Zum Charakter der Volksrepublik China – Artikelserie zu China Teil XV

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Dies ist der fünfzehnte und letzte Teil einer umfassenden auf mehrere Teile angelegten Artikelserie von Jan Müller über China. Die Serie beinhaltet folgende Teile:

  1. Das alte China (plus Einleitung)
  2. Die Entstehung des Kapitalismus in China und die Erste Chinesische Revolution
  3. Die Zweite Chinesische Revolution (1925 – 27)
  4. Die KPCh wird Guerillabewegung (1928 – 1945)
  5. Der Chinesische Bürgerkrieg und die Dritte Chinesische Revolution (1945 – 49)
  6. Von der »neudemokratischen« zur sozialistischen Revolution
  7. Im Bündnis mit der Sowjetunion (1949 – 60)
  8. Großer Sprung nach vorne, Bruch mit der Sowjetunion und Kulturrevolution: Der Hochmaoismus (1958 – 69)
  9. Umkehr der Allianzen und Drei-​Welten-​Theorie: Der Spätmaoismus (1969 – 78)
  10. Erste Etappe der Wirtschaftsreformen und Putschversuch (1978 – 89)
  11. China im Zeitalter des Neoliberalismus (1989 – 2008)
  12. Kleiner Wohlstand und neue Seidenstraße (ab 2008)
  13. China und Corona
  14. China und der Ukrainekrieg
  15. Schlussfolgerungen über den Charakter Chinas

Die Artikelserie als Broschüre mit weiteren Anhängen, Literaturverzeichnis und weiterführender Literatur kann man unter folgendem Link herunterladen: China: Ein langer Weg – wohin?

Zum Charakter der Volksrepublik China

Nachdem nun die Geschichte Chinas im 20. und 21. Jahrhundert dargestellt wurde, können nun die in der Einleitung angeschnittenen Fragen beantwortet werden: Ist China sozialistisch? Ist China ein imperialistisches Land? Wer herrscht in China?

Ist China sozialistisch?

Der schumpeterianische Wirtschaftswissenschaftler Wolfram Elsner behauptet, das China bereits sozialistisch sei. Hierfür führt er unter anderem folgende Punkte an:

  • kein Privateigentum an Boden, Natur und Ressourcen,
  • ein großer, moderner, strategisch ausgerichteter staatlicher Produktionssektor,
  • ein ebenfalls großer, moderner, strategisch ausgerichteter staatlicher Finanz- und Kreditsektor, unabhängig und währungspolitisch geschützt vor dem internationalen Spekulationssektor,
  • die chinesischen Kapitalisten haben keinen organisierten Zugang zur politischen Macht,
  • die Arbeiterschaft wird politisch gefördert und in ihren betrieblichen Forderungs- und Mitbestimmungs-​Aktivitäten politisch unterstützt und organisiert,
  • Rückverteilungspolitik und entsprechende Steuerpolitik.1

Fred Schmid seinerseits kommt zu der Schlussfolgerung, dass sich das chinesische Modell in drei Merkmalen klar vom westlichen neoliberalen Kapitalismus unterscheidet:

  1. Größere Rolle des Staates, der seine wirtschaftspolitische Souveränität behalten hat
  2. Plan und Markt als Allokationsinstrumente
  3. Ein beträchtlicher Sektor des staatlichen Eigentums

Während der Wohlstand im Westen spätestens seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 zunächst schleichend und seit 2020 galoppierend zurückgeht, steigt er in China weiter. Reallohnerhöhungen von bis zu 10 Prozent im Jahr sind keine Seltenheit. Wenn diese Entwicklung so weiter geht, kann es passieren, dass der Lebensstandard in China bald höher sein wird als im Westen. Das ist eine beeindruckende Bilanz. Aber ist das schon ein Sozialismus?

Gehen wir auf die einzelnen Argumente ein.

Ernest Mandel weist in seiner marxistischen Wirtschaftstheorie darauf hin, dass eine Nationalisierung des Bodens sehr wohl mit dem Kapitalismus vereinbar ist. Vorkämpfer der Bourgeoisie wie David Ricardo und John Stuart Mill haben sich für die Abschaffung des Privateigentums am Boden eingesetzt. Dieses Privateigentum an Grund und Boden generiert die Grundrente, ein leistungsloses Einkommen, das einen Abzug vom Mehrwert darstellt und damit die Profitrate der Kapitalisten absenkt. Zugleich erhöht die Grundrente die Preise für Agrarprodukte und demnach auch die Löhne, was ebenfalls die industriellen Profite angreift.2 Die Abwesenheit von Privateigentum an Grund und Boden belegt also noch keinen sozialistischen Charakter der chinesischen Gesellschaft.

Im Zeitalter des Spätkapitalismus (1945 – 1989) hatten eigentlich alle westlichen Staaten einen großen staatlichen Industriesektor. In einigen Ländern wie in Frankreich war nach 1945 auch das Bankensystem verstaatlicht worden.

Bekanntlich haben die westlichen Staaten in der Nachkriegszeit eine viel aktivere Wirtschaftspolitik betrieben als heutzutage. In Frankreich gab es die »Planification«, eine staatliche Wirtschaftsprogrammierung, wo in enger Abstimmung mit den Großkonzernen die wirtschaftspolitischen Schwerpunkte, wichtige Investitionen und Ähnliches festgelegt wurden. Das hat sehr viel Ähnlichkeit mit den heutigen chinesischen »Fünfjahrplänen«.3

Die chinesischen Kapitalisten dürfen seit 2002 der KPCh beitreten und haben damit sehr wohl einen exklusiven Zugang zur politischen Macht.4 Gleichzeitig ist die Förderung der Selbstorganisation der Arbeiterklasse relativ gering. Auch die »Umverteilungspolitik« der chinesischen Führung besteht vor allem in Lohnerhöhungen für die Arbeiter, nicht aber in einer wesentlichen Abschöpfung des Reichtums der chinesischen Milliardäre und Millionäre.

In China wirken die kapitalistischen Bewegungsgesetze. Auch die Arbeitskraft ist zu einer Ware geworden.5 Die soziale Unsicherheit des Menschen ist deshalb immer noch groß. Die hier betriebene Wirtschaftsprogrammierung hat mit einer tatsächlichen Planwirtschaft nichts zu tun.

Das heißt, in China existiert eine ordinäre kapitalistische Gesellschaft. Allerdings wurde seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 die neoliberale Ideologie aufgegeben. Das sich jetzt herausgebildete Wirtschaftssystem erinnert stark an den Spätkapitalismus (1945 – 1989) und das ist wohl kein Zufall. Auch der Spätkapitalismus basierte auf Massenkonsum und Massenwohlstand. Sicherlich war diese Wohlstandssteigerung durch die Konkurrenz mit den sozialistischen Staaten bedingt, aber der steigende Massenwohlstand hatte zunächst auch hohe Profite für die Kapitalisten generiert. Denn je höher die Löhne, desto höher war auch die Nachfrage nach Konsumgütern. Das heißt, diese Nachfragesteigerung war im langfristigen Interesse der Kapitalistenklasse als ganzer, wenn auch nicht des Einzelkapitalisten.

Einerseits gibt es in China kein Privateigentum an Grund und Boden. Auch ist die Kontrolle des Staates über Banken etwas stärker ausgeprägt, als im westlichen Spätkapitalismus und der staatliche Industriesektor ist größer. Andererseits existiert in China nur ein kapitalgedecktes System der sozialen Sicherheit und die Wohnungsversorgung wird ausschließlich dem Markt überlassen. So etwas gab es im westlichen Spätkapitalismus nicht. Einer Hausbauförderung für die obere Mittelschicht stand ein bedeutender sozialer Wohnungsbau für die Arbeiterklasse gegenüber. Die sozialen Sicherungssysteme waren den Widrigkeiten des Kapitalmarktes entzogen. Das heißt, die »sozialistischen« Merkmale sind in China nicht unbedingt stärker ausgeprägt als im westlichen Spätkapitalismus bis 1989.

Die sich im Spätkapitalismus entwickelnde Regulationsweise des Fordismus funktionierte nur so lange, wie es noch einen riesigen unbefriedigten Bedarf an Konsumgütern gab. Als dieser Bedarf Mitte der 70er Jahre weitgehend gedeckt war, geriet das ganze System in eine Krise. Die Profite in der Industrie gingen zurück, die Arbeitslosigkeit stieg, das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich rapide und statt einer erweiterten Reproduktion konzentrierten sich die Kapitalisten auf Rationalisierungsinvestitionen.

Schließlich gab man im Westen den Fordismus auf und der Neoliberalismus triumphierte. Die Löhne wurden beträchtlich abgesenkt.

Im Augenblick gibt es in China eine relative Interessenübereinstimmung zwischen Kapitalistenklasse und Arbeitern. Was passiert aber, wenn auch in China in ein oder zwei Jahrzehnten der Grundbedarf an Konsumgütern ebenfalls befriedigt ist und das System in eine Krise gerät? Dann tritt der Gegensatz zwischen den Interessen der Kapitalisten und der Bevölkerungsmehrheit wieder schroff zutage. Es ist vollkommen offen, wie die KPCh in diesem Fall entscheiden wird. Allein die Tatsache, dass man die chinesische Bevölkerung zwischen 1989 und 2008 zu einer neoliberalen Rosskur zwang, gibt kaum Anlass zu Optimismus.

Der KPCh sei es gelungen, den »Tiger zu reiten«, also den Markt zur Steigerung des Wohlstandes der Menschen auszunutzen, behauptet Wolfram Elsner. Das ist richtig. Aber eine solche Konstellation lässt sich im Kapitalismus nicht dauerhaft konservieren. Früher oder später muss das ganze System in eine Krise geraten. Elsner kann keinen Weg angeben, wie der gegenwärtige chinesische Kapitalismus in einen tatsächlichen Sozialismus überführt werden kann.

Der Sozialismus zeichnet sich durch Gemeineigentum an Produktionsmitteln, die Planwirtschaft, einem Überfluss an Konsumgütern, das Absterben von Waren- und Geldwirtschaft, den internationalen Triumph der neuen Gesellschaft und das Absterben des Staates aus.6 Keines dieser Merkmale ist in China vorhanden. Also existiert dort keine sozialistische Gesellschaft.

Ist China imperialistisch?

Wolfram Elsner geht davon aus, dass China kein imperialistisches Land ist. Er begründet das wie folgt:

  • Die chinesischen Auslandsinvestitionen gehen ohne jede militärische Begleitung oder Bedrohung vonstatten.
  • Chinas Auslandsinvestitionen sind nicht durch eine Überproduktion von Kapital erzwungen worden, welches nun eine profitträchtige Anlage suchen muss. Sie sind den langfristigen Interessen des chinesischen Staates etwa nach guten Beziehungen zu einem afrikanischen Land oder nach Rohstoffsicherung untergeordnet.
  • Die chinesischen Investitionen fördern die nationale Unabhängigkeit und soziale Entwicklung der Länder der Dritten Welt. Ziel der Kriege des Westens ist es unter anderem, genau diese Entwicklung zu torpedieren.

Lenin dagegen definiert den Begriff Imperialismus wie folgt:

  1. Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem solchen Ausmaß, dass Monopole entstehen, die im Wirtschaftsleben eine entscheidende Rolle spielen.
  2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis des Finanzkapitals
  3. Der Kapitalexport, im Unterschied zum Warenexport, gewinnt besondere Bedeutung.
  4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich aufteilen.
  5. Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.7

In diesem Sinne ist der Imperialismus ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus.

Wie oben gezeigt, existieren in China zahlreiche nationale Großkonzerne, die global expandieren wollen. Beispiele hierfür sind Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba, Tencent und Dongfeng. Auch ein Finanzkapitel existiert in China, wobei allerdings die größten Banken staatlich sind.

China hat einen Devisenschatz von vier Billionen Dollar angehäuft, der gegenwärtig vor allem in US-​Staatsanleihen angelegt ist. Damit liegt das Geld weitgehend brach. Die neue Seidenstraße dient auch dem Zweck, dieses Kapital zu mobilisieren und die von Überkapazitäten geplagte chinesische Grundstoffindustrie auszulasten. Internationale Expansion ist auch für das kapitalistische China die einzige Möglichkeit ein hohes Wirtschaftswachstum und damit einen hohen Beschäftigungsgrad aufrecht zu erhalten.

Im Jahr 2017 betrugen die chinesischen Auslandsinvestitionen (FDI-​outflows) 158,3 Milliarden Dollar, demgegenüber diejenigen der USA 300 Milliarden und der EU 412,9 Milliarden. Sie sind also noch vergleichsweise gering.8

Die chinesischen Auslandsinvestitionen dienen vor allem der Versorgung der eigenen Industrie mit Rohstoffen. Das war allerdings auch im klassischen Imperialismus (1890 – 1945) die wichtigste Motivation für den Kapitalexport. Im Zeitalter des Neoliberalismus haben die Auslandsinvestitionen des Westens stark zugenommen. Sie dienten vor allem dem Zweck, von den niedrigen Löhnen in den ehemals sozialistischen Ländern und der Dritten Welt zu profitieren und so die eigenen Gewinne zu steigern. Diesem Beispiel ist China bisher nicht gefolgt.

Seit Lenins Imperialismus-​Schrift sind mehr als 100 Jahre vergangen. Damals teilten sich die Kolonialmächte die Welt unter sich auf und mussten die schmutzige Arbeit der Zerstörung der vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse in ihren Kolonien leisten. Das war nur mit extremer Gewalt möglich. Inzwischen existieren die Kolonialreiche nicht mehr. Die ehemaligen Kolonien haben allesamt ihre formelle Unabhängigkeit erlangt. Sie sind allerdings ökonomisch vom Westen abhängig geblieben. Wenn China als Newcomer in diesen Ländern Geschäfte machen will, muss es bessere Bedingungen als der Westen bieten. Diese bestehen vor allem im Aufbau von Infrastruktur sowie im Verzicht auf neoliberale Strukturanpassungsprogramme und einer politischen Einmischung. Insofern profitieren die Länder der Dritten Welt erheblich von dem chinesischen Engagement und es ist sogar eine Durchindustrialisierung denkbar. Aber auch dieses Merkmal schließt einen imperialistischen Charakter der Volksrepublik China nicht aus. Die USA hielten nach dem zweiten Weltkrieg zwar an den brutalen, archaischen Ausbeutungsmethoden in ihrem Hinterhof Lateinamerika fest, aber sie haben sehr wohl die Industrialisierung ihrer Einflussgebiete Japan, Südkorea und Taiwan gefördert. Dies geschah vor allem, um ein Gegengewicht zum »kommunistischen« China und der Sowjetunion zu schaffen. Aus der gleichen Motivation heraus förderten sie den Wiederaufbau Westeuropas nach 1945.

Allerdings sind gegenwärtig nicht mehr die Ausbeutung von Kolonien Hauptquelle der Surplusprofite, sondern die technologischen Renten, die anfallen, wenn es einem Unternehmen gelingt, begehrte Hochtechnologieprodukte als erste auf den Markt zu bringen.9 Hier liegt China noch sehr viel weiter hinter dem Westen zurück als auf anderen Gebieten. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass sehr viel mehr Zahlungen für die Nutzung von geistigen Eigentumsrechten von China in die USA gehen als umgekehrt. Aber China holt auch im Hightech-​Sektor auf. Diesem Zweck dient auch das Programm Made in China 2025 und die möglichen Folgeprogramme.

Im Augenblick ist die Welt dabei, sich in zwei kapitalistische Blöcke aufzuspalten. Auf der einen Seite stehen die USA, Europa, Japan, Australien und Neuseeland. Auf der anderen Seite China und Russland, denen sich zahlreiche asiatische, arabische und afrikanische Länder anschließen können. Zwischen diesen Blöcken findet kaum noch Handel statt und sie stehen ständig am Rande eines großen Krieges. Auch das ist ein von Lenin genanntes Merkmal des Imperialismus.

Die Volksrepublik China ist als Leitnation des eurasischen Blocks eine imperialistische Macht nach Lenins Kriterien. Aber sie vertritt als aufsteigende Macht zumindest im Augenblick ein weitaus menschlicheres Entwicklungsmodell als der Westen. Im Westen dominierte schon seit Jahrzehnten eine Plünderungsökonomie, wo sich die eigenen Oligarchen alle Reichtümer der Gesellschaft aneignen und durch das Wahnsinnsprojekt Great Reset auch nach der unmittelbaren politischen Macht gieren. Während der Westen in seinem Wirtschaftskrieg gegen Russland alles auf eine Karte setzt und dabei ist seine Wirtschaft vollständig zu zerstören, finden im Osten ein beträchtlicher Industrieaufschwung und eine Steigerung des Lebensstandards statt. Während im Westen Hysterie, hohldrehende Medien, Hassausbrüche und Wahnsinn grassieren – die Gesellschaft also in einen totalen zivilisatorischen Zerfall eingetreten ist – wird der Osten zum Hort einer wenigstens kapitalistischen Rationalität und Restvernunft.

Wer herrscht in China?

Seit 1949 herrscht eine aus der Arbeiter- und Bauernbewegung hervorgegangene Bürokratie. Das ist eine soziale Schicht, nicht aber eine Klasse, da sie sich nicht automatisch reproduzieren kann. Von 1949 bis 1954 musste sie ihre Herrschaft im Bereich der Wirtschaft mit der chinesischen Bourgeoisie teilen. Diese Bourgeoisie war nicht bereit, die Herrschaft der KPCh zu akzeptieren und stellte die Machtfrage. Deshalb wurde sie schließlich enteignet.

Seit den 90er Jahren haben wir eine ähnliche Konstellation. Die Bürokratie herrscht politisch, aber die Bourgeoisie entstand neu und meldet nun auch ihre Herrschaftsansprüche an. Seit dem Jahr 2002 bekamen Kapitalisten auch Zugang zur KPCh. Es ist für Außenstehende nicht ersichtlich, in wie starkem Maße diese Kapitalisten die Politik der Partei bereits beeinflussen.

Aber die KPCh muss natürlich allein schon im Interesse des Funktionierens der kapitalistischen Marktwirtschaft diese Interessen berücksichtigen, ein gutes Investitionsklima schaffen. Damit werden sich die Kapitalisten langfristig aber nicht zufrieden geben. Denn als Funktionäre ihres Kapitals müssen sie die absolute Macht anstreben, die ihre Klassenbrüder im Westen schon besitzen. Um dies zu erreichen, müsste aber die KPCh gestürzt und durch eine offen prokapitalistische Partei ersetzt werden. Das aber ist nicht so einfach. Die KPCh ist eine mehr als 100 Jahre alte Partei und im Klassenkampf sehr erfahren. Die chinesische Kapitalistenklasse dagegen ist noch sehr jung und politisch unerfahren. Sie hat sich erst in den 90er und 00er Jahren neu gebildet.

Ein Sturz der KPCh könnte das Land in ein Chaos stürzen und dank der sehr großen Soft Power des Westens Kräfte an die Macht bringen, die China entweder ganz zerstören oder das Land in eine Halbkolonie zurückverwandeln wollen. Daran wiederum kann auch die chinesische Kapitalistenklasse kein Interesse haben. Deshalb ist sie wohl in ihrer Mehrheit bereit, die Herrschaft der KPCh vorerst noch zähneknirschend zu akzeptieren.

Das gilt wohl aber nicht für alle Kapitalisten. Thomas Röper berichtet:

Und China hat gerade 2021 sehr hart gegen seine eigenen Milliardäre durchgegriffen, als die versucht haben, enge Kooperationen mit westlichen Oligarchen einzugehen und die Politik zu beeinflussen. Sie wurden zu Strafzahlungen in Milliardenhöhe verdonnert und seit einigen Monaten hört man von denen politisch nichts mehr.10

Diese Aussage bezieht sich unter anderem auf Jack Ma, den Gründer von Alibaba. Er ist einer der reichsten Männer Chinas. Ma forderte einen unregulierten Kapitalismus.

Perspektiven des Sozialismus in China

Offiziell herrscht schon der Sozialismus in China, so die KPCh und einige westliche China-​Bewunderer wie Wolfram Elsner. Andere Autoren wie Helmut Peters haben die Hoffnung, dass es China gelingt, den Kapitalismus auszunutzen, um schließlich auf einen tatsächlichen Sozialismus »umzuschalten«. Aber wie genau das funktionieren soll, kann niemand angeben. Alle seit 1978 getroffenen Entscheidungen führen auf jeden Fall vom Sozialismus weg und nicht auf ihn zu, auch mentalitätsmäßig. Das Sozialpunktesystem ist ein Versuch, prokapitalistische Verhaltensweisen zurückzudrängen, ohne den Kapitalismus selbst aufzugeben, also ein Herumdoktern an Symptomen.

Ein tatsächlicher Sozialismus setzt die Enteignung der chinesischen Kapitalistenklasse und die Wiedereinführung der Planwirtschaft voraus. Dies wird sich nicht ohne eine große Mobilisierung der Bevölkerung erreichen lassen. Ob die KPCh dazu willens und überhaupt noch in der Lage ist, darf bezweifelt werden.

Unter welchen Bedingungen wäre ein Übergang zum Sozialismus in China möglich und sogar wahrscheinlich? China tritt nicht als Gegenmacht zum globalen Kapitalismus auf wie einst die Sowjetunion, sondern hat sein Schicksal mit dem Weltkapitalismus verbunden. Letztlich hängt also das Schicksal des chinesischen Kapitalismus vom demjenigen des Weltkapitalismus ab. Wenn es dem Kapitalismus gelingt, erneut in eine lange Welle mit expandierendem Grundton einzutreten, sei es unter westlicher oder chinesischer Führung, dann ist das Schicksal des Sozialismus in China wohl besiegelt. Wenn aber der Kapitalismus weltweit aufgrund des Gesetzes des tendenziellen Falles der Profitrate an sein Ende angelangt ist, dann wird er wohl auch in China gestürzt.

In diesem Sinne lassen sich vier Szenarien identifizieren:

  • Der Westen gewinnt den Zweiten Kalten Krieg. Folge: Sturz der KPCh und Einsetzen einer neokolonialen prokapitalistischen Marionettenregierung.
  • China gewinnt den Zweiten Kalten Krieg. Folge: Sturz der KPCh wahrscheinlich. Chinesische Kapitalisten regieren aus eigenem Recht.
  • Der Kapitalismus bricht im Weltmaßstab zusammen und der Great Reset wird durchgesetzt. China geht zwangsläufig zur Planwirtschaft über und enteignet die Kapitalisten. China wäre dann einzige Hoffnung in einer sich verdüsternden Welt.
  • Der Kapitalismus bricht im Weltmaßstab zusammen. Im Westen setzen sich sozialistische Kräfte durch, die die Kapitalisten enteignen und eine Planwirtschaft einführen. China wird sich dieser Entwicklung nicht entziehen können und enteignet ebenfalls seine Kapitalisten.

Die Entwicklung in China noch nicht endgültig entschieden. Im Augenblick ist es wahrscheinlicher, dass sich der Kapitalismus endgültig durchsetzt, als dass China erneut zum Sozialismus übergeht. Aber es ist auch nicht völlig ausgeschlossen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Verweise

1 Elsner 2020, a.a.O., S. 324

2 Vgl. Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie, Band 1, Frankfurt am Main 1972, S. 327

3 Vgl. Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1974, S. 205ff.

4 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 469.

5 Vgl. Peters 2009 a.a.O., S. 557.

6 Vgl. Ernest Mandel: Einführung in den Marxismus, Frankfurt am Main 1998, S. 167ff.

7 Vgl. W.I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin 1988, S. 101f.

8 UNCTAD, World Investment Reports

9 Vgl. Mandel 1974, a.a.O., S. 205 und 234ff.

10 Röper 2022, a.a.O., Kapitel »Welche Rolle spielen Russland und China?«

Bild: Shanghai (Pixabay)

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