Die Nutzung von Daten über die Aktivität von Arbeitskräften bringt Innovationen bei der Ausbeutung von Arbeitskräften durch Hyperüberwachung
In der modernen Welt durchdringen Technologien der so genannten »künstlichen Intelligenz« und des maschinellen Lernens alle Lebensbereiche, nicht zuletzt auch die Arbeitswelt. JP Morgan Chase (JPMC), die größte amerikanische Bank, hat kurz vor der Pandemie ihr eigenes Workforce Activity Data Utility (WADU) eingeführt. Dabei handelt es sich um ein System der Datenerfassung, das in seinem ganzen Ausmaß erschütternd ist und für die Augen der Geschäftsleitung umfangreiche Bio‐Daten über die Mitarbeiter, jeden Blick auf ihr Telefon und jeden Stuhlgang im Büro sammelt (1).
Dieses Tool verspricht die Effizienz zu steigern und die Geschäftsprozesse des Unternehmens zu optimieren sowie vor dem Abfluss von Informationen durch Insider zu schützen, so das Unternehmen. Schauen wir mal, was wirklich dahintersteckt.
Dieses System ist eine logische Neuerung gegenüber der Vorgängerversion, die Metropolis hieß. Es sammelte E‑Mails, Browserverläufe und GPS‐Standorte von Firmentelefonen. Im Jahr 2013 wurde aufgedeckt, dass das System genutzt wurde, um verschiedene Personen in der Bank zu betrügerischen und missbräuchlichen Zwecken zu verfolgen, darunter auch leitende Angestellte (2). Ein weiteres Programm aus jüngerer Zeit, BlueOptima, wurde nach kurzer Zeit still und leise eingestellt und durch WADU ersetzt.
Welche Informationen sammelt WADU?
Die JPMC‐Büros und ‑Filialen sind mit hochwertigen HD‐AV‐Überwachungskameras ausgestattet. Die WADU‐Software hat Zugang zu diesen mehreren Kameras im Büro, um kleine Bewegungen (nonverbale Gesten) während des Tages zu verfolgen und aufzuzeichnen. Die gesammelten Informationen werden auf dem jeweiligen WADU‐Profil in Echtzeit aktualisiert. Jeder Vorgesetzte hat Zugang zu einer Informationsseite, auf der alle Indikatoren für seine Untergebenen angezeigt werden. Die Leistungsindikatoren der Mitarbeiter werden sofort nach dem Einloggen des Mitarbeiters aktualisiert. Für die Mitarbeiter im Büro stehen zwei biometrische Merkmale zur Verfügung: das Konzentrationsniveau und das Stressniveau.
Diese Kategorien werden durch die Verarbeitung von Informationen wie Augenbewegungen und Körpersprache durch den WADU‐Algorithmus bestimmt.
In den letzten Jahren ist die Praxis des Sammelns von Informationen über Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber zu einer Selbstverständlichkeit geworden – ganz ohne Widerstand einer organisierten Arbeiterklasse. WADU ist jedoch ein fortschrittliches Instrument zur Ausbeutung nicht nur von Büroangestellten, sondern auch von aus der Ferne arbeitenden Beschäftigten.
Durch den Anschluss von Kamera und Mikrofon an das Citrix‐Workplace‐System kann die künstliche Intelligenz in jede Sekunde des Arbeitslebens hineinschauen – sogar in die Wohnung. Dort zeichnet sie über die Webcam auf, analysiert die Umgebung auf Unprofessionalität und andere »Gefahren« und hört jedes Gespräch mit, auch Hintergrundgeräusche.
Ihr Vorgesetzter kann sich sogar Ihre Audioübertragung live anhören, wie ein eigener privater Live‐Streamer.
Warum ist WADU wirklich notwendig?
Die Auswirkungen einer solchen Überwachung sind kaum zu überschätzen, da sie die Macht der Unternehmen über ihre Mitarbeiter auf ein bisher nicht gekanntes Niveau hebt. Einigen Berichten zufolge versucht JP Morgan Chase, die Mitarbeiter wieder ins Büro zu bringen und sie zu zwingen, unabhängig von ihrer Produktivität mindestens drei bis vier Tage dort zu arbeiten. Ein Grund für dieses dringende »Bedürfnis« des Unternehmens ist die Notwendigkeit, mit der eingebetteten KI so viele Daten wie möglich zu sammeln, um das System selbst zu verbessern und unschätzbare Testdaten über seinen Betrieb zu erhalten.
Wie sollen sie es an ihren eigenen Mitarbeitern ausreichend trainieren? Möglicherweise vertreiben sie ein »erfolgreiches Produkt zur Effizienzsteigerung«, in das sie investiert haben, damit sich dieses System auszahlt, denn warum sollten sie sonst Millionen von Dollar ausgeben. Und natürlich können die Daten in riesigen Mengen zu kommerziellen Zwecken verkauft werden, beispielsweise an Werbetreibende, was eine neue Einnahmequelle für diese Ware darstellt.
Es ist vor allem eine Investition in die Zukunft des Kapitalismus
Selbst die Beschäftigten der Hochfinanz im Zentrum des entwickelten Imperialismus werden jetzt die Reichweite des krallenden Profitbedürfnisses des Kapitals spüren. Dieses System wird die Bildung neuer Gewerkschaften angreifen, indem es die traditionelle Organisierung der Arbeiter verhindert, es wird die Arbeiter psychologisch einschüchtern, damit sie sich übermäßig fügen. Und es wird in ein ganzheitliches System der staatlichen Überwachung zur Identifizierung und Verfolgung von »Dissidenten« integriert – diese Daten werden unweigerlich in die Hände der staatlichen Behörden fallen, sowohl freiwillig durch die Bosse als auch durch den Kauf von Datenpaketen auf dem Markt durch Agenturen wie die NSA und so weiter, genau wie bei jedem anderen privaten Unternehmen. Oder durch die Beschlagnahme per Gesetz mit Haftbefehlen und Vorladungen. Diese neuartigen und erweiterten Überwachungsinformationen verschaffen dem Staat einen Zugang zu Daten über seine Bürger, der selbst im Zeitalter des »Patriot Acts« noch nie dagewesen ist.
Auf künstlicher Intelligenz basierende Arbeitskontrollsysteme unterdrücken Kollektivismus und Solidarität unter den Arbeitern, von denen jeder hofft, für die Kamera gut dazustehen. Wettbewerb und Angst vor negativen Folgen können Individualismus und Uneinigkeit unter den Kollegen fördern. Anstatt eine faire und gerechte Behandlung zu fördern, schaffen diese Systeme Ungleichheit und verschärfen die sozialen Unterschiede.
Aber das Unternehmen behauptet, es ginge nur um Produktivität und die Verbesserung des Arbeitslebens im Büro für alle …
Anstatt das Arbeitsumfeld zu verbessern, um die Bedingungen für die Arbeitnehmer zu verbessern und eine fruchtbare Produktivität zu fördern, wird die künstliche Intelligenz in den Dienst privater Interessen zum Zwecke der blinden Profitmacherei gestellt. Durch die Ausweitung und Perfektionierung dieses Systems sollen alle Arbeiter in Maschinen verwandelt werden, die keine Ruhezeiten kennen und deren Produktivität nicht durch die Ablenkung des Menschen durch die Beschäftigung mit dem Computerbildschirm am Arbeitsplatz verringert wird. Das Ergebnis ist eine verstärkte Ausbeutung und die Einschränkung der Freiheit der Arbeiter. Dies führt nur zu Misstrauen und Paranoia unter den Arbeitern – nicht zu mehr Effizienz, sondern zur Schaffung eines neuen, höheren Niveaus der Ausbeutung von Arbeitszeit (3).
Während Kapitalisten künstliche Intelligenz trainieren, um Arbeiter noch mehr zu kontrollieren, muss man sich darauf vorbereiten, Arbeitsrechte zu schützen. Unternehmen, die solche Systeme einführen, sollten auf Schritt und Tritt bekämpft werden. Dazu gehört auch, dass sie gezwungen werden, die Gesetze zur Datenerfassung einzuhalten, solange noch etwas davon übrig ist. Gewerkschaften, die nicht unter der Kontrolle des Arbeitgebers stehen, müssen sich aktiv an der Überwachung und Regulierung solcher Systeme beteiligen – und daran arbeiten, ihren wahren Charakter aufzudecken. Im Kapitalismus nehmen die sozialen Beziehungen durch liberalen Fortschritt und verbesserte Technologie nicht wirklich zu, sondern werden stattdessen in einen tiefen Raub der Menschenwürde hineingezogen.
Quellen
Zuerst in englisch erschienen bei Politsturm
Bild: Geschäftssitz von JPMorgan Chase in New York City (C R, wikimedia commons)