praxis einen klaren Unterschied zwischen Vergrößerung und Verringerung von Souveränität, ist es ebenfalls eine Fiktion, dass es eine klare Trennung zwischen einem »Nationalismus der Unterdrücker« und einem »Nationalismus der Unterdrückten« gäbe.

Als Beispiel mag hier der (teilweise bis heute andauernde) Konflikt im Kosovo dienen. Denn was war hier nun Befreiungsnationalismus, was war hier nun Unterdrückungsnationalismus? Waren »ethnische Säuberungen« gegen Kosovo-​Albaner etwa ein Element des antiimperialistischen Kampfes? Waren »ethnische Säuberungen« gegen Serben etwa ein gerechtfertigter Akt der Gegenwehr einer marginalisierten Gruppe?

Die schon erwähnte Unmöglichkeit, in der Praxis für ein abstraktes Prinzip der Souveränität statt für eine konkrete Konfliktpartei eintreten zu können, zeigt sich hier besonders deutlich. Und die Frage nach Befreiungs- und Unterdrückungsnationalismus ist zentral für eine Position, die einen positiven Bezug auf Nationalismus mit einem emanzipatorischen Anspruch verbinden will: Denn welcher Nationalismus hat nun Anrecht auf ein konkretes Stück Land? Beide gleichzeitig können es nicht haben.

Dem Argument, der bevorzugte Nationalismus sei in seiner Substanz ein Befreiungsnationalismus, und alle Unterdrückung sei nur Akzidenz, kann einfach mit der umgekehrten Behauptung entgegnet werden. Alle weitere Argumentation müsste dann mit Argumenten geführt werden, die zum Beispiel auf einer behaupteten Hierarchie nationaler Gruppen beruhen oder auf geopolitischen Sympathien, was in beiden Fällen aber nichts mehr mit einem »Selbstbestimmungsrecht der Völker« zu tun hat, wodurch sich die Frage stellt, was die positive Bezugnahme auf das Nationale dann überhaupt soll.

Zu sagen, die »guten« Dinge seien Befreiungsnationalismus, die ‚schlechten‘ Dinge seien Unterdrückungsnationalismus, und man könne beides auseinanderhalten, führt genau am Wesen des Nationalismus vorbei, dessen Eigenschaft es ist, mit Leichtigkeit Befreiung und Unterdrückung zusammenzuführen: Denn der Kampf gegen den Imperialismus von NATO, EU und deren Mitgliedsstaaten wäre genauso möglich ohne serbischen Nationalismus, und der Kampf gegen serbischen Chauvinismus wäre genauso möglich ohne kosovo-​albanischen Nationalismus, und womöglich wäre beides sogar besser möglich. Eine Position der Teilung eines konkreten Nationalismus in befreiende und unterdrückende Aspekte kommt einer radikalen Ablehnung dieses Nationalismus gleich.

Doch auch, wenn eine ethnische oder anderweitig kulturelle Dimension der »nationalen Befreiung« nicht gegeben ist (eine Frage ist hier noch, inwiefern das überhaupt möglich ist), schafft sie, wie schon anfangs in diesem Kapitel besprochen, zumindest ein klassenneutrales Paradigma einer »nationalen Einheit«, in welchem es ermöglicht wird, jede politisch unliebsame Person der Kollaboration mit »feindlichen« Staaten zu bezichtigen, um den aus Herrschaftsinteresse gefährlichen Kampf zwischen Unten und Oben in einen zwischen Innen und Außen überzuführen.

Die Frage nach der Kriegsschuld

Ich will nicht sagen, dass eine Ergründung der Kriegsursachen schon einer Rechtfertigung des Krieges gleichkäme, wie manchmal behauptet wird. Nichtsdestoweniger ist es aber schon so, dass Kriegsparteien ihr Handeln zumeist dadurch begründen, indem sie der verfeindeten Kriegspartei die Schuld zuschreiben. Und dies weist schon auf das Problem hin: Die Frage nach Ursachen kann allenfalls zur Verhinderung zukünftiger Kriege dienen, aber bei einem gegenwärtigen Krieg dient sie ausschließlich dessen Weiterführung statt dessen Beendigung.

Hier scheinen sich einige der Illusion hinzugeben, sie wären Richter über die Staaten, deren Interessen und Handlungen sie für legitim beziehungsweise illegitim erklären. Und einmal abgesehen davon, dass es eine Illusion ist: Warum ist es überhaupt wünschenswert, in einer derart autoritären Weise über die ganzen Menschen zu entscheiden, die im Gebiet dieser Staaten leben? Denn gerade die Berufung auf Wahrheit, über die es nicht ohne Grund heißt, dass sie das erste Opfer des Krieges sei, eignet sich bestens dazu, Partikularinteressen den Schein des Absoluten zu geben.

Auswege aus dem Kriegssystem

Was wären aber jetzt die Handlungsmöglichkeiten, um aus diesen Problemen herauszukommen und nicht wieder das zu fördern, was man eigentlich versucht zu beseitigen?

Eine erste Antwort könnte darin liegen, alle Staaten, ob jetzt nur von sich selbst oder von der »internationalen Gemeinschaft« anerkannt, als souveräne Staaten zu behandeln, damit sie keine Ausrede für ihr Handeln haben. Dies heißt, dass ein Staat nun auch nicht mehr seine Innenpolitik mit Außenpolitik begründen kann. Ganz im Gegenteil sollte immer überlegt werden, was für einen innenpolitischen Nutzen ein Staat mit seiner Außenpolitik verfolgt. Dies heißt auch, sich nicht nur gegen direkte oder indirekte Kriegsbeteiligung, sondern gegen jegliche Militarisierung von Staaten zu wenden, ob jetzt durch die Anschaffung von Kriegsmaterial oder durch militärische Kooperation mit anderen Staaten, da ein Staat immer auch die Möglichkeit hat, seine militärische Ausrüstung gegen das eigene Volk zu verwenden.

Ein weiterer Schluss könnte sein, nicht für eine andere Weltordnung einzutreten, sondern gegen jede Weltordnung, gegen das Ordnen der Welt an sich: Denn jede Weltordnung ist zuerst einmal eine Idee, und jeder Einsatz für eine konkrete Weltordnung ist ein autoritärer, zentralistischer Versuch, die gesamte Welt den eigenen Interessen unterzuordnen. Gegen jede Weltordnung zu sein, heißt allerdings nicht, den Stillstand gegenüber der Umordnung zu bevorzugen, sondern vielleicht sogar zuallererst gegen jede Verteidigung der gegenwärtigen Weltordnung einzutreten, welche ebenfalls nur als Modell existiert, das der Wirklichkeit ständig durch unablässige Gewalt auferlegt werden muss.

Statt sich der notwendig zentralistischen Fantasie einer Weltordnung hinzugeben (ob jetzt globalistisch, multipolar, nationalistisch oder wie auch immer), sollte versucht werden, alle Organisation dezentral vom Kleinen zum Großen zu gestalten, damit es auch keine Möglichkeit mehr gibt, angebliche »Äußeren im Inneren« zu identifizieren. Eine derartige Organisationsform hilft auch dabei, kulturelle Interessenskonflikte möglichst gering zu halten, welche sich wegen ihres Verlaufs quer zu Klassengegensätzen besonders zur Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen eignen.

Aus dem Gesagten folgt auch, weder einen Staat dabei zu unterstützen, »sein« Staats- oder Einflussgebiet gegen Ansprüche anderer Staaten zu verteidigen, noch einen Staat dabei zu unterstützen, »sein« Staats- oder Einflussgebiet zu vergrößern. Ob es sich um den »eigenen« oder einen fremden Staat handelt, ist dabei unerheblich. Sich jeglicher Weltordnung zu verweigern bedeutet, sich der Parteinahme zu verweigern in der Konkurrenz der Staaten, denn jede Parteinahme innerhalb dieses Systems ist eine Parteinahme für dieses System. Schon die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg (und vielleicht noch Präventivkrieg) ergibt nur innerhalb dieses Systems einen Sinn und dient politisch allein der Legitimation von Staatsgewalt. Kritik alleine an »Angriffskriegen« ist das Gegenteil einer Kritik an Krieg. Die Parteinahme gegen das Staatensystem an sich ist aber kein Widerspruch dazu, sich vorrangig einmal gegen jenen Staat zu stellen, der gerade den eigenen Aufenthaltsort besetzt, alleine da dessen Staatsgewalt konkret angreifbar ist.

Die Parteinahme sollte stattdessen jenen gelten, die sich, ob bewusst oder nicht, diesem System verweigern, insbesondere allen Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und sonstigen Menschen, die nicht bereit sind, für den einen oder anderen Staat ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Lassen wir die Regierungen ihre Konflikte untereinander haben. Aber lassen wir es nicht zu, dass sie ihre Konflikte auf unsere Kosten austragen.

Anmerkungen

1 Und natürlich in anderen Ländern, aber da kenne ich nicht die Lage nicht gut genug.

2 Auch mich selbst nehme ich dabei nicht aus: Ich bin erst vor einem Jahr vom Anhänger des Souveränismus zum Gegner desselben geworden, bedingt durch eine Reflexion über den Ukraine-​Krieg. Dieser Text ist auch ein Ergebnis meiner zunehmenden Entfremdung von manchen Teilen der Friedensbewegung.

3 Vgl. auch Hermann Lueer: „Krieg dem Kriege!“, 14.04.2022, https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/ukraine-krieg-dem-kriege-6979.html [21.07.2023]

Ursprünglich veröffentlicht auf Untergrund-​Blättle mit Untertitel und Lead-​In sowie in Schweizer Rechtschreibung: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/ukraine-kriegsgegner-kriegsbefuerworter-autoritaere-irrwege-in-der-friedensbewegung-7819.html

Bild: Karsten Hilse, AfD (MdB), auf einer Demonstration am 24.07.2023 in Bautzen (Screenshot aus dem Telegramkanal https://t.me/EndundNeuzeitreport)

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