Quo vadis SPD? Außenpolitik der deutschen Sozialdemokratie heute

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Die SPD‐​Führung spricht von einer Zeitenwende – geadelt als »Wort des Jahres«. Worum geht es tatsächlich bei diesem Wandel? Es scheint so, als wolle die Parteiführung lediglich die Spuren ihres Übergangs auf die Seite der herrschenden Klasse verwischen. Probate Mittel dabei sind Russo‐ und Sinophobie.

Die SPD‐​Führung spricht seit einem Jahr nur noch von Zeitenwende. Es ist sogar »Wort des Jahres«. Man hofft offensichtlich darauf, dass sich die Mitglieder an den Begriff gewöhnen und nicht mehr nach seinem Inhalt fragen. Die Parteiführung nutzt die Situation, um die Spuren ihres Übergangs auf die Positionen der Ideologie und Politik der herrschenden Klasse des Kapitals zu verwischen.

Die Menschen sollen gehindert werden, sich ihrer tatsächlichen Lage bewusst zu werden. Dabei werden verstärkt Russophobie und zunehmend auch Sinophobie, Hass auf Putin und Hetze gegen Xi eingesetzt. Sie werden als verbindliches Prinzip der theoretischen und praktischen Tätigkeit der Partei und ihrer Mitglieder betrachtet.

Ziele

Bundeskanzler Scholz hat, außer in seiner Rede, in der er die Zeitenwende verkündete, in einem namentlich gezeichneten Artikel für die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs – offensichtlich auch zur Kenntnisnahme für den US-»Partner« – dazu erklärt: »Deutschland kommt jetzt die wesentliche Aufgabe zu, als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen, indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der NATO‐Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten« (Hervorhebung durch den Autor). Also Sicherheit durch Militarisierung!

Auch der neue Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, wünscht sich, dass die deutsche Gesellschaft »eine neue Normalität mit der Bundeswehr« entwickeln müsse. In einer Grundsatzrede bei der Friedrich‐​Ebert‐​Stiftung forderte er im Namen der Partei, »Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben«, aber nicht »breitbeinig oder rabiat« auftreten, sondern »durchdacht, überzeugt und konsequent« handeln.

Deutschland müsse über die EU und gegen Russland und China andere Länder für sich gewinnen, neue strategische Allianzen auf der Grundlage wirtschaftlicher Interessen und politischer Orientierung schmieden. »Unser Anspruch muss sein«, so Klingbeil, »dass wir das attraktivste Zentrum sind.« Daraus resultiert für ihn und für die Führungsmannschaft der SPD, einschließlich Seeheimer Kreis: »Wir brauchen einen nationalen Pakt für Sicherheit: ein großes Bündnis von Politik und Industrie.«

Zudem verweist er auf Folgendes: Der Beschluss zur Schaffung eines Sondervermögens für die Bundeswehr »markiert die weitreichendste Wende in der deutschen Sicherheitspolitik seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955″. Dazu wurde »sogar das Grundgesetz geändert«, betont er. Er sollte hinzufügen, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine ebenfalls dazu gehören, dass deutsche Panzer wieder gegen Osten rollen!

Mit der Ausarbeitung des neuen Parteiprogramms der SPD, das Ende des Jahres beschlossen werden soll, werden also Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik, die die SPD seit den Zeiten von Willy Brandt und Egon Bahr vertreten hat, wieder eingerissen. Die SPD vollzieht einen großen Schritt bei der Verinnerlichung der Interessen des herrschenden Kapitals, ohne auf die historischen Erfahrungen und auf die Interessen der Menschen zu achten, die sie vorgibt zu vertreten.

Schwerpunkte

Zu den zentralen Themen der Neuausrichtung der internationalen Politik der SPD gehören:

1. Durchsetzung einer Führungsrolle Deutschlands in der Welt. Das schließt die Führungsrolle in der EU und in Europa ein. Streit gibt es in der SPD‐​Führung noch darüber, ob man das als Führungsmacht oder besser als Führungsrolle definieren soll. In der Sache geht es aber um deutsche Macht und deutschen Einfluss als Normalität!

2. Einsatz des Militärischen zur Durchsetzung politischer Ziele, das heißt Militarisierung. Deutlich wird in dieser Diskussion darauf hingewiesen, dass die SPD »eigene Stärke … auch über militärische Fähigkeiten« definiert. Die Kommission für Internationale Politik formuliert in ihrem Positionspapier, dass »die militärischen Fähigkeiten« zu »einer wirkungsvollen Friedenspolitik« gehören. Militär als Mittel der Friedenspolitik?!

Unbeachtet bleibt in der Diskussion um die Bedeutung des militärischen Faktors, dass Militarismus nicht bloß Machtorganisation nach außen ist. Er ist auch Gewalt nach innen. Er ist Gesinnung, Geisteshaltung, Einstellung des Willens und des Handelns auf bestimmte Ziele und mit bestimmten, militärischen Mitteln. In diesem Zusammenhang muss es zu denken geben, dass in der gesamten Diskussion um die Neuausrichtung der SPD die Lehren der deutschen Geschichte, des Zweiten Weltkrieges überhaupt keine Rolle mehr spielen.

Natürlich, die Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins. Aber in der Bundesrepublik wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ebenso restauriert wie während der Weimarer Republik. Die wirtschaftlichen Krisen wurden von einer sich vertiefenden Krise der bürgerlichen Ideologie begleitet, die wiederum mit einer Wiedergeburt nationalistischer und faschistischer Ideologie verbunden war.

Auf erneuerter Grundlage vollziehen sich ähnliche Prozesse auch heute in der BRD. Sie zu übersehen, öffnet die Schleusen in eine gefährliche Richtung. Denn gleichzeitig schwindet das antifaschistische Bewusstsein der Massen, das über Jahrzehnte Versuche vereitelt hat, faschistische Ideologie zu verbreiten und dementsprechende Parteistrukturen aufzubauen. Das Ignorieren und sogar die Negierung der positiven Erfahrungen aus der von Willy Brandt und Egon Bahr entwickelten Außenpolitik erfolgen also nicht isoliert. Sie sind Folge und Bestandteil der heutigen Bedingungen!

Es ist deshalb kein Zufall, dass die Aussage »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts« aus dem Sprachgebrauch der Politiker, Denkschulen, Medien und Parteien verschwunden ist. Dafür stellt Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Bilanzrede vor dem Bundestag am 2. März 2023 fest: »Unsere europäische Friedensordnung ist wehrhaft!«

3. Im noch gültigen Programm der Partei wird die strategische Partnerschaft mit Russland als »unverzichtbar« für Deutschland und die EU bezeichnet. Und selbst im Wahlprogramm der SPD von 2021, auf dessen Grundlage Olaf Scholz die Stimmen erhielt, die ihn zum Bundeskanzler gemacht haben, hieß es noch: »Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.« Jetzt wird die Aussage ins Gegenteil gedreht. »Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.« Der Vorsitzende der Partei stellt fest, dass die Außenpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr »ein Fehler« war.

Es geht auch nicht mehr um die Ukraine, sondern darum, dass sich »in Russland« etwas »fundamental ändert«(Hervorhebung durch den Autor), damit es zu einer Normalisierung des Verhältnisses zu Russland kommen kann. Und das ist Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands.

Diese Haltung wird aber auch gegenüber der Volksrepublik China bezogen. Es geht nicht mehr um die internationale Isolierung Russlands und Chinas, sondern offen um das Ruinieren dieser Staaten, um deren Diskriminierung, Sanktionierung, um die Verletzung der grundlegenden Prinzipien der UN‐​Charta im Verhalten der BRD gegenüber diesen Staaten – Prinzipien, die auf der Grundlage der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, nach dem Sieg über den Faschismus, erarbeitet wurden.

SPD‐​Führung verweigert sich den Lehren der Geschichte

Die von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vertretene Außenpolitik ist Bestandteil der Politik der herrschenden Klasse der BRD. Sie hat in wichtigen Fragen von Krieg und Frieden ihre in den vergangenen 50 Jahren beanspruchte entspannungs‐ und friedenspolitische Kompetenz aufgegeben. Man kann davon ausgehen, dass die SPD‐​Führung den kommenden Parteitag nutzen wird, um dies auch programmatisch festzuschreiben. Ihre Politik wird schon jetzt davon bestimmt.

Die primäre Aufgabe der Außenpolitik ist nicht mehr die Friedenspolitik. An erster Stelle steht die Macht. Es geht um Machtwiederherstellung, Machterhalt, Machterweiterung.

Die SPD‐​Führung vertritt sowohl die Ziele und die Prinzipien dieses vom Kapital beherrschten Staates auf dem Gebiet der auswärtigen Beziehungen als auch die Mittel und Methoden zu ihrer Realisierung.

Nicht Frieden und Sicherheit der Völker, sondern Sicherheit für das kapitalistische System ist Leitlinie ihrer Außen‐​und Sicherheitspolitik.

Die Führung der Sozialdemokraten weigert sich, Lehren aus der Geschichte im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts und der Interessen und Ziele der Werktätigen zu ziehen. Sie praktiziert die opportunistische und antikommunistische Politik, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Regie von Kurt Schumacher entwickelt wurde.

Die Sozialdemokratie hat die ideologisch‐​theoretischen Grundsätze der Arbeiterbewegung verworfen. Das ist der Kern ihrer Entwicklung, die wichtigste Ursache ihres Niedergangs sowie ihrer schwindenden Gestaltungskraft. Ihre Vertreter behaupten selbst, dass sie sich an »realpolitischen« Voraussetzungen, an »Sachzwängen« orientieren. Vermeintliche Wahlkampfnotwendigkeiten führten und führen zu einer substanziellen Kapitulation.

Auf diesem Weg hat die SPD aufgehört, eine Programmpartei zu sein. Eine tiefe theoretische Krise hat die sozialdemokratische Bewegung erfasst. Sie beschränkt sich zunehmend auf die Präsentation von »Spitzenpolitikern«.

Gleichzeitig entwickelt sich in der SPD eine kleinbürgerliche Parteinomenklatura, die ‒ bar jeder Theorie ‒ eine Politik verfolgt, die den Funktionsträgern von den »interessierten« Kreisen aufgetragen wird. Gewählte Parteifunktionäre agieren als »Manager«. Partikularinteressen und Karriereziele bestimmen weitgehend ihr politisches Verhalten!

Soziale und gesellschaftliche Veränderungen, die auch eine entsprechende Außenpolitik notwendig machen, sind für die Politik der Partei nicht mehr relevant.

Konstante politische Linie

Die wichtigsten politischen Linien, die für die BRD bis in die Gegenwart bestimmend sind, wurden schon im Zuge der Gründung der BRD festgelegt. Aus den Nachkriegsentwicklungen in den damaligen westlichen Besatzungszonen und in der BRD, mit der Restauration der im Potsdamer Abkommen verurteilten Macht der Monopole sowie aus der internationalen Stellung der BRD entstanden Konstanten, die auch in der Außenpolitik des Staates unabhängig davon wirken, welche Partei jeweils die Regierungsgeschäfte führt.

Schon die SPD‐​Führung unter Kurt Schumacher hat sich nicht wirklich als Gegnerin der Wiederbewaffnung erwiesen. Bereits Ende 1948 hatte der Vorstand festgestellt: »Die Frage einer künftigen Wehrverfassung ist abhängig von der Rolle, die Deutschland in einer künftigen europäischen Gemeinschaft spielen wird.« Damit wurde sowohl die Befürwortung einer »Wehrverfassung« ausgesprochen als auch festgestellt, dass der kommende »Wehrbeitrag« von der zu klärenden Rolle Deutschlands in Europa abhängig sei. Sebastian Haffner kam in seinem Buch »Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches« zu der Schlussfolgerung:

Tatsächlich hat auch die Bundesrepublik die richtigen Lehren aus den Tragödien ihrer Vorgänger nicht gezogen. Auch sie hat sich damit begnügt, ‚es‘ anders und besser machen zu wollen: auf den Gedanken, ‚es‘ einmal ganz bleiben zu lassen und statt dessen etwas ganz anderes zu machen – Friedenspolitik nämlich – ist sie nicht gekommen.

Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker‐​Verbandes, von dessen Website freidenker​.org der Artikel übernommen wurde, Erstveröffentlichung am 05.03.2023 auf RT DE

Bild: Das hier zu sehende SPD‐​Plakat wurde am 27. Mai 1932 dem Hessischen Polizeiamt eingereicht. Es sollte im hessischen Landtagswahlkampf eingesetzt werden (Hessisches Staatsarchiv Darmstadt R 2 Nr. 317, wikimedia commons)

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