Zeitenwenden bringen nicht nur Richtungswechsel in der Politik, sie wenden auch Inneres nach Außen. Nicht nur die Einstellungen zu Russland und der Ukraine haben sich bei den westlichen Meinungsmachern grundlegend geändert. Das Denken und die Wertmaßstäbe des politischen Führungspersonals zeigen sich von ihrer Kehrseite.
Niedergang
Das westliche Demokratiemodell verliert weltweit an Zustimmung. Die zu Autokratien erklärten Länder China und Russland entwickeln sich immer mehr als Alternative zum Westen und den von ihm beherrschten Institutionen. Jenen Staaten, die sich den beiden und den BRICS‐Staaten zuwenden, geht es um finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Länder. Fragen des politischen Systems sind für die meisten von ihnen von untergeordneter Bedeutung.
Bis zum wirtschaftlichen Aufstieg Chinas hatten allein die westlichen Staaten über ausreichend Wirtschafts‐ und Finanzkraft verfügt, um weltweit Investitionen vornehmen zu können. Dementsprechend diktierten sie die Bedingungen und verlangten sehr häufig auch politische Zugeständnisse. Dabei ging es weniger um die demokratischen Freiheitsrechte als solche sondern vielmehr darum, unter dem Banner von Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt Kräfte fördern zu können, die im westlichen Interesse Einfluss nehmen konnten auf die Politik vor Ort. Man wollte sicher sein, dass die Macht nicht in die falschen Hände kam und Investitionen und Gewinnen westlicher Unternehmen gefährdet sein könnten.
Diese Situation änderte sich mit Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße, das bald als Belt and Road Initiative (BRI) den ganzen Erdball erfasste. Die Chinesen verfügen über ein vergleichbares technisches Wissen, über Unternehmen, die Infrastrukturmaßnahmen umsetzen können, und über das nötige Kapital zu deren Finanzierung. Darüber hinaus aber sind chinesische Konditionen meistens günstiger als die westlichen, und vor allem stellt China keine politischen Bedingungen an die Vertragspartner.
Denn die westliche Werte, die mit den Krediten und Investitionen mit unterschrieben werden mussten, werden von vielen als Druckmittel angesehen, oftmals angewandt von ehemaligen Kolonialherren, die man ohnehin nicht in bester Erinnerung hat. Zudem bleibt den Völkern der nicht‐westlichen Welt nicht verborgen, dass nach doppelten Maßstäben auf der einen Seite Sanktionen verhängt und auf der anderen Diktaturen und Autokraten geschont werden – je nach politischem oder wirtschaftlichem Interesse.
Neben Chinas wirtschaftlicher Macht gewann Russland immer mehr an militärischer Stärke und weltweitem diplomatischem Einfluss. Russland und China ergänzen sich mit ihren unterschiedlichen Stärken in ihrer Politik gegenüber dem Westen. Sie beide verfolgen dasselbe strategische Interesse, den westlichen Einfluss zurückzudrängen zugunsten einer multipolaren Weltordnung, die allen Staaten der Welt gleiche Entwicklungsrechte zubilligt.
Dem Westen soll die Macht genommen werden, nach eigenen launischen Wertmaßstäben die Nationen in Schurkenstaaten und Demokratien unterteilen zu können mit den entsprechenden Vor‐ und Nachteilen für deren gesellschaftliches Vorankommen. Mit dem wachsenden Einfluss von Russland und China löst sich der weltweite Würgegriff der wertebasierten Ordnung und ihrer westlichen Werte.
Innere Schwäche
Aber nicht nur außerhalb des westlichen Wertebiotops gerät dieses Demokratiemodell unter Druck und in Misskredit. In den eigenen Gesellschaften gehen immer größere Teile der Bevölkerung den selbsternannten Demokraten von der Fahne. Es ist die Politik der herrschenden Parteien und ihrer Regierungen, in der sich die Bürger mit ihren Interessen immer weniger berücksichtigt sehen. Diese Politik der von Ideologie und Moralismus getriebenen Eiferer vergrault die Wählerschaft.
Da es besonders in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine keine andere Partei gibt als die Alternative für Deutschland (AfD), die Verhandlungen und die Einstellung der Waffenlieferungen fordert, erhält diese immer mehr Zulauf. Denn viele Menschen sehen diesen Krieg nicht als ihren Krieg. Aber auch in anderen Fragen wie der Energiewende mit seinem Gebäudeenergiegesetz und der sich immer mehr durchsetzenden Wokeness und seinem Genderzwang ist die AfD näher an der Wirklichkeit der Menschen als die anderen Parteien – besonders die der Regierung.
Anstatt aber eine Politik zu betreiben, die den Interessen der Bevölkerung gerecht wird, verurteilen die meisten Parteien die Bürger für ihre Hinwendung zur AfD. Sie merken, dass sie die Menschen nicht mehr erreichen und immer weniger mit den Inhalten ihrer Politik wie auch mit ihren Erklärungen und Ansichten überzeugen können. Den Grund für ihr Scheitern sehen sie nicht im eigenen Verhalten, Politik über die Köpfe der Bürger hinweg zu machen, sondern darin dass man die eigene eigentlich gute Politik nicht richtig kommunizieren konnte.
Mit anderen Worten gesagt: Der Bürger ist zu blöde, Politik zu verstehen und deren Inhalte sachgerecht einschätzen zu können. Statt aber sich aber einzugestehen, dass sie den Kontakt zu den Wählern und den Boden unter den Füßen verloren haben, werfen die Parteien in ihrer Hilflosigkeit den Sympathisanten der AfD vor, Nazis, Rechtsextreme und Anti‐Demokraten zu unterstützen, beziehungsweise selbst solche zu sein.
In ihrer Verblendung und Rechthaberei fällt ihnen gar nicht auf, dass doch eigentlich sie sich selbst durch dieses Verhalten als die wahren Anti‐Demokraten zu erkennen geben. Denn offensichtlich ist den Meinungsmachern aus Medien und Politik der demokratische Wert der Meinungs‐ und Wahlfreiheit in dem Moment wurscht, wo die politische Willensbekundung mündiger Bürger den Meinungsmachern nicht in den Kram passt.
Das gilt auch für das Denken gerade jener Kräfte, die die westlichen und demokratischen Werte immer wie eine Monstranz vor sich hertragen, besonders die Grünen und solche, die sich sonst überall lautstark gegen jede Form vermeintlicher Diskriminierung empören. Deren in Wirklichkeit undemokratische Haltung feierte öffentlich Urständ bei einer Kundgebung gegen »demokratiefeindliche Parolen« am 1.7. dieses Jahres in München unter dem Motto »Aus‐ge‐Trumpt«.
Wem gehört die Demokratie?
Anlass dieser Veranstaltung war die Kundgebung vom 10. Juni dieses Jahres in Erding, wo etwa 13.000 Menschen gegen das Gebäudeenergiegesetz der deutschen Regierung demonstriert hatten. Nicht nur wegen der großen Teilnehmerzahl hatte die Demonstration für Aufsehen gesorgt, sondern auch wegen der angeblichen Verbandelung von Vertretern demokratischer Parteien mit sogenannten Anti‐Demokraten.
Grüne und Teile von SPD und Linken hatten nicht nur den Auftritt des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder in Erding als gemeinsame Sache mit Demokratiefeinden angeprangert. Ganz besonders hatten sie sich über dessen Stellvertreter Hubert Aiwanger von den Freien Wählern empört, der dazu aufgerufen hatte, »die schweigende große Mehrheit dieses Landes« müsse sich »die Demokratie wieder zurückholen« (1).
Nach dem politischen Denken von Grünen und SPD handelt es sich um »destruktiven Populismus« (2), wenn die Mehrheit des Volkes sein Schweigen bricht und die Demokratie für sich und seine Interessen in Anspruch nehmen will. Und die Grünen‐Vorsitzende Ricarda Lang setzte gar die Inanspruchnahme der Demokratie durch die schweigende Mehrheit damit gleich, »den Rechten nach dem Mund zu reden« (3).
Stellt sich die Frage nach dem Demokratieverständnis jener, die sich immer wieder gerne als die Vertreter und Verfechter der westlichen und demokratischen Werte hinstellen. Welche Rolle spielt nach deren politischem Verständnis noch das Volk in einer Demokratie? Offensichtlich haben sich solche Volksvertreter bereits so weit von diesem entfernt, dass ihnen schon nicht mehr bewusst ist, dass sie selbst nur dessen Vertreter sind, nicht dessen Vormunde. Und schon gar nicht sind sie das Volk selbst.
Jedenfalls haben das Volk und seine Interessen bei der Münchner Kundgebung, der selbsterklärten »Demonstration der Vernünftigen« (4), keine Rolle gespielt. Dabei traten mit Katharina Schulze die Spitzenkandidatin der Grünen und mit Florian von Brunn der Spitzenkandidat der SPD für die bayrische Landtagswahl als Redner auf. Das Volk, um deren Stimmen und gut bezahlten Mandate sie sich bewerben wollen, und seine Interessen schienen ihnen aber nicht so wichtig zu sein wie die Abgrenzung von allen, denen man als Demokratiefeinde die »Rote Karte« (5) zeigen wolle.
Dabei stand aber nicht der Schutz der Demokratie als das Gemeinwesen aller im Vordergrund, sondern der Schutz der eigenen Demokratie oder was man dafür hält. So rief die grüne Bewerberin für den Landtagssitz, Katharina Schulze, dann auch ihremPublikum zu: »Wir beschützen unsere Demokratie, wir bewahren unsere Demokratie, und wir achten unsere Demokratie.«(6)
Da wird die Demokratie gesehen als persönliches Eigentum einer besonderen Gruppe, als alleiniges Hoheitsgebiet einer besonderen Kaste, auf dem diese nach eigenem Gutdünken glaubt schalten, walten und bestimmen zu können. Dass diese Demokratie auch den anderen gehört, selbst den Wählern und Sympathisanten der AfD, scheint in diesem Weltbild und Demokratieverständnis nicht vorzukommen.
Nun handelte es sich bei den Rednern nicht um irgendwelche verwirrten Hinterwäldler sondern um das regionale Führungspersonal jener Parteien. Das deutet darauf hin, dass sich in diesen Parteien eine Kaste mit einem zutiefst elitären Denken durchgesetzt zu haben scheint. Man will zwar von diesem Volk gewählt werden, über das man sich zu erheben und dessen Interessen gering zu schätzen scheint. Aber eigentlich will man nichts mit ihm zu tun haben. Diese überhebliche Haltung entspricht jener der Außenministerin Baerbock, der – nach ihren eigenen Worten – bei der Unterstützung für die Ukraine das Denken der eigenen Wähler egal ist.
Für sie scheint es Wichtigeres zu gehen als den Wählerwillen und die Interessen des Volkes. Sie geben sich als solche, die dazu bestimmt und befähigt sind, den Lauf der Dinge bestimmen, weil sie – anders als das gemeine Volk – über Visionen und Ideale verfügen. Dieses Denken brachte die bayerische Verdi‐Chefin Luise Klemens auf der Veranstaltung treffend zum Ausdruck, dass »die Anwesenden die Demokratinnen und Demokraten seien, also die »Guten«. (7) In diesem Demokratieverständnis sind alle anderen außer den eigenen Gefolgsleuten anscheinend keine Demokraten mehr. Besteht die Mehrheit des Volkes damit automatisch aus Demokratiegegnern?
Verweise
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.7.23: Sie wollen die Guten sein
(2) FAZ vom 12.6.23: AfD‐Narrative bedient
(3) ebenda
(4) FAZ vom 3.7.23: Sie wollen die Guten sein
(5) ebenda
(6) ebenda
(7) ebenda
Bild: Ein Laternenmast irgendwo in einer deutschen Universitätsstadt