War der 7. Oktober ein Massaker der Hamas oder der Israelis?

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Vor kurzem fand eine Abschiedszeremonie für die 12-​jährige Liel Hezroni statt, ein israelisches Mädchen aus dem Kibbuz Be’eri, das während der von der Hamas geführten Militäroperation Al-​Aqsa-​Flut am 7. Oktober ums Leben kam. Es gab kein traditionelles Begräbnis, sondern nur eine Zeremonie, da ihre Leiche nie gefunden wurde.

Die israelischen Behörden behaupteten zunächst, der palästinensische Widerstand habe an diesem Tag 1.400 Israelis getötet, darunter 112 in Be’eri. Obwohl Liel am »dunkelsten Tag Israels« starb, nahm kein Regierungsvertreter an der Abschiedszeremonie teil, um ihrer Familie zu kondolieren. Auch hat die israelische Regierung ihren Tod nicht untersucht oder ihren Angehörigen mitgeteilt, wie sie gestorben ist.

Liel starb, als die israelischen Streitkräfte zwei Panzergranaten auf ein Haus in Be’eri abfeuerten, in dem 15 israelische Geiseln und die 40 Hamas-​Kämpfer, die sie gefangen genommen hatten, untergebracht waren.

Yasmin Porat, 44, ist eine von zwei Israelis, die den Vorfall überlebt haben. Sie blieb mit Liel und den anderen Geiseln mehrere Stunden lang in dem Haus, das, wie sie sagt, von Kämpfern bewacht wurde, die sie »human« behandelten und deren »Ziel es war, uns nach Gaza zu entführen. Nicht um uns zu ermorden.«

Die sensationelle Enthüllung von Porat lautete, dass, als die israelischen Streitkräfte eintrafen, »sie alle eliminierten, auch die Geiseln«, so die dreifache Mutter gegenüber Kan: »Es gab ein sehr, sehr heftiges Kreuzfeuer.«

Die Rolle der israelischen Streitkräfte bei dem Angriff auf das Musikfestival

Eine offizielle Untersuchung der israelischen Polizei zum Angriff auf das Nova-​Musikfestival nahe der Grenze zum Gazastreifen untermauert die zunehmenden Behauptungen, dass die Armee Zivilisten getötet hat. Die anfängliche Darstellung eines von der Hamas angeführten Massakers an 260 Israelis wird schnell entkräftet, da israelische Bürger Untersuchungen fordern und weitere Informationen ans Licht kommen.

Laut Haaretz gab eine Polizeiquelle bekannt, dass ein israelischer Kampfhubschrauber bei seiner Ankunft nicht nur Hamas-​Kämpfer ins Visier nahm, sondern auch auf Israelis schoss, die das Fest besuchten. Der Polizeibericht hat die Zahl der Todesopfer auf 364 erhöht.

Einem Bericht von Yedioth Ahronoth vom 15. Oktober zufolge hat die Hamas es den Piloten absichtlich schwer gemacht, sie von Israelis zu unterscheiden, indem sie sich in Zivilkleidung kleidete. Dies habe die Piloten zunächst zögern lassen, Ziele am Boden anzugreifen, doch schon bald hätten sie begonnen, wahllos zu feuern:

»Die Feuerrate gegen die Tausenden von Terroristen war anfangs enorm, und erst ab einem bestimmten Punkt begannen die Piloten, die Angriffe zu verlangsamen und das Ziel sorgfältig auszuwählen.«

Die Bereitschaft der Besatzungstruppen, auf diese Weise eine überwältigende Feuerkraft zu entfesseln, erklärt die hohe Zahl der Todesopfer am 7. Oktober. Es wirft auch ein Licht auf die krasse Diskrepanz zwischen zwei Erzählungen – die eine von einer schießwütigen, mörderischen Hamas, die »wahllos« Hunderte tötete, und die andere von palästinensischen Kämpfern, die Gefangene »human« behandelten.

Der israelische Regierungssprecher Mark Regev gab letzte Woche in einem Interview mit MSNBC zu, dass die ursprüngliche Zahl von 1.400 Todesopfern bei der Widerstandsoperation ein Fehler war. Die revidierte Zählung senkte die Zahl auf 1.200. »Wir haben uns überschätzt, wir haben einen Fehler gemacht«, sagte Regev sowie: »Es gab tatsächlich Leichen, die so stark verbrannt waren, dass wir dachten, es wären unsere, aber am Ende waren es offenbar Hamas-Terroristen.«

Wenn etwa 200 Hamas-​Kämpfer und Palästinenser durch Panzer- und Hubschrauberbeschuss so schwer verbrannt wurden, dass sie nicht identifiziert werden konnten, dann ist es nur logisch, dass viele Israelis ein ähnliches Schicksal erlitten. Dies könnte auch erklären, warum von Liel Herzonis Leiche nichts übrig blieb, um sie bei ihrer Abschiedszeremonie zu bestatten.

Löcher in Tel Avivs Erzählung

Hadas Dagan, der andere Augenzeuge des Ereignisses, bei dem Liel Herzoni getötet wurde, bestätigte ebenfalls, dass beim Eintreffen des israelischen Panzers zwei Granaten abgefeuert wurden und dann »völlige Stille herrschte«. Nicht nur Liel, sondern auch ihr Bruder Yanai und ihre Tante Ayla, die sie aufzog, kamen in dem Haus ums Leben.

Ein Bericht von Haaretz vom 20. Oktober bestätigte die beiden Zeugenaussagen, wonach die israelischen Streitkräfte Häuser in Be’eri beschossen und die israelischen Gefangenen darin getötet haben. Der Journalist Nir Hasson berichtet, dass laut einem Bewohner von Be’eri namens Tuval Escapa, dessen Partner bei dem Angriff getötet wurde, dies geschah:

»Erst nachdem die Kommandeure vor Ort schwierige Entscheidungen getroffen hatten – einschließlich des Beschusses von Häusern mit ihren Bewohnern, um die Terroristen zusammen mit den Geiseln zu eliminieren -, konnte die IDF [israelische Armee] die Übernahme des Kibbuz abschließen. Der Preis war schrecklich. Mindestens 112 Menschen aus Be’eri wurden getötet.«

Im Bericht von Haaretz heißt es weiter: »11 Tage nach dem Massaker wurden die Leichen einer Mutter und ihres Sohnes in einem der zerstörten Häuser entdeckt. Es wird vermutet, dass noch weitere Leichen in den Trümmern liegen.«

Unbeantwortete Fragen

Am 15. November sprach Keren Neubach, Journalistin und Fernsehmoderatorin des israelischen Senders Kan, mit Omri Shafroni, einem Mitglied des Kibbuz Be’eri und Verwandten von Liel. Omri ist sich immer noch nicht sicher, wie Liel getötet wurde:

»Ich schließe nicht aus, dass Liel und andere durch das Feuer der IDF [israelische Armee] getötet wurden. Es könnte sein, dass sie durch das Feuer der Terroristen starben, oder es könnte sein, dass sie durch das Feuer der IDF starben, denn es gab ein sehr schweres Feuergefecht. Ich weiß es nicht und will es auch nicht einfach sagen.«

Aber er ist wütend darüber, dass die israelische Regierung sich weigert, zu untersuchen, was an jenem Tag in Be’eri geschah, trotz der Zeugenaussagen, die aufgetaucht sind: »Wir wissen seit mehr als einem Monat, was Yasmin erzählt hat, wir haben es von Yasmin und Hadas gehört und von unseren Leuten aus dem Kibbuz, deren Verwandte dort getötet wurden. Aber kein Beamter ist gekommen und hat uns gesagt, was in diesem Haus passiert ist«, beklagt Omri:

»Ich finde es sehr seltsam, dass wir bis heute keine operative Untersuchung eines Vorfalls durchgeführt haben, bei dem offenbar 13 Geiseln ermordet wurden und keine Verhandlungen stattgefunden haben. Vielleicht gab es eine Anweisung, dass man unter diesen Bedingungen nicht verhandeln kann? Ich weiß es nicht, aber bis jetzt haben wir keine operativen Ermittlungen durchgeführt. Und niemand ist da, um mit uns über die Geschehnisse zu sprechen.«

Sollte tatsächlich der Befehl erteilt worden sein, nicht zu verhandeln und stattdessen Panzergranaten auf ein Haus voller israelischer Siedler abzufeuern, würde dies bedeuten, dass die israelische Militärführung die Kommandeure vor Ort gebeten hat, die umstrittene »Hannibal-​Direktive« umzusetzen.

Extreme Gewalt für extreme Ziele

Die Times of Israel beschrieb, wie die »Direktive Soldaten erlaubt, potenziell massive Gewalt anzuwenden, um zu verhindern, dass ein Soldat in die Hände des Feindes fällt. Dies schließt die Möglichkeit ein, das Leben des betreffenden Soldaten zu gefährden, um seine Gefangennahme zu verhindern.«

»Einige Offiziere verstehen den Befehl jedoch so, dass die Soldaten ihren Kameraden absichtlich töten sollen, um zu verhindern, dass er gefangen genommen wird«, so die Zeitung weiter. Eine Untersuchung der Direktive durch Haaretz kam zu dem Schluss, dass »aus Sicht der Armee ein toter Soldat besser ist als ein gefangener Soldat, der selbst leidet und den Staat zwingt, Tausende von Gefangenen freizulassen, um seine Freilassung zu erreichen.«

In der Vergangenheit waren die israelischen Kommandeure mit Situationen konfrontiert, in denen nur ein einziger Soldat gefangen genommen wurde. Das änderte sich jedoch am 7. Oktober, als ihre Armee mit einer noch nie dagewesenen und ungewohnten Situation konfrontiert wurde, in der Hunderte von Israelis als Kriegsgefangene in den dicht besiedelten Gazastreifen gebracht wurden.

In einem Interview mit Haaretz vom 15. November deutet Nof Erez, Oberst der Reserve der israelischen Luftwaffe, an, dass das Militär die Hannibal-​Direktive auf eine neue Stufe stellte, als seine Apache-​Hubschrauber vor Ort eintrafen: »Was wir hier sahen, war ‘Massen-​Hannibal’. Es gab viele Öffnungen im Zaun, Tausende von Menschen in vielen verschiedenen Fahrzeugen, mit und ohne Geiseln.«

Ein Deckmantel für Völkermord

Eine offizielle Untersuchung der Ermordung von Liel Hezroni und der fast 1.200 anderen Israelis, die zusammen mit ihr getötet wurden, wird wahrscheinlich nicht so bald stattfinden, wenn überhaupt.

Nach der Al-​Aqsa-​Flut wurde der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu heftig für die Versäumnisse der Geheimdienste kritisiert, die den Erfolg des palästinensischen Widerstands ermöglichten. Er hat eine Untersuchung versprochen, weigert sich aber, sie vor dem Ende des Krieges einzuleiten. Sollte es zu einer Untersuchung kommen, wird diese wahrscheinlich ergeben, dass Netanjahu und andere israelische Führer ein totes 12-​jähriges israelisches Mädchen für besser halten als ein inhaftiertes 12-​jähriges israelisches Mädchen.

Doch es gibt auch eine ernüchternde Erkenntnis: Eine leblose Liel Herzoni wurde möglicherweise instrumentalisiert, um die Entmenschlichung der 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen, darunter mehr als eine Million Kinder, zu rechtfertigen, sie als »menschliche Tiere« zu bezeichnen und einen Vorwand für die rücksichtslosen, völkermörderischen israelischen Aktionen zu liefern, die die Welt in den letzten sechs Wochen in den sozialen Medien mitverfolgen konnte.

Seit dem 7. Oktober hat Israel den Gazastreifen wahllos mit Bombenteppichen belegt und seine Angriffe auf Häuser, Moscheen, Kirchen, Krankenhäuser und Schulen gerichtet. Dieser unerbittliche Angriff hat über 14.000 Palästinenser das Leben gekostet, darunter mehr als 5.000 Kinder.

Inmitten dieses beispiellosen Angriffs muss man sich fragen: Wenn Israel wenig Rücksicht auf das Leben seiner eigenen Siedler nimmt, welche Hoffnung bleibt dann für die unterdrückte palästinensische Bevölkerung, die eine von Wut getriebene Aggression erduldet? All dies wird »gerechtfertigt« durch ein »Hamas-​Massaker«, das möglicherweise nie stattgefunden hat.

Zuerst erschienen in The Cradle, deutsche Übersetzung in Linke Zeitung, hier leicht überarbeitet übernommen

Bild: Screenshot aus dem das die Angriffe Israels am 7. Oktober zeigenden Video (Quelle: The Electronic Intifada)

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